2. Was bedeutet Hochsensibilität?
Wenn Sie mir auch nur ein bisschen ähnlich sind, dann haben Sie eine Reihe von Fragen: Was genau ist denn nun Hochsensibilität? Gibt es eine Definition? Ist Hochsensibilität wissenschaftlich anerkannt? Was ist denn am Nervensystem von Hochsensiblen anders? Was charakterisiert hochsensible Menschen? Was geht mit Hochsensibilität einher? Verfügen sie wirklich auch über besondere Stärken? Gibt es ein einheitliches Persönlichkeitsbild?
2.1 Der Begriff Hochsensibilität
Ich beginne mit Informationen zum Aufkommen des Fachausdrucks. Dann widme ich mich der Suche nach einer Definition und der Klärung von Begrifflichkeiten. Das halte ich für wichtig, um mit meinen Lesern eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen. Meine Aufgabe als Autorin sehe ich darin, Sprache präzise und sachgerecht zu verwenden, sodass Sie meine Gedankengänge verstehen können.
Elaine Aron hat dem Phänomen einen Namen gegeben
Die amerikanische Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin Elaine N. Aron hat sich seit den 90er-Jahren eingehend mit dem Thema Hochsensibilität auseinandergesetzt. In Seminaren und Einzelsitzungen sprach sie mit Hunderten von Hochsensiblen. Sie führte eigene Forschungsarbeit durch und wertete in großem Umfang psychologische Wissenschaftsliteratur aus, die sich auf dieses Persönlichkeitsmerkmal bezieht (wenn auch nicht unter demselben Begriff und mit einem anderen Verständnis der Zusammenhänge).
Elaine Aron hat den Begriff „Highly Sensitive Person“ (kurz HSP, auf Deutsch: Hochsensible Person) geprägt. In ihrem Buch „Sind Sie hochsensibel?“ schreibt sie: „Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diese Eigenschaft eigentlich nennen könnte. Ich wollte nicht den Fehler wiederholen, sie mit Introvertiertheit, Schüchternheit, Gehemmtsein oder einer Menge anderer fälschlicher Bezeichnungen zu verwechseln, die andere Psychologen uns auferlegt haben. Keiner der Begriffe drückt nämlich den neutralen und erst recht nicht den positiven Aspekt dieser Eigenschaft aus. Der Begriff Sensibilität macht auf neutrale Weise die größere Empfänglichkeit gegenüber Reizen deutlich. Es schien an der Zeit, mit der Voreingenommenheit gegenüber HSP abzurechnen, indem eine Bezeichnung gewählt wurde, die uns gerecht wird.“ Hochsensibilität ist ein fest verankertes, unabänderliches Persönlichkeitsmerkmal. Nach Arons Erkenntnis gehören 15 bis 20 Prozent der Menschen – gleichermaßen Männer wie Frauen – zu den Hochsensiblen. Die Abkürzung HSP wird auch im deutschen Sprachraum verwendet, für Einzahl und Mehrzahl, teilweise auch in HSM (hochsensibler Mensch) abgewandelt.
Elaine Aron hat eine Reihe von Büchern über Hochsensibilität veröffentlicht. Ihr grundlegendes Buch erschien 1996 in den USA: „The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You“ (direkt übersetzt: Der hochsensible Mensch: Wie man gut und erfolgreich leben kann, wenn die Welt einen überwältigt). Das Buch hat viel Beachtung gefunden und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden. 2005 erschien es auf Deutsch unter dem Titel „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“. (Aus diesem Buch sind alle Zitate von Elaine Aron entnommen, sofern nichts anderes angegeben ist.)
Arons Wirken ist es zu verdanken, dass die Erkenntnisse über das Wesensmerkmal Hochsensibilität in die klassische Psychologie Eingang gefunden haben – zumindest in den USA. Ihre Studienergebnisse sind in namhaften psychologischen Fachzeitschriften in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden. Der erste wissenschaftliche Artikel dazu, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Arthur Aron schrieb erschien 1997 unter dem Titel „Sensory-Processing Sensitivity and its Relation to Introversion and Emotionality“ (Empfindlichkeit in der Verarbeitung von Sinnesreizen und deren Bezug zu Introvertiertheit und Emotionalität). Eine vollständige Liste der Veröffentlichungen finden Sie auf der Website von Elaine Aron: http://www.hsperson.com.
Elaine Aron setzt sich mit viel Engagement für ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Hochsensiblen ein. In ihrem Buch „Sind Sie hochsensibel?“ schreibt sie, wie bedeutsam es sei, dass sie aus eigener Anschauung die besondere Eigenschaft einschließlich der Vorzüge und Herausforderungen kenne. Sie erzählt von sich, sie habe diverse Probleme ihrer Kindheit in mehreren Jahren Therapie aufgearbeitet, wobei sich ihre Sensibilität zum zentralen Thema entwickelte: „Da war mein Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein. (...) Und dann war da noch die Isolation, in die ich mich aufgrund meiner Empfindsamkeit zurückzog. Aber als ich Einsicht in alles gewann, war ich in der Lage, ins Leben zurückzukehren.“
In der April-Ausgabe 2012 von PSYCHOLOGIE HEUTE findet sich ein Interview mit Elaine Aron mit der Überschrift „Von Natur aus dünnhäutig“. Darin antwortet sie auf die Frage „Wie betrachten Sie Hochsensibilität heute?“: „Als Psychotherapeutin und in der Tat persönlich Betroffene ist für mich zunächst einmal völlig klar: Was immer es sein mag, viele Menschen erkennen es in sich sofort!“ Und die Antwort auf die Frage, wo sie sich heute stehen sehe, mehr als 15 Jahre, nachdem sie mit dem Thema Hochsensibilität an die Öffentlichkeit gegangen sei, lautet: „Mein Werk ist fast vollbracht. Viele Menschen haben Hochsensibilität verstehen gelernt, andere beginnen damit gerade. Grundlagenforscher finden viel Neues heraus, was meine Arbeit stützt. Das alles zu sehen, empfinde ich als sehr beglückend.“
Auf der Suche nach einer anerkannten wissenschaftlichen Definition
Definieren Sie Ihre Begriffe präzise, wenn Sie eine intelligente Diskussion führen wollen.
