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Hitler - wie lange noch?

Eine Spurensuche auf dem Weg vom Heiligen Römischen Reich der Deutschen zum Deutschland von heute

AutorKlaus Dreessen
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl568 Seiten
ISBN9783746041001
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
"Kein Volk kann ohne geschichtliche Identität leben", sagen führende deutsche Historiker. Deutschland verfügt gegenwärtig über keine Identität. Warum nicht? Wer verhindert das? Darf das deutsche Volk überhaupt eine geschichtliche Identität für sich beanspruchen, oder erschöpft sich diese seit dem Zweiten Weltkrieg in der kollektiven Schuld an den Verbrechen der Nazis? Klaus Dreessen erzählt in diesem zweiten Teil seiner Spurensuche die Geschichte Europas vom Westfälischen Frieden 1648 bis in die heutige Zeit. Er stellt unbequeme Fragen: Musste das Verlassen des heiligen römischen Sonderwegs zwangsläufig in den Nationalsozialismus führen? Welche Rolle spielten Preußen, Frankreich, England, Russland, Charles Darwin, Karl Marx und das imperiale, industrielle Fortschrittsfieber beim Marsch in den ersten Weltkrieg? Wollte Hitler wirklich Deutschland retten oder nur sich selbst? Ist Deutschland kollektiv schuldig für die Morde Hitlers? Waren Lenin und Stalin Sozialisten oder rot lackierte Faschisten? Eine überaus spannende Suche nach neuen Antworten, die Überraschendes zutage fördert.

Klaus Dreessen studierte Volkswirtschaft in Münster und Hamburg und promovierte mit einem Thema über die DDR (erschienen 1973 bei J.C.B. Mohr, Tübingen). Er ist Autor mehrerer Sachbücher und befasst sich seit vielen Jahren mit der Frage nach den Ursachen des deutschen Sonderwegs in der Geschichte. Wie schon in seinem ersten Buch mit dem Titel Spurensuche - auf der Fährte zum deutschen Sonderweg geht der Autor auch hier der Frage nach der geschichtlichen Identität Deutschlands nach. Klaus Dreessen gehört keiner politischen Partei oder Gruppierung an. Er schreibt für ein breites Publikum, das sich dafür interessiert, weshalb Deutschland heute da steht, wo es steht, weshalb es siebzig Jahre nach Kriegsende immer noch als ein von Neurosen geplagtes Volk ist. Auch dieses Buch ist keine trockene Kost für Historiker, sondern eine überaus spannende, unterhaltsam geschriebene und lehrreiche Erzählung der Geschichte und zugleich eine Aufzeichnung von guten Gründen, die es nahelegen, im Vertrauen auf eine grundsolide, tausendjährige deutsche Geschichte neurotische Anwandlungen ad acta zu legen und den notwendigen Schritt in die erlösende Normalität zu tun.

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Leseprobe

Sultan Mehmed der Prächtige und
Louis der Allerherrlichste


Nach der völligen Zerstörung Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg hätte sich für Frankreich die Möglichkeit geboten, endlich die seit langem angestrebte Rolle der Führungsmacht in Europa zu übernehmen. Aber Frankreich nutzte diese Chance nicht. Das Land hatte auch keinerlei Erfahrung im Umgang mit einem Gebilde wie dem Heiligen Römischen Reich. Ihm fehlte das Sensorium für das komplizierte Zurückstecken eigener Interessen gegenüber dem europäischen großen Ganzen. Und es hatte schon bald einen König, der ganz besonders wenig in der Lage war, sich in diese Regelmechanismen einer Reichsidee hinein zu denken oder wenigstens zu fühlen. Er hatte davon offensichtlich nicht einmal eine Ahnung. Anstatt das ganze Deutschland, das zerschlagen an seiner Seite am Boden lag, für sich einzunehmen – nicht zu vereinnahmen – und ihm und auch den anderen europäischen Staaten das Gefühl zu vermitteln, mit ihren Lebensinteressen gut bei Frankreich aufgehoben zu sein, insbesondere den Deutschen den Phantomschmerz einer nochmals geschwächten Reichsführung zu nehmen und ihnen möglicherweise sogar das Gefühl zu vermitteln, von Paris aus besser koordiniert zu werden als zuvor von Wien, anstatt also den ganzen, großen deutschen Kuchen in loser Form an sich zu binden, wollte Ludwig XIV die kleine Rheinpfalz – und nicht nur diese – fest und dauerhaft seinem Reich einverleiben. Und so galoppierte er, der Sonnenkönig, der von sich selber sagte „Die Leidenschaft für den Ruhm hat in Meiner Seele gewiss den Vorrang vor allen anderen“, sein Leben lang in die Vorgärten anderer europäischer Staaten und Völker mit der Behauptung, sie gehörten alle ihm, und er mehrte diesen seinen Ruhm auf Kosten seiner Nachbarn und letztlich auf Kosten des Ansehens seines Landes, das er zudem wirtschaftlich ruinierte.

