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E-Book

Hundert Tage

Die RAF-Chronik 1977

AutorButz Peters
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783426438251
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
1977 erreichte der Linksterrorrismus der Roten Armee Fraktion in der Bundesrepublik eine bislang unbekannte Dimension. Mit den Morden an Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der Entführung des Passagierflugzeugs »Landshut« tritt eine zweite, zu äußerster Brutalität entschlossene Generation der RAF auf den Plan. Zugleich setzt mit den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim die erste Generation einen die Republik erschütternden Schlusspunkt. Vor dem Hintergrund der Entstehung der Terrororganisiation und mit Blick auf die weiteren Anschläge bis zur Selbstauflösung erzählt Butz Peters die dramatischen Ereignisse des Schlüsseljahres 1977. Die packende Geschichte, die Butz Peters in diesem Buch erzählt, endet nicht mit dem Jahr 1977, sondern reicht bis in unsere Zeit hinein: Erst im Lauf der Jahrzehnte stellte sich heraus, was damals tatsächlich geschah. Die juristische Aufarbeitung des komplexen Tatgeschehens beschäftigt seit vierzig Jahren die Justiz, und noch nie war die Quellenlage so gut wie heute. Grundlage für dieses Buch sind Gespräche mit Zeitzeugen und Dokumente: Gerichtsurteile, Erklärungen von RAF-Mitgliedern und -Aussteigern, Vernehmungsprotokolle, polizeiliche Ermittlungsberichte, Anklageschriften, Erklärungen in Prozessen von Angeklagten und Zeugen sowie Publikationen. Auch die RAF-Stasi-Verbindung ab Ende Juli 1980 wird durchleuchtet. Aus vielen Mosaiksteinen ergibt sich so ein genaues Bild der Ereignisse von 1977, die die Geschichte der Bundesrepublik bis heute prägen.

Butz Peters, geboren 1958, ist Publizist und Rechtsanwalt und einer der führenden Experten zur Geschichte der Roten Armee Fraktion. Er war Leiter des Ressorts Rechtspolitik beim NDR, Moderator der Sendung »Aktenzeichen XY ... ungelöst« und schrieb drei Bestseller über die RAF. Nun hat er für das Porträt des deutschen Schicksalsjahres 1977 mit Zeitzeugen gesprochen und Zehntausende Seiten Quellenmaterial, teilweise erst seit Kurzem zugänglich, ausgewertet.

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Leseprobe

Donnerstag, 14. April


In Bonn erklärt BKA-Chef Horst Herold im Bundeshaus in einer gemeinsamen Sitzung des Innen- und des Rechtsausschusses: »Es wird noch weitere Opfer geben.« Welche Etage angegriffen werde, ergebe sich mit hinreichender Deutlichkeit aus Papieren von Andreas Baader. Dort hieße es: »Die politischen, ökonomischen und exekutiven Funktionäre dieses Staates gezielt anzugreifen. Was darunter zu verstehen ist, ist spätestens seit dem Tod des Generalbundesanwalts offenkundig geworden.«

In Hamburg bekommt Der Spiegel Post von der RAF: Beim Pförtner des »Glasturms« an der Brandstwiete liefert ein Briefträger das Selbstbezichtigungsschreiben zum Mord an Generalbundesanwalt und seinen Begleitern ab. Die erste Erklärung der RAF im Jahr 1977. Der Umschlag enthält fünf DIN-A4-Seiten. Auf dem Titelblatt ist das RAF-Logo, elf Zentimeter groß: ein fünfzackiger Stern mit Maschinenpistole und den Buchstaben »RAF«. Es folgen drei Seiten Selbstbezichtigung. Fünfte Seite ist eine Fotokopie des Mietvertrages für die Suzuki, unterschrieben mit »Hans-Dieter Götz«. Im Kleingedruckten steht: »Der Mieter haftet für alle Polizeistrafen während seiner Mietzeit«. Die Kopie ist der Authentizitätsnachweis der Mörder.

Unterzeichnet ist die Erklärung mit KOMMANDO ULRIKE MEINHOF ROTE ARMEE FRAKTION. Nach palästinensischem Vorbild wählte die RAF für ihre Mordkommandos Namen toter Kampfgenossen: Ulrike Meinhof hatte sich elf Monate zuvor in ihrer Zelle erhängt – Baader & Co. sowie das RAF-Umfeld stellten den Suizid gegenüber der Öffentlichkeit als Staatsmord dar.

