Südwärts
Die alte Abfertigungshalle des Flughafens Berlin-Schönefeld versprüht den Charme einer emaillierten Blechdose. Vor dem Gate Geschäftsreisende mit Laptop, junge Frauen, deren Handy am Ohr zu kleben scheint, ein korpulentes Ehepaar mit unentwegt essender Tochter, allein reisende ältere Damen, die ihre Bordkarte festhalten, als sei es die Eintrittskarte für eine Märchenstunde aus Tausendundeiner Nacht, und coole junge Männer, die so tun, als sei eine Reise nach Kairo für sie so etwas von normal, dass man sich dafür nicht einmal das Hemd in die Hose zu stecken braucht. Flug und Urlaub all-inclusive im Orient ist eben manchmal preiswerter und einfacher zu organisieren als ein Wochenende mit Frühstück auf Rügen.
Ein junger Mann fällt uns auf. Etwa dreißig Jahre alt, weißes Strickkäppi, flusiger Kinnbart, Daunenweste über dem arabischen Männerkleid, darunter schwarze Hosen, die über den Knöcheln enden, weiße Nike-Socken und Turnschuhe. Kleidung, wie sie islamische Fundamentalisten tragen, die gern so leben und aussehen möchten, wie sie vermuten, dass es zu Zeiten des Propheten Mohammed in Mekka und Medina Mode war – gleichzeitig aber nicht auf luftgepolsterte Sohlen und Smartphone mit Koran-App verzichten mögen. Der muslimische Bruder blickt auf das Kompass-Feature seines Handys, justiert die Mekka-Richtung, zieht seine Daunenjacke aus, holt einen Gebetsteppich aus seinem Rucksack und rollt ihn hinter einer Säule aus. Er streift seine Turnschuhe ab und beginnt ein Gebet. Verbeugen, niederknien, niederwerfen, bis die Stirn den Boden berührt, usw. Die übrigen Reisenden schauen befremdet zur Seite. Niemand beschwert sich über die Demonstration, denn nichts anderes ist es.
Minuten später steigen wir ins Flugzeug, und der gläubige Mann nimmt in der ersten Klasse der Boeing 737-800 der EgyptAir Platz. Vor dem Start wird über das Bord-TV ein Koranvers rezitiert. Nach den Sicherheitshinweisen begrüßt der Pilot seine Gäste, gibt Informationen zum Flug und beendet seine Ansprache mit der Formel Inschallah, »So Gott will«. Unsere islamische Reise hat begonnen.
Mit Gottes Hilfe und der amerikanischer Luftfahrttechnik starten wir Richtung Süden und landen um 19.30 Uhr Ortszeit in Kairo, bevor es mit dem Anschlussflug weiter nach Luxor geht. Der junge Mann im Salafistenkostüm fällt hier nicht mehr auf. Männer mit Turbanen, bodenlangen Kaftanen, Strickkäppis und Hochwasserhosen sind in der Mehrheit, und die deutschen Touristen in T-Shirts und Funktionskleidung sind die Exoten. Vor uns an der Passkontrolle im Transitbereich stehen zwei junge deutsche Frauen. Sie tragen kurze Röcke, enge Blusen, offenes lockiges Haar, die Sonnenbrille ins Haar gesteckt. Die Beamten freuen sich über diesen Anblick, kontrollieren ausführlich die Pässe, und der eine sagt zu seinem Kollegen auf Arabisch: »Die würde ich gerne mal durchsuchen …«, und deutet mit dem Kopf in Richtung der Kabine hinter ihm. Die Frauen verstehen ihn nicht und lächeln. Er gibt ihnen ihren Pass zurück und winkt sie mit einer Handbewegung durch. Danach sind wir an der Reihe und dürfen auch passieren. Wir fliegen gen Süden.
Unsere Nilfahrt-Reisegruppe sammelt sich am Gepäckband in Luxor. Eine Frau mit ihrer erwachsenen Tochter, zwei Freundinnen, zwei ältere Ehepaare, ein Mann, eine Frau, allein reisend, und wir. Von den zwölf Koffern fehlen vier. Sie sind in Kairo geblieben. Die fehlenden Koffer werden das Topthema der Tischgespräche in den nächsten Tagen sein. Das Gepäck taucht am nächsten Tag wieder auf, aber das Wort »Koffer« ist von da an ein Stichwort, anhand dessen sich Geschichten, ja Lebensläufe erzählen lassen: Leben voller Verspätungen, Verluste, Verwechslungen, Enttäuschungen, Irrtümer und glücklicher Fügungen.
Die »King Tut I« liegt im Päckchen mit mehreren anderen Hotelschiffen an einer Hotelpier am Nil. Vorn die Stadt mit ihren staubigen Straßen, dem lärmenden Verkehr, dann der vielstöckige Häuserblock – ein Hotel aus den siebziger oder achtziger Jahren –, der die Stadt gegen den Fluss abschirmt. Ein moderner Zweckbau, dessen Lobbys und Foyers Großzügigkeit und eine Pracht verbreiten, die sich dann auf den Etagen und in den Zimmern verliert.
Die großen Nilkreuzfahrtschiffe haben alle denselben Bauplan. Eine Größe, fünf Decks, davon drei mit Außenkabinen, eins mit Speise- und Musiksaal, ganz oben das Sonnendeck mit Bar und Pool. Äußerlich elegant wie eine Ansammlung von Containern, aber da es auf dem Nil weder Wellen noch wirklich Wind gibt, kann man mit diesen schwimmenden Schrankwänden bequem den Fluss auf- und abschippern. Es gibt kleinere, ältere, schönere Schiffe und historische, mit denen schon Agatha Christie auf dem Nil unterwegs war, oder alte Segelboote für ein Dutzend Passagiere. Aber unsere Kreuzfahrt ist ein »Schnäppchen« und entsprechend praktisch und rechteckig das Gefährt.