Seine Politik hatte einen Namen: „Reunionspolitik“ nannte er den Versuch, Frankreich als ein großes Gallien auferstehen zu lassen. Frankreich in den Grenzen Galliens vor der Eroberung durch Caesar. Alle Erniedrigungen und Niederlagen der zurückliegenden 1.700 Jahre sollten getilgt werden, ausgelöscht, vergessen. Frankreich sollte endlich die Position in Europa einnehmen, die allein seiner würdig war, deren Grundlagen Caesar aber schon sehr früh zerstört hatte und die die Deutschen mit ihrer „heiligen Reichsidee“ tausend Jahre lang für sich in Anspruch und wahrgenommen hatten: die Position der herrschenden Vormacht in Europa, wie sie zuvor nur die Römer innegehabt hatten.

Sie nannten es Reunionspolitik, als hätte zwischen dem Rhein und der französischen Grenze im Elsass und in Lothringen und in der Pfalz, in Mainz und Trier und Köln seit hunderten von Jahren eine französische Exklave existiert, in der die Menschen die ganze Zeit sehnlichst darauf gewartet hätten, mit dem französischen Mutterland wiedervereint zu werden. Sie nannten „Wiedervereinigung“, was nichts anderes war als die brutale Eroberung von Landstrichen, in denen 1.700 Jahre lang nicht gallische Stämme, sondern deutsche relativ friedlich gelebt, gearbeitet, gesungen, gedichtet und Kinder gezeugt hatten und irgendwann gestorben und beerdigt worden waren. Um dem Landraub den Anschein eines legalen Anspruchs zu geben, hatte der Sonnenkönig Reunionskammern eingerichtet, die die angebliche historische Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zu Frankreich nachzuweisen hatten. Dieses Verfahren ähnelt in seiner Dürftigkeit und Dreistigkeit durchaus dem Versuch der Habsburger, Caesar zu ihrem Urgroßvater und ihr Herzogtum zu einem Erzherzogtum zu machen. Dieses Verfahren des Sonnenkönigs war schon damals – und sogar in Frankreich – umstritten und hat vor der Geschichte ebenso wenig Bestand gehabt wie die Mogeleien der Habsburger.

Mit der Einverleibung fremder Territorien begann Ludwig in Spanien. Dort wollte er aus seiner Ehe mit Maria Theresia, der Tochter des spanischen Königs Philipp IV., Kapital schlagen. Als Bedingung für einen Frieden nach einem vierundzwanzigjährigen Krieg Frankreichs gegen Spanien hatte der spanische König 1659 seine Tochter Maria Theresia mit dem Sonnenkönig verheiraten müssen. Böses ahnend hatte Philipp zur Bedingung gemacht, dass seine Tochter damit auf alle Erbansprüche nach seinem Tod verzichtete. Der Vater war 1665 kaum tot, als der Sonnenkönig eben diese Ansprüche erhob. Sie betrafen Teile der Spanischen Niederlande, also jene Teile im Süden der Niederlande, die katholisch geblieben waren, als die nördlichen zum Protestantismus übergetreten waren und sich 1579, als Protestantische Republik der Vereinigten Provinzen unter Wilhelm von Oranien, für von Spanien unabhängig erklärt hatten. Übrig geblieben waren damals jene niederländischen Provinzen, die heute im Wesentlichen Belgien und Luxemburg umfassen. Die wollte sich der Sonnenkönig einverleiben. Im Einzelnen waren das die Herzogtümer Brabant und Limburg Cambrai, die Markgrafschaft Antwerpen, die Herrschaft Mechelen, Gelderland, die Grafschaft Namur, Artois und Hennegau, ein Drittel der Freigrafschaft Burgund und ein Viertel des Herzogtums Luxemburg. Als Begründung für seine Forderung gab der Herrlichste aller Herrscher an, die Mitgift für Maria sei geringer gewesen als vereinbart und damit ihr Erbverzicht unwirksam.

