Einleitung
„Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen auch sieben Jahre Psychotherapie aus dir keine Giraffe!“
(Eckhard von Hirschhausen)
In der Beratung und Begleitung von autistischen Menschen durch die Arbeitswelt wird immer wieder deutlich, wie wichtig das Verstehen des Phänomens Autismus auf Arbeitgeberseite ist. Letztendlich ist es nämlich die Unkenntnis, sind es die fehlenden Informationen, die die (berufliche) Integration von Menschen mit Autismus so erschweren. Ich habe dies selbst erfahren, ja, dieser Umstand war gewissermaßen der Grundstein für meinen beruflichen Werdegang.
Die erste Begegnung mit einem autistischen Menschen hatte ich mit 16 Jahren. Im Rahmen eines Schulpraktikums arbeitete ich in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und lernte einen jungen Mann kennen, der die Diagnose „Frühkindlicher Autismus / Kanner-Syndrom“ bekommen hatte. Meine Anleiter erklärten mir, er sei taub und stumm und er lebe in seiner eigenen Welt. Bereits in dem kurzen Zeitraum der drei Praktikumswochen interpretierte ich sein Verhalten völlig konträr: Wenn eine Tür aufging, schaute er hin, er reagierte auf verschiedene auditive Reize, gab in bestimmten, insbesondere freudigen Situationen Geräusche von sich und kommunizierte auf seine eigene Weise. Seine Augen verfolgten das Tun der anderen Gruppenmitglieder, bis er sich wieder den taktilen Reizen, seiner Lieblingsbeschäftigung, hingab. Dabei berührte er bevorzugt mit Nieten besetzte Gürtel und schnippte seine Finger daran.
Meine Vermutung, dass er nicht taub und stumm sei, teilte ich meinen Kollegen mit, die meine Wahrnehmung als „nicht ganz normal“ abtaten. Daraufhin suchte ich nach alternativen Erklärungen für das Verhalten des jungen Mannes und kaufte mir mein erstes Buch zum Thema Autismus. Der unheimliche Fremdling, das autistische Kind von Carl H. Delacato (1985) faszinierte mich und gab mir für die damalige Situation erste Antworten. Ich fand erste Erklärungsansätze, die ich im Laufe meiner beruflichen Laufbahn weiter und in eine ganz andere Richtung entwickelte.
Inzwischen habe ich es zu meinem beruflichen Schwerpunkt gemacht, autistische Menschen und deren Angehörige zu beraten, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Unternehmen zu informieren, die Autisten einstellen möchten. Das alles habe ich nur deshalb so erfolgreich umsetzen können, weil ich mit vielen autistischen Menschen geredet, mich mit ihnen und ihren Lebensentwürfen beschäftigt, sie begleitet und ihnen zugehört habe. Gemeinsam wurden gute und auch schwierige Situationen insbesondere in Bezug auf die berufliche Integration durchlebt. Ebenso gemeinsam und vor allem auf Augenhöhe wurden mitunter erfolgreiche Kompensationsstrategien oder hilfreiche Ansätze entwickelt, um auf individuelle und kreative Weise mehr und neue Optionen auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Die Autisten selbst haben die Aufgabe, den potenziellen Arbeitgebern die Augen dafür zu öffnen, dass „aus einem Pinguin keine Giraffe“ wird, um es einmal mit den Worten von Eckhard von Hirschhausen auszudrücken, dass „Pinguinstärken“ ihr Unternehmen aber ungemein weiterbringen können.
In diesem Buch möchte ich daher nicht nur die Aspekte und Strategien erläutern, die ich in meiner Funktion als Jobcoach für autistische Menschen als hilfreich erlebe und daher meinen Klienten immer wieder vermittele. Es sollen vor allem die „Experten“ zu Wort kommen und ihre individuellen Ansätze für eine erfolgreiche Teilhabe an der Arbeitswelt vorgestellt werden. Mit Experten meine ich hier natürlich die autistischen Menschen selbst. Sie sind es, von denen ich lernen konnte. Und sie sind es, die ihre Erfahrungen weitergeben können, damit auch andere Autisten erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ werden in diesem Buch die verschiedenen arbeitsplatzbezogenen (Problem-)Felder aus Beratersicht vorgestellt und erläutert, was es zu beachten gilt, welche Stolpersteine sich ergeben können und wie man sie erfolgreich umgeht. Darauf folgen dann Beschreibungen und Erfahrungsberichte von den Autisten selbst mit Tipps für den Umgang mit schwierigen (Bewerbungs-, Vorstellungs- und Arbeits-)Situationen, mit Beschreibungen, was hilfreich war und wovon eventuell abzuraten ist.
Dieses Buch verfolgt das Ziel, Wissen zu vermitteln und Erfahrungswerte weiterzugeben, denn Beschreibungen von erfolgreich gelösten Problemsituationen können auch bereichernd für andere Personen sein, die eventuell auf ganz ähnliche Schwierigkeiten stoßen.