(Ausspruch eines Universitätsprofessors gegenüber seinen Studenten)
Eine Definition von Hochsensibilität, das heißt eine genaue Bestimmung des Begriffs und seines Inhalts, dient der eindeutigen Verständigung. Eine Begriffsbestimmung – und sei sie noch so vorläufig – und ein einheitlicher Gebrauch des Begriffs sind überdies meines Erachtens erforderlich, wenn man anstrebt, dass Hochsensibilität auf breiter Basis in der Gesellschaft und in der Wissenschaft (ich denke an Psychologie, Soziologie, Medizin, Neurowissenschaften) erst genommen und zum Gegenstand weiterer Forschungen gemacht wird. Auf der Suche nach einer Definition habe ich an vielen Stellen nachgelesen und nachgefragt und mich mit anderen Experten ausgetauscht. In medizinischen und psychologischen Lexika sucht man den Begriff vergeblich. Meiner Recherche zufolge existiert bis heute keine einheitliche wissenschaftliche Definition. Eine ausführlichere Beschreibung von Hochsensibilität fällt offenbar allemal leichter als eine Definition.
Bei Wikipedia finde ich (Stand: September 2012): „Hochsensibilität (deutsche Terminologie uneinheitlich; auch: Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit) ist ein Phänomen, bei dem Betroffene stärker als der Populationsdurchschnitt auf Reize reagieren, diese viel eingehender wahrnehmen und verarbeiten.“ Auf derselben Seite weiter unten kommt der einschränkende Hinweis: „Mangels entsprechender Forschung sind sowohl die Validität des Terminus als solchem wie auch nähere Einzelheiten weitgehend ungeklärt.“
Auf der Website von Elaine Aron steht (übersetzt): „Nach Dr. Arons Definition hat die hochsensible Person (HSP) ein empfindliches Nervensystem, bemerkt Feinheiten in ihrem Umfeld und ist leichter überflutet von einer stark stimulierenden Umgebung.“
Die Seite des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität e. V. (IFHS) – http://www.hochsensibel.org – gibt folgende „Blitzinfo“: „Aufgrund besonderer Eigenschaften ihres Nervensystems nehmen Hochsensible mehr und intensiver wahr als andere Menschen. Dies hat manche Vorteile, führt allerdings auch zu früherer Erschöpfung und scheinbar geringerer Belastbarkeit.“
Auf mehreren deutschen Websites, die mit Hochsensibilität zu tun haben, taucht eine Erklärung auf, die sich auch im Wikipedia-Eintrag finden lässt: „eine höhere Empfindlichkeit bedingt durch eine besondere Konstitution der Reize verarbeitenden neuronalen Systeme.“ (Unter Konstitution sind die beständigen genetischen Eigenschaften zu verstehen.) Der IFHS nimmt auf seiner Website zu der Frage „Ist das Ganze wissenschaftlich anerkannt?“ wie folgt Stellung: „Prämisse der Arbeit des IFHS ist (...), dass es angemessen und im therapeutischen Kontext (...) sinnvoll ist, von der Existenz eines Phänomens (...) namens ‚Hochsensibilität‘ auszugehen. Hier stellt sich die Frage, ob dieser Begriff ‚wissenschaftlich anerkannt‘ ist. Dieser Frage liegt die Vorstellung zugrunde, es ließe sich klar beantworten, was ‚wissenschaftlich anerkannt‘ ist, so als gäbe es eine Art zentraler Institution, die darüber entscheidet und abschließend befindet. Wissenschaft ‚funktioniert‘ aber anders: Neue Ideen und Theorien werden zunächst von Einzelnen in der Fachpresse veröffentlicht. Im Laufe der Zeit – dies kann sehr lange dauern – werden die neuen Thesen durch weitere Forschungen bestätigt, widerlegt oder verfeinert. Bis eine Position ‚herrschende Meinung‘ oder sogar ‚allgemeine Ansicht‘ wird, ist es aber meist ein weiter Weg. Der Ausdruck ‚Hochsensibilität‘ als wissenschaftlicher Terminus existiert seit einer grundlegenden Veröffentlichung im (hoch angesehenen) Journal of Personality and Social Psychology aus dem Jahre 1997. Einzelne spätere Studien verwenden den Ausdruck in diesem Sinne. Viele Forschungen vorher und nachher scheinen ferner in Ergebnissen Ähnliches auszusagen wie...