A. Auffindetag | Dienstag, der 04. April 1922
Am Vormittag des 04. April 1922, einem Dienstag, ist der 22jährige Monteur Albert Hofner mit seinem Fahrrad auf dem Weg in das knapp 80 Einwohner zählende Dorf Gröbern (Oberbayern)1. Auf dem damals etwa 400 m westlich des Dorfes gelegenen Einödhof "Hinterkaifeck" soll Hofner einen Stationärmotor reparieren. Kurz vor 09:00 Uhr trifft Hofner in Hinterkaifeck ein. Da niemand zu Hause zu sein scheint – die hintere Haustür ist verschlossen, durch das Küchenfenster und Stallfenster ist niemand zu sehen –, wartet der Monteur eine Weile. Nach einer Stunde bricht er kurzerhand das Vorhängeschloss an der Motorenhütte mit seinem Werkzeug auf. In dem nur wenige Quadratmeter großen Anbau an der Rückseite des Anwesens befindet sich der Standmotor, den der Monteur richten soll. Während der mehrstündigen Reparaturarbeiten hört der Monteur nichts weiter als das Bellen eines Hundes sowie das Brüllen der Kühe. Um sich nicht ganz einsam zu fühlen, singt und pfeift er zwischendurch. Als Hofner eine entglittene Schraubenmutter aufhebt, hat er den Eindruck, als würde jemand an der Motorenhütte vorbeihuschen. Hofner tritt aus der Hütte heraus, kann aber niemanden entdecken. Nach Beendigung der Reparaturen wirft der Monteur gegen 14:30 Uhr den Motor zu einem kurzen Probelauf an. Als trotz des Motorenlärms keiner der Bewohner erscheint, verschließt Hofner die Motorenhütte wieder und geht ein letztes Mal um das Anwesen herum. Vor der Haustür im Hofraum ist der Hund angehängt, der unentwegt bellt. Das Tor zum Maschinenhaus ist geöffnet. Hofner sieht aus kurzer Entfernung hinein; er betritt das Maschinenhaus jedoch nicht. Da die vordere Haustür abgeschlossen ist und auch durch die Fenster rechts und links daneben niemand zu sehen ist, tritt der Monteur den Rückweg an.
In Gröbern bittet Hofner zwei junge Frauen, die im Garten des ersten Anwesens arbeiten, den Bewohnern von Hinterkaifeck auszurichten, dass der Motor repariert sei. Er habe niemanden antreffen können. Die Frauen, Töchter des Ortsführers Lorenz Schlittenbauer2, berichten bei der Brotzeit zuhause, was ihnen der Monteur gesagt hat. Lorenz Schlittenbauer schickt daraufhin gegen 15:30 Uhr seine beiden Söhne nach Hinterkaifeck. Die 16 und 9 Jahre alten Jungen kehren wenig später zurück und geben an, um den Hof herumgegangen zu sein, aber niemanden angetroffen zu haben. Schlittenbauer alarmiert daraufhin die benachbarten Landwirte Pöll und Sigl und begibt sich mit diesen sowie seinen beiden Söhnen nach Hinterkaifeck.
Schlittenbauer, Pöll und Sigl gelangen durch die unverschlossene Tür zum Maschinenhaus in die Scheunendurchfahrt und verschaffen sich von dort aus gewaltsamen Zutritt in den Stadel. In der Ecke der Scheune unterhalb der Tür zum Futtergang entdecken sie, unter einem Türblatt und abgedeckt mit Stroh, die teilweise übereinander liegenden Leichen von Andreas Gruber, 67 Jahre, seiner Ehefrau Cäzilia Gruber, 72 Jahre, deren Tochter Viktoria Gabriel, 35 Jahre, sowie der 7jährigen Cäzilia Gabriel. Alle Opfer weisen schwere Kopfverletzungen auf; die Gesichter sind blutverschmiert. Der Anblick ist so schockierend, dass zwei der Auffindezeugen die Scheune Richtung Hofraum verlassen. Der dritte Auffindezeuge dringt über den Futtergang in den Wohntrakt des Anwesens vor und sperrt die Haustür von innen auf, woraufhin die im Hofraum wartenden Begleiter eintreten. Im Wohntrakt finden sie die Leichen von Maria Baumgartner, einer 44jährigen Dienstmagd, sowie Josef Gruber, dem zweijährigen Sohn der Hofeigentümerin Viktoria Gabriel.
Die ersten Polizeibeamten treffen gegen 18:00 Uhr am Tatort ein. In ihrer Begleitung befindet sich der Wangener Bürgermeister Georg Greger, der von einem der Söhne des Ortsvorstehers Lorenz Schlittenbauer informiert worden ist3. Als erste Ermittlungsbehörde erreicht eine dreiköpfige Gerichtskommission des Amtsgerichts Schrobenhausen gegen 22:00 Uhr das Anwesen.
