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E-Book

»Hollywood« ignorieren

Vom Kino

AutorMartin Seel
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783104902111
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Für oder gegen Hollywood - von dieser Alternative sollte sich eine Theorie des Kinofilms befreien. Der Frankfurter Philosoph Martin Seel demonstriert in seinem Buch »?Hollywood? ignorieren. Vom Kino«, wie dies gelingen kann. Ob es um das Verhältnis von Bewegung und Stillstand, Erzählung und Gegenerzählung, Gesetz und Gewalt oder um die Transformation filmischer Genres geht: Jedes Mal kommt ein Spektrum heterogener Darstellungsmöglichkeiten in den Blick. In fesselnden Analysen einzelner Filmen sowie der Reaktionen des Kinos auf den zweiten Irakkrieg wird die Reichweite filmischer Weltbezüge vorgeführt. U. a. über die Filme von John Ford: »The Man who shot Liberty Valance«; Jean-Luc Godard: »Vorname Carmen«; Michael Mann: »Heat«; Michael Haneke: »Caché«; Francis Ford Coppola: »Apocalypse Now« und Clint Eastwood: »American Sniper«.

Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. FISCHER sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014) sowie »?Hollywood? ignorieren. Vom Kino« (2017).

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Leseprobe

3. Drei Kronzeugen


Für die Unbefangenheit, mit der eine Theorie des Films ihrem Gegenstand begegnen sollte, gibt es in der Geschichte des Nachdenkens über das Kino zahlreiche Beispiele, von denen ich hier nur drei ins Feld führen möchte. Mein erster Kronzeuge ist Erwin Panofsky, der zwar kein Philosoph war, aber mit seiner epochalen, im amerikanischen Exil geschriebenen und 1946 publizierten Abhandlung über Style and Medium in the Motion Pictures erheblichen Einfluss auf philosophische Geister wie Kracauer und Cavell ausgeübt hat.[9] Zudem wurde ihre erste Fassung zur selben Zeit wie die großen Kunstwerkaufsätze Benjamins und Heideggers (um 1936) geschrieben, worin man einen historischen Wink mit dem Zaunpfahl sehen könnte (der daran erinnert, dass wenigstens einer der drei von der neuen Kunstform etwas verstanden hat). Panofsky hatte einen klaren Blick für das besondere raumzeitliche Regime des Kinos, das seinen Zuschauern erlaubt, sich als ästhetische Subjekte inmitten der imaginativen Landschaften seiner Filme aufzuhalten. Der filmische Raum ist nicht allein – und nicht so sehr – ein Raum, in dem Bewegung stattfindet, sondern vor allem ein sich in seinem eigenen Rhythmus bewegender Raum, den das Publikum sehend und hörend exploriert. Diese Phänomenologie der Kinosituation und vieles, was aus ihr folgt, entwickelt Panofsky ohne jede Berührungsangst vor den diversen filmischen Genres, was sich vor allem daran zeigt, dass er wie selbstverständlich die damals verfügbaren »special effects« mit einbezieht und dem »trick film« ebenso wie dem »animated cartoon« die Ehre erweist. Dies hat unter anderem zur Folge, dass er einen deutlichen Abstand zu den realistischen Dogmen seines Freundes Kracauer hält, der diese aus Style and Medium in the Motion Pictures glaubte herauslesen zu können. Bei Panofsky wird sichtbar, dass und wie eine bei seinen formalen Grunddispositionen ansetzende normativ undogmatische und dennoch einheitliche Theorie des Films möglich ist.

Ein zweiter großer Eisbrecher in dieser Sache ist natürlich André Bazin. Durch die Art seines Wirkens hat er auf einzigartige Weise nicht nur den Blick für die künstlerische Vielfalt des Kinos geöffnet, sondern diese auch erheblich gefördert. Wie Panofsky verfährt er in seinen Studien und Kritiken immer wieder komparativ, beleuchtet also die spannungsreichen Affären des Films mit der Malerei, dem Theater, der Literatur und der Fotografie, die seine Entwicklung geprägt haben und weiterhin prägen. Seine stereoskopische Auffassungsgabe ist dabei den offenen und verdeckten Korrespondenzen zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kino gewidmet. So soll es sein. Das Kompliment, das Dudley Andrew im Vorwort seines Buches What Cinema is! seinem Helden macht, ist darum völlig verdient: »The idea of cinema best articulated by Bazin applies to all sorts of films, genres and modes, and in all its periods.«[10] Zwar steht dieser Satz ironischerweise in einem Buch, in dem – mit starkem normativem Akzent – fast ausschließlich das europäische und zumal das französische Autorenkino eine Rolle spielt, jedoch ändert das aus meiner Sicht nicht das Geringste an der Plausibilität der Direktive, die in ihm ausgegeben wird.

Nun aber wird es Zeit für mein surprise item in Gestalt des dritten Kronzeugen, den ich aufrufen möchte. Bei allem Misstrauen gegen die von ihr verbreitete Ideologie zollt Adorno – um ihn handelt es sich[11] – der Kunstfertigkeit der amerikanischen Filmproduktion beinahe das höchste Lob, das er zu vergeben hat – und zwar bereits im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, wo dem Film ansonsten scheinbar alles erdenkliche Üble nachgesagt wird: »Der Zwang des technisch bedingten Idioms, das die Stars und Direktoren als Natur produzieren müssen, auf daß die Nation es zur ihrigen mache, bezieht sich auf so feine Nuancen, daß sie fast die Subtilität der Mittel eines Werks der Avantgarde erreichen, durch die es im Gegensatz zu jenen der Wahrheit dient.«[12] Bemerkenswert ist dieser Satz allein deshalb, weil hierin die Anerkennung des Films als eines mit den anderen Künsten konkurrenzfähigen Mediums liegt. Das ist selbst dann so, wenn Horkheimer und Adorno den Film für den Zwangscharakter des kapitalistischen Systems verantwortlich machen, ihn also, mit Deleuze gesprochen, zu einem Eckpfeiler der modernen »Kontrollgesellschaft« erklären: »Autos, Bomben und Film halten so lange das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist.«[13] Die zweite Hälfte dieses rabiaten Satzes immerhin enthält die Annahme, dass selbst in der manipulativen Macht des kommerziellen Filmschaffens eine subversive Energie am Werk ist. An der ästhetischen Produktion eines Scheins sozialer Freiheit nämlich scheint auf, wie es um diese tatsächlich steht. In der hochartifiziellen Verschleierungskunst des Films liegt somit zugleich ein Keim der Möglichkeit, den Bann gesellschaftlicher Repression zu unterbrechen.

