1. Von der Vermittlung von Finanzprodukten zur Beratung
Sie sind auch dabei. Sicher: 20 bis 30 Milliarden Euro verlieren Anleger jedes Jahr wegen schlechter Finanzberatung und Vermittlung von Finanzprodukten. Mehr als die Hälfte der Langfristanlagen werden frühzeitig gekündigt. Diese Erkenntnisse stammen aus der Studie des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) aus dem Jahr 2008. In der bislang umfassendsten Untersuchung des deutschen Finanzmarktes »Anforderungen an Finanzvermittler – mehr Qualität, bessere Entscheidungen« (Evers & Jung) sprechen sich die Autoren Marco Habschick und Jan Evers eindeutig für die Honorarberatung als Lösungsansatz für bessere Leistungen in der Finanzbranche aus und begründen das ausführlich und überzeugend. Sie fordern unter anderem, Vermittlungsprozesse bei der Regulierung mit zu betrachten und die Anreizstrukturen der Provisionsberatung zu verändern. Die Studie förderte eine dringend notwendige Debatte über Qualitätsstandards bei der Beratung für Finanzprodukte. Bei einigen Produktgebern und vermutlich allen vertriebsorientierten Organisationen löste die Untersuchung Unverständnis, Widerspruch oder blanke Panik aus. In der Folgezeit kam es zu mehreren Anhörungen von Branchenvertretern in Berlin.
Studienergebnisse: Über Finanzvermittlung
in Deutschland
Evers & Jung untersuchten für die Studie »Anforderungen an Finanzvermittler« die rechtlichen Rahmenbedingungen, analysierten die Vermittlerpraxis u. a. durch Expertenbefragungen und stellten internationale Vergleiche an. Untersucht wurden verschiedene Ebenen des Versicherungs-, Anlage- und Kreditmarktes. Die Studie klammert die im Jahr 2007 vollzogene Umsetzung der EU-Versicherungsvermittlerrichtlinie (VersVermR) und die Markets in Financial Instruments Directive (MiFID) aus, da die qualitativen Folgen der Neuregelungen noch nicht absehbar waren. Die Autoren äußerten sich in der Studie jedoch eher skeptisch über deren Erfolg wegen des großen bürokratischen Aufwands bei geringen Sicherungsgewinnen für die Verbraucher.
Der Befund der Studie: Die Situation ist vor allem charakterisiert durch eine im internationalen Vergleich hohe Anzahl an Akteuren und ein unübersichtliches rechtliches Rahmenwerk.
In Deutschland kommen 61 Vermittler auf 10.000 Einwohner. In Großbritannien liegt diese Zahl bei 27 und in den Niederlanden bei 20. Der Regulierungs- und Standardisierungsgrad liegt laut Autoren der Studie unter dem im Handwerk oder bei der Schuldnerberatung. Die fragmentierte Regulierung genügt nicht den notwendigen inhaltlichen Ansprüchen einer wünschenswerten produkt- und themenübergreifenden Gesamtbetrachtung der privaten Finanzen, die im gehobenen Marktsegment des Private Banking als Maßstab gilt.
Über den Berufsstand Vermittler von Finanzanlagen und die Ausgangssituation im »Beratungsgespräch« formulieren die Autoren der Studie:
»Dem Vermittler steht der typische Verbraucher mit einem unzureichenden finanziellen Bildungsstand gegenüber, was ein produktives Miteinander auf hinreichendem qualitativem Niveau weiter erschwert. Der Nutzen einer finanziellen Entscheidung ist durch die meisten Verbraucher kaum zu erfassen oder gar zu bewerten. Mitunter herrscht der Wunsch vor, dem Berater die Entscheidung zu überlassen. Durch diese belastete Ausgangskonstellation sind Fehlleistungen eher die Regel als die Ausnahme und auch empirisch zu belegen. Zum Beispiel werden 50–80% aller Langfristanlagen mit Verlust vorzeitig abgebrochen und die gesamten Vermögensschäden auf Grund mangelhafter Finanzberatung werden auf jährlich 20–30 Mrd. EUR geschätzt.«
Das sitzt. Die Zahlen über die Kosten von Fehlberatungen sind natürlich plausible Schätzwerte. Die Langfristfolgen der falsch motivierten Vermittlung von Finanzprodukten zur Vermögensbildung dürften sogar deutlich teurer sein – eine Art negativ wirkender Zinseszinseffekt zu Lasten der Kunden – und die Kosten für die gesamte Volkswirtschaft sind sowieso immens: Die Deutschen werden im Durchschnitt älter, die Herausforderungen aus Sicht der Altersvorsorge steigen, und private Absicherungen nehmen an Bedeutung zu. Kaum jemand kann sich langfristige finanzielle Fehlentscheidungen erlauben, ohne im höheren Alter dafür mit einem erheblichen Verlust an Lebensqualität oder mit sozialem Abstieg zu bezahlen. Die folgende schematische Darstellung stammt aus der Studie.
