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Hirnströme

Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie

AutorCornelius Borck
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783835320741
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Die Visualisierung von Gehirnprozessen hat in der Geschichte der Hirnforschung regelmäßig große Erwartungen geweckt. Cornelius Borck stellt mit der Registrierung elektrischer Hirnströme eine Aufzeichnungstechnik ins Zentrum seiner Untersuchung, mit der sich seinerzeit die Hoffnung verknüpfte, das Gehirn in seiner eigenen Sprache schreiben zu lassen und so seine Funktionsweise lesbar zu machen. Er verfolgt die vielfach widersprüchlichen Deutungen zur Elektroenzephalographie von den Versuchen des deutschen Psychiaters Hans Berger und seiner Veröffentlichung eines menschlichen EEG im Jahr 1929 bis zu ihrer internationalen Ausbreitung und Konsolidierung als klinische Diagnosemethode in der Mitte des 20sten Jahrhunderts. Borcks These lautet, daß die Schrift des Gehirns in lokalen Forschungskulturen je spezifische Konturen annahm, aus deren Widerstreit ein neues wissenschaftliches Objekt, das elektrische Gehirn hervortrat. Wenn sich in Borcks Analyse Differenzen und Divergenzen in der Hirnforschung als Effekte lokaler Interaktionen verschiedener Akteure erschließen, liefert er damit zugleich einen Beleg für die kulturelle Formbarkeit des Gehirns. Das elektrische Gehirn ist in einem historisch präzisierbaren Sinne erst das Produkt seiner elektrotechnischen Erforschung. Das Wissen vom Gehirn und Theorien über dessen Funktionieren sind von den Maschinen geprägt, denen sich dieses Wissen verdankt. Es stellt sich deshalb vielmehr die Frage, was sich eigentlich darin manifestiert, daß sich die erhobenen EEG-Befunde immer wieder den vorgelegten Theorien und Deutungen entzogen.

Cornelius Borck ist Associate Professor for Philosophy and Language of Medicine an der McGill University in Montreal. Nach einem Medizin- und Philosophiestudium arbeitete er in der experimentellen Neurowissenschaft in London, am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Von 2002 bis 2004 war er Leiter einer Forschungsgruppe in der Fakultät Medien der Bauhaus Universität Weimar. Er ist Herausgeber von 'Anatomien medizinischen Wissens' (1996), 'Psychographien' (2005), 'Georges Canguilhem - Maß und Eigensinn' (2005).

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Leseprobe
VORWÄRTS UND VIEL VERMESSEN! (S. 213-218)

Zur kulturellen Praxis einer neuen Technik Anfang der 1950er Jahre nutzte ein junger Absolvent der Pariser École normale supérieur – mit seinen Interessen zwischen Philosophie und Psychologie schwankend, aber offenbar von einer Tutorenstelle an der École und einer Assistentenstelle am Philosophischen Institut der Universität Lille intellektuell unausgelastet – seine persönlichen Kontakte, um Alltag und Forschungsarbeit der Psychiatrie kennenzulernen. Im neuropsychiatrischen Hôpital Sainte-Anne in Paris, wo er während seines Studiums selbst einmal wegen depressiver Zustände als Patient gewesen war, hospitierte er eine Zeitlang bei Jacqueline und Georges Verdeaux in der EEGAbteilung.

Er wurde als Kontrollproband buchstäblich teilnehmender Beobachter ihrer Studien und begleitete sie auch bei ihren EEG-Untersuchungen in der zentralen französischen Untersuchungsstelle zur medizinisch- psychologischen Begutachtung von Strafgefangenen in Fresnes. In der Verschränkung der beiden EEG-Einsatzorte manifestierte sich ein Nexus von therapeutischer und disziplinierender Praxis, der den Intellektuellen immer wieder neu als Verschränkung von Wissen und Macht beschäftigen sollte.

