Humane Psychiatrie von A bis Z
Abbau von Barrieren im Kopf
Damit es zu einer Verbesserung und Humanisierung der psychiatrischen Versorgung kommen kann, bedarf es des Abbaus unterschiedlicher Barrieren in den Köpfen vieler Menschen. Nicht nur professionelle Helfer müssen zum Umdenken angeregt werden, auch die Gesellschaft, Politiker, Angehörige und Betroffene selbst sind dazu angehalten, ihre Sichtweisen immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls zu erneuern oder zu ändern. Die psychiatrische Versorgung hat sich die letzten Jahrzehnte – vor allem durch Anstoß der Psychiatrie-Enquete – (größtenteils) stetig weiterentwickelt und verbessert. Dennoch besteht vielerorts noch dringender Handlungsbedarf auf dem Weg zu einem optimalen Behandlungsspektrum. Zentrale Themen sollten dabei (auch gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention) Inklusion, Teilhabe sowie die Wertschätzung der Einzigartigkeit und auch Andersartigkeit eines jeden Menschen sein. Psychisch kranke Menschen dürfen niemals ausgeschlossen und stigmatisiert werden. Sie haben ein Recht auf Leben, Schutz der Menschenwürde und -rechte, Nichtdiskriminierung, Akzeptanz, Toleranz, Teilhabe, Leben in der Gemeinschaft, Achtung der Privatsphäre, Chancengleichheit, Bildung, Arbeit, Rehabilitation, Andersartigkeit, Eigenständigkeit, Gleichberechtigung und Entscheidungsfreiheit (vgl. Bundesgesetzblatt 2008).
Es muss darauf geachtet werden, dass die Errungenschaften der letzten Jahre nicht wieder zunichte gemacht werden. Betrachtet man so manche gesundheitspolitische Entscheidung, scheinen neben den Barrieren im Kopf auch teilweise noch Scheuklappen dazugekommen zu sein. Der Abbau dieser Barrieren muss in den Köpfen der einzelnen Menschen beginnen. Es muss Bewusstsein geschaffen werden und Betroffenheit entstehen. Erst dann können weitere zielführende Schritte und Maßnahmen zur Verbesserung geplant und eingeleitet werden.
Was muss passieren, dass es zu einem Abbau der Barrieren in den verschiedenen Köpfen kommt?
Neben einer regelmäßigen Selbstreflexion bedarf es ebenfalls der Fremdreflexion. Kritikfähigkeit und der anschließende Änderungswille sowie das aktive Tun spielen dabei eine entscheidende Rolle. Reflexion sollte als verbindliche Pflichtaufgabe unserer Gesellschaft angesehen werden.
Gegebenheiten sollten kritisch hinterfragt werden. Eine differenzierte und kontinuierliche Auseinandersetzung mit psychischen Störungsbildern ist eine Grundvoraussetzung, um ein Verständnis für Denk-, Sicht- und Verhaltensweisen entwickeln zu können sowie Wünsche psychisch kranker Menschen besser zu verstehen, zu deuten und damit professionell und empowermentorientiert umgehen zu können. Betroffene sollten dazu ermutigt werden, sich selbst mit ihrer Störung und ihren Problematiken gezielt auseinanderzusetzen, denn Wissen ist Macht. Nichtwissen scheint in diesem Fall problematisch und stellt ein Hindernis für Recovery dar. Psychoedukation, Psychoseseminare und Trialog sind probate Mittel im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Erkrankung und sollten Selbstverständlichkeit in der psychosozialen Versorgung sein.
Psychisch kranke Menschen dürfen nicht als Sonderlinge, Exoten, Außenseiter und Personen, die selbst an ihrer Erkrankung schuld wären, angesehen werden. Der beste Weg, etwas über einen psychisch kranken Menschen zu erfahren, ist der direkte persönliche Kontakt mit ihm. Die Einbeziehung Betroffener und die Begegnung auf Augenhöhe sollten zur Selbstverständlichkeit gehören bzw. werden. Machtgefälle und Omnipotenzgefühle sind in der Psychiatrie fehl am Platz. Professionelle Helfer müssen daher Veränderungs- und Lernbereitschaft zeigen.
Es wird (wieder) Zeit, mehr den Menschen in den Blick zu nehmen und ihn nicht auf seine Symptome zu reduzieren. Der Weg muss weg von einer einseitigen, defizitären Blickweise hin zu einer partizipativen, salutogenetischen Herangehensweise führen. Im Zweifelsfall hilft es als Experte durch Fachwissen meist, wenn man sich die Frage stellt, wie man selbst behandelt werden möchte, wäre man an der Stelle seines Gegenübers. Es ist ebenso wichtig, dass Vorurteile beseitigt werden. Alternative Behandlungsansätze und -methoden müssen mehr in den Blickpunkt gerückt werden und Betroffene und Angehörige sollten in der Praxis (und auch in der Forschung) mehr miteinbezogen werden. Peer-Arbeit und EX-IN-Genesungsbegleitung sollten weiter ausgebaut werden und selbstverständlicher Bestandteil der Versorgung sein.