Von hier aus wird auch die Maxime verständlich, die Adorno in der Einleitung seines gemeinsam mit Hanns Eisler geschriebenen Buches Komposition für den Film niedergelegt hat. Obwohl das Filmbuch in den vierziger Jahren während der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung geschrieben wurde, liegt ihm eine weit offenere Einstellung zugrunde. Die Autoren erheben es zu ihrer Methode, für das künstlerische Potential gerade der filmischen Konfektionsware aufmerksam zu sein. »Die Möglichkeiten, welche die technische Apparatur für Kunst in der Zukunft bietet, sind unabsehbar, und noch im verkommensten Film sind Augenblicke, wo diese Möglichkeiten sichtbar aufblitzen. Aber das gleiche Prinzip, das diese Möglichkeiten entfesselt hat, fesselt sie zugleich an den Betrieb des big business. Die Auseinandersetzung mit Massenkultur muß es sich zur Aufgabe setzen, die Verschränkung beider Elemente, der ästhetischen Potentialitäten der Massenkunst in einer freien Gesellschaft und ihres ideologischen Charakters in der gegenwärtigen, sichtbar zu machen.«[14]

So eindeutig aber ist diese Trennung gar nicht vorzunehmen. Denn Adorno und sein Kompagnon Eisler beweisen hier ein Auge – und Ohr – für etwas, woran die Philosophie des Films bis heute mit wenigen Ausnahmen achtlos vorbeigegangenen ist: für die spezifische Musikalität des Films. Ausgehend von der »Vieldeutigkeit des Bewegungsbegriffs« im Film stellen die Autoren den »Großrhythmus« des Films demjenigen der Musik gegenüber. »Großrhythmus« meint weder die messbare Zählzeit im Fall der Musik noch die messbaren Einstellungslängen im Fall des filmischen Bildes, sondern die komplexe zeitliche Choreographie von Musikstücken oder Filmen als Ganzen. »Der ›Großrhythmus‹«, heißt es in dem Filmbuch, »ergibt sich aus der Zusammensetzung und Proportion der Formelemente, nicht ganz unähnlich musikalischen Verhältnissen.«[15] Das Besondere dieser Musikalität der filmischen Bewegung liegt jedoch nach Eislers und Adornos Einsicht gerade in ihrer Differenz zu derjenigen der Musik. Denn die »großrhythmische Struktur von Filmen ist weder komplementär zur musikalischen noch ihr parallel: sie läßt als solche sich überhaupt nicht in eine musikalische umsetzen.«[16] Diese Beobachtung führt zu einem komplexen Begriff der filmischen Bewegung, die ja schon zur Zeit des Stummfilms häufig eine visuelle und eine akustische gewesen ist. Die klangbildliche Einheit des filmischen Prozesses muss aus der Ungleichartigkeit des visuellen und des akustischen Rhythmus verstanden werden: Aus der Interferenz dieser differenten Bewegungen erst ergibt sich der Rhythmus eines gesamten Films. Darum schlagen die Autoren vor, den Begriff der Montage über den Bereich des Bildes hinaus zu erweitern: »Wenn irgend dem von Eisenstein so emphatisch vertretenen Begriff der Montage sein Recht zukommt, dann in der Beziehung zwischen Bild und Musik. […] Die Divergenz der Medien ebenso wie ihre konkrete Beschaffenheit schreibt diesen Montagecharakter vor.«[17] In seiner Abhandlung Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, die nach einer Ergänzung im Blick auf den Film förmlich schreit, führt Adorno zudem aus, dass »räumliche Verhältnisse ins musikalische Phänomen selber fallen.«[18] Diese Beobachtung rückt die Klangwelt eines Films in eine komplexe Beziehung zu den räumlichen Verhältnissen, in denen sich das Geschehen auf der Leinwand vollzieht. Aus der Interaktion seiner mal eher konsonanten, mal eher dissonanten auditiven und visuellen Räume ergibt sich die bewegte Zeit eines Films, in der sich im Kino ein virtueller Wahrnehmungsraum öffnet. Dabei dürfen natürlich auch die übrigen akustischen Dimensionen des Filmbildes nicht vernachlässigt werden. Auch Wort und Geräusch schließlich tragen wesentlich zu der Rhythmik filmischer Prozesse bei. Diese Rhythmik, also die Interferenz der beiden »Großrhythmen« des Bildes und der Tonspur, ist ausschlaggebend für das, was Filme eigentlich sind. Über den Gehalt von Filmen, heißt das, darf analytisch nur sprechen, wer auf die gesamte Organisation ihrer visuellen und akustischen »Formelemente« Rücksicht nimmt.

An diese Einsicht freilich hat sich Adorno allerdings nicht immer gehalten. Sonst hätte er sich nicht so oft mit der Oberfläche eines oberflächlich gesehen konventionellen Plots begnügt. Er hätte sich nicht – wie in der Dialektik der...

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