Bis zur Ankunft der ersten Beamten wird die Position von zwei Leichen im Stadel verändert: Während der Körper von Andreas Gruber von dem Leichenstapel heruntergezogen und auf den Rücken gedreht wird, wird die an der westlichen Scheunenwand verdeckt liegende Leiche von Cäzilia Gabriel ein Stück aus dem Heu herausgezogen (in Richtung der Futterschneidmaschine, deren Handgriff in den folgenden beiden Abbildungen am linken Bildrand erkennbar ist). Da die Lage der Leichen, wie sie die Beamten der Münchner Kriminalpolizei am frühen Morgen des 05. April 1922 vorfinden (Abbildung 1), weder mit der ursprünglichen Auffindesituation vom Nachmittag des Vortages noch mit der Beschreibung der Gerichtskommission vom späten Abend des 04. April 1922 übereinstimmt4, unternimmt die Kripo am 05. April 1922 einen Versuch, die Auffindesituation und Position der Leichen im Stadel zu rekonstruieren (Abbildung 2).
Abbildung 1: Auffindesituation Stadel | Nach Aufdeckung
Abbildung 2: Auffindesituation Stadel | Rekonstruktion
Den Tatortfotos des Erkennungsdienstes der Münchner Kriminalpolizei5 sowie den protokollierten Beobachtungen der Ermittler können die in Faktentabelle 1 zusammengefassten Ergebnisse entnommen werden.
01 | Die Leichen von (1) Andreas Gruber, (2) Cäzilia Gruber, (3) Viktoria Gabriel und (4) Cäzilia Gabriel werden in der Tenne6 im Stadel (Scheune) aufgefunden. Die Toten liegen teilweise übereinander in der nordwestlichen Scheunenecke unmittelbar vor der Tür zum Futtergang (Stall). |
02 | Andreas Gruber befindet sich in Rückenlage mit dem Kopf unmittelbar an der westlichen Stallwand. Der Schädel des Toten weist starke Verletzungen auf. Das Gesicht ist mit Blut verschmiert. |
03 | Die Beine von Andreas Gruber sind gestreckt. Die Arme sind leicht angewinkelt. Die rechte Hand ist geschlossen; der Zeigefinger ist leicht gespreizt; die linke Hand ist geöffnet. Beide Hände liegen auf dem Bauch des Toten auf. |
04 | Am kleinen Finger, auf dem Handrücken der rechten Hand und an beiden Füßen sind dunkle Einfärbungen (Livores) erkennbar7; die Füße des Toten wirken gedunsen. |
05 | Der Tote ist mit einer langen, hellen Unterhose und einem hellen, bis über die Oberschenkel reichenden, langärmeligen Hemd bekleidet. Der rechte Hemdsärmel ist zugeknöpft. |
06 | Im rechten Beinbereich, etwa ab dem Knie, ist die Unterhose stark verschmutzt bzw. dunkel verfärbt. |
07 | Unmittelbar neben der Leiche von Andreas Gruber, zwischen Korpus und westlicher Stadelwand, sind Textilien oder Stoffreste zu erkennen. Ferner ein bedruckter Karton oder eine Zeitungsseite. |
08 | In beiden Tatortfotos ragt ein hölzerner Stiel oder Handgriff von links Richtung Bildmitte. Unterhalb des Stiels, in Höhe des Knies von Andreas Gruber, erkennt man den gebogenen Griff eines Ernte- oder Kartoffelkorbes aus Metall, und darunter den Metallkorb selbst (der zweite Korbgriff befindet sich unmittelbar neben dem rechten Knie des Toten). |
09 | Die Leiche von Cäzilie Gruber wird vor der Rekonstruktion der Auffindesituation in Rückenlage rechts neben der Leiche von Andreas Gruber gefunden (Abbildung 1). Der Körper ist gestreckt und weist in Richtung der nördlichen Scheunenwand; der Kopf liegt unmittelbar am Treppenaufgang zur Stalltür. |
10 | Am Schädel von Cäzilie Gruber sind starke Verletzungen erkennbar. Das Gesicht ist blutverschmiert. |
11 | Der rechte Arm der Toten ist angewinkelt, der Unterarm liegt auf der Brust. Die rechte Hand ist halb geöffnet. Der linke Arm ist in einem Winkel von ca. 30° vom Körper weggestreckt. Das linke Bein ist über das rechte Bein geschlagen. |
12 | Die Tote ist mit einer halbärmeligen, länglich gestreiften Kittelschürze bekleidet. Der Rockteil ist hochgerutscht, so dass beide Knie freiliegen. Man erkennt dunkle lange Kniestrümpfe, die unterhalb der Knie von Strumpfbändern gehalten werden. Am rechten Fuß trägt die Tote einen Holzpantoffel. |
13 | Der Rockteil ist auf der linken Vorderseite großflächig dunkel verfleckt; am Rocksaum ist ebenfalls eine dunkle Einfärbung (Blut) erkennbar. |
14 | Die Leiche von Viktoria Gabriel stößt auf dem Rücken liegend in einem Winkel von 90° an die Leiche von Cäzilia Gruber an, wobei der Kopf von Viktoria Gabriel unter dem Rocksaum von Cäzilia Gruber verborgen ist. Die Tote liegt gemäß Abbildung 1 zur Hälfte in etwa knietief aufgeschüttetem Heu (nur der Brustbereich, der rechte Arm sowie ein Teil des rechten Beins sind gemäß Abbildung 1 zu... |