Abb. 1.1: Fehlleistungen und ihre möglichen Folgen (Evers & Jung). |
Die bereits ergriffenen legislativen Maßnahmen seien ein überfälliger erster Schritt, um Beratungsqualität zu fördern und die hohe Fehlerquote bei Finanzentscheidungen zu verringern. Im EU-Vergleich spiele Deutschland keine Vorreiterrolle bei einer verbraucherfreundlichen und marktkonformen Gestaltung der Finanzvermittlung. Die Versicherungsvermittlerrichtlinie stelle erstmals Anforderungen an die Qualifikation und das Führen eines Geschäftsbetriebes.
Die Anlageberatung sei bis zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) eher ungeregelt gewesen. Initiativen eigener, berufsständischer Regularien wie Qualifikationsstandards und Selbstverpflichtungen haben nicht ausreichend funktioniert. Ansätze, Kunden aus eigenem Interesse in die komplexen Aufgabenstellungen »hineinzuentwickeln«, seien noch nicht ausgeprägt genug. Die logische Konsequenz sei es, »intelligente Regulierungsstrategien« zur Förderung der Beratungsqualität in der Finanzvermittlung zu entwickeln, so die Autoren der Studie.
Zur Honorarberatung äußerte sich Marco Habschick bei einer späteren Präsentation der Studienergebnisse folgendermaßen:
»Honorarberatung bringt dann etwas, wenn sie zu besseren Finanzentscheidungen der Kunden verhilft.« (Evers & Jung II)
Er wies darauf hin, dass für das Beratungsergebnis die Neutralität der Entlohnungshöhe einen prinzipiellen Vorteil darstellt. Mit Honorarberatung soll eine höhere Transparenz, Unabhängigkeit, Professionalität und eine umfassendere Dienstleistung möglich sein. Die Kernleistung der Honorarberatung sei eine Beratungsleistung und das Vermitteln eines Finanzproduktes eine Nebenleistung. Beim Provisionsmodell stehe die Vermittlung im Mittelpunkt.
Qualitätsoffensive Verbraucherfinanzen
Das Verbraucherschutzministerium gab am 1. Juli 2009 nach Auswertung der Studienergebnisse und Diskussionen mit Experten ein Thesenpapier »Qualitätsoffensive Verbraucherfinanzen« (ANHANG A) über die Zukunft des Finanzvermittlungsmarktes heraus und befragte einige Experten aus Verbänden, Verbraucherschutzorganisationen und den Verbund Deutscher Honorarberater (VDH). Die Zielsetzung der Befragung war es, herauszufinden, wie die Qualität der Finanzberatung und die Qualifikation der Finanzvermittler verbessert werden kann. Es gab zu mehreren Thesen eine breite Zustimmung der befragten Verbände, die natürlich völlig unterschiedliche Interessenlagen repräsentieren. Das Thesenpapier des Verbraucherministeriums ist in seinen Aussagen durchweg begrüßenswert. Erwartungsgemäß war These 8 zur rechtlichen Verankerung eines Berufsbilds des Honorarberaters besonders umstritten.
Die zehnte These trennte dann diejenigen, die es mit Verbraucherschutz ernst meinen und die anderen, die nur so tun als ob:
Die Vermittler und Berater müssen die Haftungsverantwortung für ihre Empfehlungen übernehmen. Die schwierige Beweissituation für die Verbraucher muss verbessert werden.
Für den VDH und Verbrauchervertreter war diese Frage einfach zu beantworten. Von diesen Gruppen wurde durchweg und meist öffentlich für eine Beweislastumkehr plädiert: Nicht der Kunde soll beweisen müssen, dass er falsch beraten wurde, sondern der Berater soll nachweisen, dass er eine sachgerechte Beratung abgeliefert hat. Die Beweislastumkehr ist nur Waffengleichheit in einem Markt, der sich bisher nicht durch Verbraucherfreundlichkeit, sondern durch einen Informationsvorteil der Finanzvermittler und manche hanebüchene Fehlberatungsleistung auszeichnet. Aber vielleicht gibt es andere überzeugende Argumente.
Das Ministerium fasste die geäußerten Positionen anonymisiert zusammen:
»Die Stellungnahmen gehen überwiegend davon aus, dass die reale Gefahr einer Haftungsinanspruchnahme die Qualität der Beratung verbessern könne. Vereinzelt wird dies mit dem Argument bestritten, dass ein Großteil der Beratungsschäden nicht durch Kriminelle, sondern durch ‚ahnungslose’ Vermittler verursacht werde. Andererseits wird darauf hingewiesen, dass latent höhere Haftungsrisiken dazu führen könnten, dass auch möglicherweise sinnvolle Anlageprodukte nicht mehr empfohlen würden. Viele Verbände halten die geltenden Regelungen für ausreichend. Sie verweisen auf bestehende Sorgfaltspflichten von Wertpapierdienstleistungsunternehmen und auf bestehende Beweis-
erleichterungen für Wertpapieranleger. Das Schuldverschreibungsgesetz verbessere die Beweislage der Wertpapieranleger durch die Pflicht zur Protokollierung. Andere Verbände bezeichnen die Protokollierung der Beratung als überflüssig … Eine Haftungsverantwortung wird auch für die Mitarbeiter von Verbraucherzentralen angemahnt. Andere Verbände regen an, die Erfahrungen mit Beratung und Dokumentation zu evaluieren. Das Beratungsprotokoll solle standardisiert werden, um die Beweiserleichterung im Falle...