Die RAF schickt die fünf Seiten an insgesamt zehn Redaktionen, unter anderem ans ZDF, an die Deutsche Presse-Agentur, die Frankfurter Rundschau und an den Norddeutschen Rundfunk. In den Briefkasten geworfen wurden die Umschläge in Düsseldorf und in Duisburg. In Düsseldorf hatte ein RAF-Bote den Umschlag bei der Deutschen Presse-Agentur in den Hausbriefkasten gesteckt.

Verfasst ist die Erklärung in radikaler Kleinschreibung. Sie beginnt mit dem Satz: »für ›akteure des systems selbst‹ wie buback findet die geschichte immer einen weg.« Dieser erste Satz soll eine Retourkutsche zu einer Äußerung Bubacks in einem Spiegel-Interview sein, ein Jahr zuvor. Auf die Frage, ob es neuer gesetzlicher Regelungen zur Vereinfachung der Arbeit seiner Behörde bedürfe, auch bei der Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt, hatte Buback geantwortet: »In der Praxis finden wir da immer einen Weg. Zwischen Herrn Herold, dem BKA-Chef, und mir funktioniert die Zusammenarbeit reibungslos. Da brauchen wir keine Zuständigkeitsregelung. Der Staatsschutz lebt davon, dass er von Leuten wahrgenommen wird, die sich dafür engagieren. Und Leute, die sich dafür engagieren, wie Herold und ich, die finden immer einen Weg. Wenn Sie eine gesetzliche Regelung haben und sie mal strapazieren müssen, funktioniert sie ja meistens doch nicht.«

Bubacks Botschaft war klar: Wir brauchen keine neuen Rechtsvorschriften. Im linken Spektrum war der Satz von vielen bewusst missinterpretiert worden: Die engagierten »Staatsschutzzwillinge« Buback und Herold machen sowieso, was sie wollen, auch ohne gesetzliche Regelung.

Zweiter Satz der RAF-Erklärung ist das Mordgeständnis: »am 7.4.77 hat das KOMMANDO ULRIKE MEINHOF generalbundesanwalt siegfried buback hingerichtet.« Georg Wurster und Wolfgang Göbel erwähnt die RAF nicht.

Dritter Satz ist die Begründung für die Morde: »buback war direkt verantwortlich für die ermordung von holger meins, hausner und ulrike meinhof.« Er habe »in seiner funktion als generalbundesanwalt – als zentrale schalt- und koordinationsstelle zwischen justiz und den westdeutschen nachrichtendiensten in enger kooperation mit der cia und dem nato-security-comitee – ihre ermordung inszeniert und geleitet«.

Die Ermordung Bubacks »begründet« die RAF mit dem Tod von drei RAF-Häftlingen: Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof.

Über Holger Meins behauptet die RAF, »unter bubacks regie« sei er am 9. November 1974 unter anderem »durch systematische unterernährung … gezielt ermordet worden.« Das stimmt nicht, weil sich Meins beim dritten RAF-Hungerstreik zu Tode gehungert hatte: Seit dem 13. September 1974 weigerte er sich zu essen. Nach fast zwei Monaten wog der 1,83-Meter-Mann noch ganze vierzig Kilo.

Über Siegfried Hausner behauptet die RAF, »unter bubacks regie« sei er »am 4.5.75 ermordet« worden: »während er unter der ausschließlichen verfügungsgewalt der bundesanwaltschaft und des bka stand, wurde seine auslieferung in die brd und der lebensgefährliche transport in das gefängnis von stuttgart-stammheim durchgeführt, was seinen sicheren tod bedeutete.«

Hausner war Leiter und zugleich »Sprengmeister« des sechsköpfigen RAF-»Kommandos Holger Meins«: Im April 1975 hatte es die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm überfallen, dreizehn Botschaftsmitarbeiter als Geiseln genommen und verlangt, sechsundzwanzig Gesinnungsgenossen aus deutschen Gefängnissen freizulassen. Um seine Forderung zu unterstreichen, erschoss das Kommando zwei Geiseln: die Attachés Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart.

In der Botschaft der dritten – obersten – Etage hatte Hausner Sprengladungen angebracht und verdrahtet. Alles explodiert eine Viertelstunde vor Mitternacht. Die Botschaft steht in Flammen. Hausner wird schwer verletzt: Vierzig Prozent seiner Haut sind verbrannt. Keine vierundzwanzig Stunden später schiebt ihn die schwedische Regierung ab, im Flugzeug nach Köln-Wahn. Die Schweden wollen die RAF-Neueinsteiger keine Sekunde länger im Land haben als unvermeidlich.