Barrieren bestehen oftmals nicht nur zwischen Experten durch Fachwissen und Experten aus Erfahrung, sondern auch zwischen den verschiedenen professionellen Berufsgruppen selbst. Keine oder zumindest flache Hierarchien werden von multiprofessionellen Teams sehr begrüßt. Dadurch wird zu einem Gemeinschaftsgefühl, was auf Gleichberechtigung basiert, beigetragen.
Ein weiterer Punkt, über den nachgedacht werden sollte, ist die Sprache professioneller Helfer. Sehr häufig wird im Alltag eine Fachsprache genutzt, die für Laien nur schwer verständlich ist. Es wäre daher sinnvoll, eine gemeinsame Sprache zu finden und zu entwickeln, mit der auf Augenhöhe mit dem Gegenüber kommuniziert wird.
Es muss an dieser Stelle auch angemerkt werden, dass rein wirtschaftliches Denken im Gesundheits- und Sozialwesen keinen Platz hat, da es humanes Denken in den Hintergrund stellt.
Ebenso muss der »Evidenz-Gedanke« in Frage gestellt werden. Selbstverständlich soll gemessen werden, was zu messen ist. Allerdings lassen sich beispielsweise weiche Faktoren, wie eine gute Beziehung oder Empathie lediglich beobachten. Daher besteht der Wunsch nach mehr qualitativer statt quantitativer Überlegungen in der psychiatrischen Arbeit.
Achtsamkeit
Ein Thema, das ebenfalls die Köpfe der Menschen und ihr Denken betrifft, ist Achtsamkeit (engl. mindfulness). In der heutigen Zeit fällt es den Menschen zunehmend schwerer, achtsam und (vor)urteilsfrei zu leben. Aufmerksam im Hier und Jetzt zu sein scheint für eine Vielzahl von Menschen unmöglich. Entweder verharren sie gedanklich in der Vergangenheit oder sie machen sich bereits Gedanken und Sorgen um die Zukunft. Manche Menschen laufen auch einfach nur auf Autopilot. Ein chinesisches Sprichwort besagt: »Wer die Gegenwart nicht genießt, wird in der Zukunft keine schöne Vergangenheit haben.« Menschen neigen dazu, Dinge schnell zu bewerten – und das häufig auf negative Art und Weise. Sie geben den Dingen keine Chance auf Veränderung. Dadurch werden sie zu pessimistischen oder nihilistischen Personen. Der Blick für die kleinen, schönen Dinge im Leben, die es eigentlich verdient hätten, Dankbarkeit in uns auszulösen, gerät aus dem Fokus: ein Dach über dem Kopf, das Essen auf dem Tisch, das Bett zum Schlafen, die Kleidung, die man trägt, Familie und Freunde, das Lächeln anderer Menschen und vieles andere mehr. Der Alltag läuft oft gleich und routiniert ab, was dazu führt, dass andere Einflüsse nicht mehr wahrgenommen werden. Ein achtsamer Umgang mit den Mitmenschen scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein. Ebenso eine achtsame Haltung dem Leben gegenüber. Achtsamkeit hat etwas mit Aufmerksamkeit zu tun. Zentral dabei sind die wertungsfreien Wahrnehmungen unserer Sinne. Achtsam zu leben ist ein Prozess. Da Achtsamkeit ein wichtiger Schritt zu mehr Gelassenheit im Leben ist, ist eine bewusste Auseinandersetzung damit notwendig. Achtsamkeitsbasierte Therapien zeigen eine Evidenz zur Prävention sowie der Behandlung von Depression und Ängsten (Gotink et al. 2015).
In der psychiatrischen Versorgung bedarf es eines achtsamen Umgangs mit allen Beteiligten (Patienten, Angehörigen, Kollegen, aber auch mit der eigenen Person). Achtsamkeit lenkt den Blick auf den Menschen und wertet nicht. Sie zeugt von einer Offenheit allen Daseins und der Vielfalt menschlichen Lebens gegenüber. Sie ist dabei behilflich, sich nicht mit anderen Menschen zu vergleichen und somit in einen negativen Gedankenstrudel des Neids zu verfallen. Achtsamkeit steigert die Konzentration, kann den Menschen zur Entspannung führen und vor Burn-out schützen. Sie kann ein Weg der Befreiung sein.
In der Care-Ethik bedeutet Achtsamkeit eine besondere Form der Aufmerksamkeit, die den Blick auf die Bedürfnisse der hilfe- und unterstützungsbedürftigen Menschen richtet.
Adhärenz
Als Adhärenz (engl. adherence) wird die Therapietreue eines Patienten bezeichnet. Sie bedeutet die Einhaltung und Umsetzung der gemeinsam vereinbarten und erarbeiteten Therapiemaßnahmen und -ziele. Der Begriff Compliance sollte von Adhärenz abgelöst werden. Compliance legt hinsichtlich des Erstellens von Therapiezielen und -plänen weniger Wert auf die Gemeinsamkeit. Wer den Vorschlägen des Therapeuten nicht folgt, ist nicht compliant. Er boykottiert die Behandlung, gilt als Störenfried oder Querulant. Diese Sichtweise ist negativ...