Ludwig XIV. im Krönungsornat (Porträt von Hyacinthe Rigaud, 1701)1

1667 erklärte er Spanien den Krieg. Den Habsburger Kaiser hatte er in Geheimverhandlungen ruhiggestellt mit dem Versprechen, nach einem Sieg Spanien zwischen Frankreich und dem Habsburger Reich aufzuteilen. Das Reich sollte ganz Spanien, das Herzogtum Mailand und alle spanischen Kolonien erhalten, während Frankreich sich mit den Spanischen Niederlanden, der Franche-Comté, Navarra und dem Königreich Neapel-Sizilien begnügen wollte. Diese französische Bescheidenheit kennzeichnet auf der einen Seite die Intensität des französischen Wunsches, das Reich hier herauszuhalten, und auf der anderen die Einfalt des Habsburgers, das Angebot so eines Charakters ernst zu nehmen. Zwei Jahre dauerte der Krieg, in dessen Verlauf nahezu alle anderen Staaten von Rang in Geheimverhandlungen eines jeden gegen jeden eingebunden waren, bis 1668 in Aachen Frieden geschlossen wurde, in dem Spanien einige Gebiete an Frankreich abtreten musste. Von einer Aufteilung Spaniens und seiner Kolonien war nicht mehr die Rede. Der Krieg ging ursprünglich wahrheitsgemäß als erster Raubkrieg Ludwig des XIV. in die Geschichtsbücher ein. Heute heißt er politisch korrekt „Spanischer Erbfolgekrieg“.

Vier Jahre später marschierte Ludwig der Herrliche gegen die Vereinigten Niederlande, weil die im vorherigen Krieg zuerst gemeinsame Sache mit ihm gemacht hatten, da sie gerade in einen Krieg gegen England verstrickt gewesen waren und Ludwig ihnen die Aufteilung des katholischen Rests der Spanischen Niederlande angeboten hatte – wieder einmal. Dann aber hatten die Niederlande doch lieber einen schnellen Frieden mit England geschlossen und waren mit diesen und den Schweden gegen eine französische Vormacht in Europa angerannt. Das musste nun bestraft werden. Es entstand ein siebenjähriger Krieg von 1672 bis 1679 gegen die Niederlande, in dem sich letztlich auch England auf die Seite der Franzosen stellte, ebenso der Fürstbischof von Münster und der Erzbischof von Köln, die sich die Chance nicht entgehen lassen wollten, einem protestantischen Abtrünnigen eins auszuwischen. Gegen diese Übermacht konnten die Niederländer nicht bestehen. Alleingelassen von aller Welt wussten sie sich keinen anderen Rat, als ihr Land zu fluten. Um eine vollständige Niederlage zu verhindern, öffnete der militärische Führer Wilhelm von Oranien Schleusen und Dämme und setzte das Land unter Wasser, um den Vormarsch der Franzosen zu stoppen. Die Bewohner wurden hinter die Wasserlinie evakuiert. Die Franzosen wandten sich anderen Zielen zu. Zur Unterstützung der Niederländer griffen schließlich Spanien und das Reich ein. Und weil auch Brandenburg den Holländern zu Hilfe eilte, wollte Schweden die Chance nicht ungenutzt lassen und marschierte in Abwesenheit der brandenburgischen Truppen in die nordöstliche Streusanddose des Reiches ein – aus der allerdings der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm I. sie mit Unterstützung der Dänen wieder verjagte. Der Krieg des Sonnenkönigs, den er für sich entscheiden konnte und der ihm einige Zugewinne an Land brachte, fand als zweiter Raubkrieg Ludwig des XIV. Eingang in die Geschichtsbücher.

Weil aber der Appetit beim Essen kommt und nichts so erfolgreich macht wie der Erfolg, nutzte Ludwig XIV. die Ergebnisse der Reunionskommissionen zu weiterer Landnahme. Er besetzte – ohne auf militärischen Widerstand zu treffen – in den folgenden Jahren der Reihe nach große Teile des Elsass, Luxemburgs, der Pfalz und des heutigen Saarlandes und gliederte sie in den französischen Staat ein. Auch Gebiete, für die selbst die Reunionskammern eine historische Zugehörigkeit zu Frankreich nicht konstruieren konnten,...

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