Im Dezember 2011 wollen sich trotz Sparpreis nur eine Handvoll Menschen die ägyptischen Altertümer ansehen. Unser Schiff ist nur zu einem Drittel besetzt und zudem eines der wenigen, das überhaupt verkehrt. Die meisten der über 300 Nilkreuzfahrtschiffe liegen leer, vertäut zu fünft oder sechst abseits der Piers. Die Köche, Kellner, Reiseleiter sind arbeitslos und warten ohne Heuer in Kairo oder Luxor auf einen Anruf. Frauen arbeiten auf diesen Schiffen grundsätzlich nicht. Als ich nachfrage, sagt man mir, Frauen hätten grundsätzlich auf Schiffen nichts zu suchen und außerdem sei es unter Deck zu eng für die Damen. Die Probleme der Reedereien haben schon im Frühjahr 2011 begonnen; der Aufstand in Kairo hat die Touristen verunsichert, das deutsche Außenministerium rät zur Vorsicht.
Zur Vorsicht rät auch der ägyptische Reiseleiter, als wir uns am nächsten Tag vor der ersten Besichtigung von Altertümern die Stadt Luxor ansehen wollen. Er warnt vor seinen Landsleuten, die seien wie Fliegen, und wenn sie einmal Geld gerochen haben, könne man sie nicht abschütteln, deshalb würde man sie auch »fliegende Händler« nennen. Da lacht der Pauschalreisende. Der soziale Unterschied könnte nicht größer sein zwischen uns All-inclusive-Reisenden und der Bevölkerung. Eine siebentägige Nilkreuzfahrt kostet im Dezember pro Person kaum 500 Euro, ein Preis, bei dem man nicht weiß, ob nach Abzug der Kosten für Flug, Eintrittsgelder, Vollpension und Provisionen bei den Matrosen, Köchen und Kellnern überhaupt etwas ankommt oder ob sie bei freier Logis letztlich nicht nur von den Trinkgeldern der Gäste leben. Die Mehrzahl der Ägypter hat etwa zwei Euro am Tag zur Verfügung.
Wir wollen in Luxor nicht nur etwas über die Vergangenheit, die »alten Ägypter«, erfahren, sondern auch das junge Ägypten erleben und sehen, ob etwas von dem, was man den »Arabischen Frühling« nennt, in diesem Winter zu spüren ist. Die Reiseleiter wiegen bedenklich den Kopf, als wir das Hotelgelände verlassen, sagen, wir sollten auf keinen Fall allein zum Geldautomaten gehen, überreden uns schließlich, eine Fahrt mit der Kutsche zu unternehmen, da würden wir in einer Stunde die wichtigsten Orte in der Stadt und auch den Basar sehen können. Nun, man muss manche Dinge im Leben einfach einmal gemacht haben, um zu wissen, dass man es nicht braucht. Brausepulver mit Spucke, zu viel Buttercremetorte, eine Fahrt mit der Geisterbahn oder eben eine Kutschfahrt durch Luxor. Aber das weiß man meist erst hinterher.
Der Kutscher ist nach eigener Aussage fünfzehn, lustig und sehr stämmig für sein Alter, trägt wie alle Männer hier eine Djebella. Seine Kalesche mit Verdeck ist schwarz lackiert und wird von einem mageren Gaul gezogen. Wir sitzen hinter ihm, er schwingt die Peitsche, und es geht los. Abseits der Uferstraße sind die Straßen nicht mehr asphaltiert, es gibt keine Bürgersteige, und Straßen wie Häuser machen den Eindruck, als befänden sie sich seit längerer Zeit in Auflösung oder seien nie fertig gebaut worden. Manche Häuser sind drei oder fünf Stockwerke hoch, aber nur die unteren beiden sind mit Fenstern versehen und verputzt, manche auch angestrichen. Zwischen Balkonen sind Leinen gespannt, an denen die Wäsche hängt. Geregnet hat es hier schon lange nicht mehr, und die Fahrzeuge und der Wind wirbeln den Staub durch die Straßen.
Die Menschen tragen überwiegend traditionelle Kleidung, die bodenlangen Hemden, manche Turban oder Überwürfe. Alle Frauen sind verschleiert, manche mit dem schwarzen Niqab, der die Gestalt vollkommen verhüllt und nur zwei Schlitze für die Augen frei lässt. Man sieht Gruppen von Frauen in diesen schwarzen Zelten, die auch einen Gesichtsschleier tragen und von einer Art Blindenführerin geleitet werden. Eine so verhüllte Frau steht am Straßenrand und hat ein kleines Mädchen an der Hand. Das trägt ein rosafarbenes Kleid, Schnallenschuhe, zwei freche Zöpfe und hüpft aufgeregt von einem Bein auf das andere. Die beiden wollen auf einen Spielplatz auf der anderen Straßenseite. Der Spielplatz ist Teil eines Vergnügungszentrums, das aus einem Freilicht-Hochzeitssaal mit Bühne, einer Teestube und drei Spielgeräten auf betoniertem Grund besteht, einer Schaukel, einem Karussell und einer Wippe. Ein eingezäuntes Betonviereck von vielleicht hundert Quadratmetern mit einem Pförtner, drei Spielgeräten für zwanzig Kinder und auf den Bänken die verschleierten Mütter, die ihre Töchter fest im Blick haben. Mädchenfreizeit in Luxor.
Nach zehn Minuten Fahrt biegen wir in den Basar ein. Die angekündigte Attraktion stellt sich als eine schmale Straße heraus. In jedem Haus ein Händler, der vor seinem Laden die Waren auf dem Boden...