Hausner kommt in die intensiv-medizinische Abteilung nach Stuttgart-Stammheim; eingerichtet worden war sie, um Baader & Co. bei Hungerstreiks künstlich ernähren zu können. Hausners Verbrennungen sind so schwer, dass er nicht gerettet werden kann. Zehn Tage nach der Explosion stirbt er in Stammheim. Buback hatte – entgegen der Behauptung seiner Mörder – mit Hausners Tod nichts zu tun: Hausner starb einzig und allein deshalb, weil er Sprengladungen in der deutschen Botschaft angebracht hatte, die explodierten und bei ihm schwerste Verbrennungen verursachten.

Und schließlich sei »unter bubacks regie« Ulrike Meinhof »am 9.5.76 in einer aktion des staatsschutzes exekutiert« worden, schreibt die RAF, »ihr tod wurde als selbstmord inszeniert, um die sinnlosigkeit der politik, für die ulrike meinhof gekämpft hat, zu demonstrieren«. Die Wahrheit: Ulrike Meinhof, Mutter von Zwillingsmädchen, mittlerweile waren sie dreizehn und Meinhof saß seit vier Jahren in Haft, hatte sich am Muttertag 1976 in ihrer Zelle in Stammheim erhängt, weil sie von Baader und vor allem von dessen Freundin Gudrun Ensslin drangsaliert – vulgo heute: »gemobbt« – worden war: Mit großer Hingabe und perfider Häme zerpflückte Ensslin, ihr Berufswunsch war »Journalistin« gewesen, die Texte der einst republikweit bekannten konkret-Chefredakteurin.

Aus Kassibern wisse er, berichtet Peter-Jürgen Boock, dass bei den Auseinandersetzungen zwischen Meinhof und Ensslin »Andreas Baader den ›Schiedsrichter‹ gespielt« habe: »Da er meistens zugunsten von Ensslin entschied, hatte diese eine dominante Stellung.«

So saß im Frühjahr 1976 Ulrike Meinhof isoliert auf der siebten Etage in Stammheim – Baader und Ensslin beschimpften und schnitten sie. Mitunter machte Raspe mit. Auch Meinhofs Tod hatte mit Bubacks Wirken nicht das Geringste zu tun.

Für die Stammheimer Häftlinge stand außer Frage, dass Ulrike Meinhof Selbstmord verübt hatte. Aber nach außen, gegenüber den »Legalen«, also Unterstützern, und dem Umfeld, wurde aus Stammheim die Mordthese befeuert, beispielsweise durch Erklärungen im laufenden Gerichtsverfahren. »Es war eine kalt konzipierte Hinrichtung«, verkündete zwei Tage nach dem Freitod Jan-Carl Raspe in Stammheim, weil »Ulrike eine wesentliche ideologische Funktion hatte«. Mit dieser Behauptung zieht das RAF-Umfeld durch die Städte und liefert sich mit der Polizei blutige Straßenschlachten. Am schlimmsten tobt der Kampf in Frankfurt. »Ulrike Meinhof: In Stammheim hingerichtet« steht auf einem Transparent. In der Nähe des Goetheplatzes versucht die Polizei, eine verbotene Demonstration aufzulösen. Wasserwerfer spritzen, Schlagstöcke knüppeln, Steine fliegen, Tränengasschwaden hängen in der Luft. Ein Molotowcocktail landet in einem weißen Polizei-Opel-Rekord. Ein Polizist steht in Flammen. Hemd und Hose brennen. Er schreit wie am Spieß. Siebzig Prozent seiner Haut verbrennen. Bei der Suche nach den Brandstiftern kommt Fernsehfahnder Eduard Zimmermann zu Hilfe. Einer der Gesuchten – mit großer Brille, langem Haar und kurzem Bart – ist »der 28-jährige Joseph Martin Fischer«. Gleich nach der Sendung wird er verhaftet. Aber ihm ist nichts nachzuweisen. Nach drei Tagen kommt er wieder auf freien Fuß. Später wird er als »Joschka« bekannt, Außenminister und Vizekanzler der Republik.

Der Mythos vom »Staatsmord an Ulrike« in Stammheim wurde von Baader & Co. gehegt und gepflegt. Für sie war Meinhofs Tod ein wichtiger Mobilisierungsfaktor. Nach Meinhofs Tod las Peter-Jürgen Boock in einem Kassiber aus der siebten Etage, sinngemäß: »Es war das Beste, was sie mit ihrem verkorksten Leben noch machen konnte.«

In Begründung und Diktion erfolgt dieses erste Schreiben der neuen RAF-Generation im Jahr 1977 dem Selbstbezichtigungsschreiben der ersten RAF-Generation nach dem Anschlag auf Bundesrichter Buddenberg: Im Mai 1972 hatte eine Bombe den VW Käfer des Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof zerfetzt – zuständig war er für...

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