Das Spannungsfeld zwischen Arbeitgeber und autistischem Arbeitnehmer gilt es hier darzustellen. Oft tauchen die ersten Hürden bereits bei dem in Deutschland gängigen Bewerbungsverfahren auf mit standardisierten Bewerbungsformularen, Vorstellungsgesprächen mit hohen kommunikativen Anforderungen, einer kurzen Einarbeitungszeit und dem Anspruch, einen lückenlosen Lebenslauf präsentieren zu können. Der Bewerberauswahl wird oft (zu) wenig Zeit gewidmet. Institutionen wie etwa Specialisterne, auticon oder autWorker sowie individuelle Berater sind nötig, um das erforderliche Wissen an Unternehmen heranzutragen und somit die Chancen für autistische Menschen überhaupt erst zu eröffnen.
Das Buch richtet sich an hochfunktionale Autisten, wobei hochfunktional hier nur als Beschreibung und nicht als Diagnose verstanden wird. Das heißt, dass dieses Werk jene Autisten anspricht, die lautsprachlich, schriftlich oder durch Gebärden kommunizieren, die lesen, schreiben, rechnen und alltagspraktische Dinge erledigen können, jedoch Schwierigkeiten haben, (nonverbale) Kommunikation adäquat zu deuten, oder Unterstützung / Aufklärung im sozialen Miteinander am allgemeinen Arbeitsmarkt wünschen (vgl. dazu: http://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/high-functioning-autismus.html).
Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf die allgemeinen Diagnosekriterien wegen der Unschärfen bei der Diagnostik selbst. Vielmehr möchte ich mit diesem Buch auch jene Menschen ansprechen, die sich dem Autismusspektrum nahe fühlen, aber keine offizielle Diagnose haben: Sie werden dazu angehalten, Ihren Spielraum zu nutzen und auszubauen, Ihre Grenzen zu (er-)kennen und den Mut aufzubringen, eben diese – wenn nötig – zu überschreiten. Es geht hier nicht um „Autisten-Dressur“, sondern vielmehr darum, Ihre Wahlmöglichkeiten und Ihr Wohlbefinden zu vergrößern, indem Sie mehr über das soziale Miteinander lernen. Warum handeln Neurotypische, wie sie handeln? Warum ist Small Talk so wichtig für Neurotypische? Diese und andere Fragen werden hier erläutert mit dem Ziel, Ihre Selbstbefähigung zu fördern. Wenn Sie über ausreichend Wissen und Verständnis verfügen, können Sie selbstbestimmt entscheiden, was Sie anpassen oder akzeptieren möchten, und was nicht.
Die Idee zu diesem Buch geht zurück auf die Überlebensstrategien („A survival guide for people with asperger syndrome“) von Marc Segar (Quelle: http://www-users.cs.york.ac.uk/alistair/survival/), hier bezogen auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Zusätzlich werden aktuell gültige Theorien aufgegriffen und themenbezogen zur Erklärung herangezogen. Dabei möchte ich aber insbesondere darauf hinweisen, dass es auch einer sozialpsychologischen Sichtweise bedarf, um das Phänomen Autismus zu erklären.
Unabhängig von den neurologischen Erklärungsmodellen bleibt zu beachten, dass Autismus Auswirkungen auf die Interaktion zwischen zwei Personen hat. Bernhard Schmidt, Autor der Reihe Autist und Gesellschaft – Ein zorniger Perspektivenwechsel (2015), bringt das treffend auf den Punkt:
„Betrachtet man Autismus nicht wie bisher isoliert, sondern zusammen mit den Ergebnissen der Sozialpsychologie, dann werden zwei Dinge sehr schnell klar. Erstens: Autismus ist keine Krankheit oder Störung. Und zweitens: Die Probleme von Autisten entstehen in Abhängigkeit vom soziokulturellen Umfeld. Wenn Autisten z. B. in einem buddhistischen Kloster überhaupt auffallen – dann sicher positiv.“
Aus diesem Grund vermeide ich im Folgenden das Wort „Betroffene“ weitestgehend, vielmehr möchte ich den Personenkreis in den Vordergrund rücken und benutze die Beschreibung „Hauptperson“.
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind nicht mehr nur die beruflichen Kompetenzen ausschlaggebend für die berufliche Teilhabe, sondern die „social skills“ sind viel wichtiger geworden. Wer sich gut verkaufen kann, hat Erfolg. Netzwerken und Multitasking sind gefordert. Wer das richtige „Vitamin B“ hat, kommt weiter. Ich möchte hier ganz ausdrücklich auf bestehende gesellschaftliche Missstände hinweisen, denn nur deswegen fallen Autisten aus dem Rahmen. Zusätzlich ist das vorherrschende Unterstützungssystem nicht ausreichend auf die Bedürfnisse von Autisten ausgerichtet und mit individuellen Hilfen sehr zurückhaltend. Die Hauptpersonen sind oftmals auf sich alleine gestellt. Dieses Werk soll sie dazu befähigen, sich ihrer Kompetenzen bewusst zu werden und überzeugend für sich einzutreten. Ich mache die Erfahrung, dass Arbeitgebern viele Kompetenzen verborgen bleiben, und sehe es als meine Aufgabe, über die Kompetenzen von Personen im Autismusspektrum aufzuklären, um eine bessere berufliche Teilhabe zu fördern.
Dieses Werk erhebt nicht den Anspruch auf eine vollständige Abbildung des gesamten Arbeitsmarktes, doch versteht es sich als erste Erklärung und Hilfestellung in der Hoffnung, dass noch weitere solcher Werke in deutscher Sprache entstehen.
Der eingangs zitierte Ausspruch von...