Auch wenn Michel Foucault sich selbst nicht dezidiert zu seinen Erfahrungen in der EEG-Forschung geäußert hat, stehen sie in einer mehr als nur zufälligen Koinzidenz mit seinem ersten Buch Psychologie und Geisteskrankheit. Dort formulierte er 1954 eine irritierende epistemologische Perspektive auf die Entwicklung der Psychologie: Man darf nicht vergessen, daß die »objektive« oder »positive« oder »wissenschaftliche« Psychologie ihren historischen Ursprung und ihren Grund in einer pathologischen Erfahrung gefunden hat. […]

Der Mensch ist eine psychologisierbare Gattung erst geworden, seit sein Verhältnis zum Wahnsinn eine Psychologie ermöglicht hat, d.h. seit sein Verhältnis zum Wahnsinn äußerlich durch Ausschluß und Bestrafung und innerlich durch Einordnung in die Moral und durch Schuld definiert worden ist. Was hier noch mit dem Ziel geschrieben war, den Wahnsinn wieder in sein Eigenrecht einzusetzen, um ihn so von Entstellungen durch moralische oder wissenschaftliche Pathologisierungen zu befreien, radikalisierte Foucault bekanntlich schon bald zu einer grundsätzlichen Kritik der Rationalität.

Foucault analysierte die Ausschlußmechanismen an den sozialen Rändern der Gesellschaft als Konstituierungsbedingungen der modernen Humanwissenschaften und der damit verbundenen Rationalitäts typen. Diese These zum Operationsmodus wissenschaftlicher Diskurse läßt sich ohne weiteres von Foucaults Beobachtungen im neuropsychiatrischen EEG-Labor auf die Phase der Etablierung und Standardisierung der Elektroenzephalographie zurückbeziehen.

Denn die Regulierung des Wissens in der sich als Disziplin formierenden Elektroenzephalographie ging unweigerlich mit einer Perfektionierung von Ausschluß- und Überwachungstechniken durch die neuen hirnelektrischen Diagnosetechniken einher. Die Registrierung und Auswertung von Hirnströmen produzierte neue klassifizierende Praktiken in bezug auf die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen wie Kinder, Frauen, Wahnsinnige, Epileptiker, Genies oder Schwachsinnige. Der disziplinierende Effekt quantifizierender Verfahren in den Lebenswissenschaften ist mittlerweile zum Topos einer Biopolitik geronnen.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
ELEKTRISIERENDE HIRNBILDER8
HANS BERGERS LANGER WEG ZUM EEG24
Strom im Kopf24
Forschungsstrategien eines konservativen Psychiaters29
Das Maß der Psychischen Energie37
Die Spur zum Strom44
Verstärkte Schwankungen56
Artefakte und Störungen65
Einladung nach Stockholm74
ELEKTROTECHNIKEN DES SEELENLEBENS86
Kulturströme86
Der Bioingenieur und die Psychodiagnostik92
Nerven-Apparate und psychische Schaltkreise103
Gedankenstrahlen und Radio-Telepathie113
Konfigurationen der Elektrotherapie im Radiozeitalter119
Die neusachliche Poesie der Hirnschrift128
Die Experimentalisierung des Alltagslebens136
TERRA NOVA: KONTEXTE ELEKTROENZEPHALOGRAPHISCHER EXPLORATIONEN142
Epistemische Resonanzen und materiale Kulturen142
Bergers weitere Fahrt durch die Hirnwellen144
Lokaltermin in Berlin-Buch164
Anerkennung mit britischem Understatement177
Der Sprung über den Teich191
Die Matrix der Ströme211
VORWÄRTS UND VIEL VERMESSEN!214
Zur kulturellen Praxis einer neuen Technik214
Dynamiken der Standardisierung216
Ein diagnostisches Panoptikum231
Im Bann des Schocks244
Das elektrische Gehirn in Auschwitz258
BAUEN BASTELN DENKEN264
Was verbirgt das EEG?264
Die schnellen Schwingungen des Denkens267
Das Konzert der Hirnströme276
Höhenflüge eines deutschen Physiologen283
Das Gehirn als kybernetische Maschine291
Hirntheorien aus dem Modellbaukasten302
PLÄDOYER FÜR EINE OFFENE EPISTEMOLOGIE314
Literatur328
Abbildungsnachweise374
DANK376
PERSONENREGISTER378

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