Hyperaktivität, innere Welt und kultureller Wandel
Bernd Ahrbeck
„Je falscher die Richtung, desto sinnloser das Tempo.“
K. Modick
Einleitung
Unaufmerksame, motorisch unruhige und impulsive Kinder erzeugen seit vielen Jahren Probleme, die sich mit alltäglicher Erziehung im Elternhaus und gängigen Konzepten professioneller Pädagogik nicht mehr lösen lassen. Davon zeugt die massive Zunahme diagnostizierter Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen und auch die damit verbundene fokussierte Aufmerksamkeit, mit der Eltern, Lehrer und Ärzte diesem vielfach beklagten Phänomen begegnen. „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) oder „Hyperkinetische Störung“ (HKS) – so lauten die gern genutzten und oft erleichtert aufgenommenen Diagnosen, die von den international verbreiteten Klassifikationsschemata angeboten werden.
Die hyperkinetische Störung (ICD-10) bzw. die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (DSM-IV) ist definiert durch einen Mangel an Ausdauer bei kognitiv fordernden Aufgaben, eine leichte Ablenkbarkeit, eine starke, nur schwer steuerbare Impulsivität sowie überschießende Aktivität (Hypermotorik). Störungen des Sozialverhaltens und ein oppositionelles Verhalten gegenüber Autoritäten kommen hinzu. Zweifelsfrei gehört sie zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen, wobei die Angaben bei starken Steigerungsraten erheblich schwanken. Eine Metaanalyse von Angold, Costello & Erkanli, die allerdings bereits aus dem Jahr 1999 stammt, ergibt einen Durchschnittswert von 3,3 %. Die „American Psychiatric Assoziation“ (APA, 2000) geht von einer Prävalenzrate von 5 % aus, das „Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung“ (BMGS, 2002) von 2–6 %. Andere Angaben liegen erheblich höher, sie reichen in Deutschland nach DSM-IV bis zu einer Rate von 15,86 % (Riedesser 2006, 112). Inzwischen findet das Störungsbild auch im Erwachsenenalter zunehmende Beachtung (Schäfer & Rüther 2005).
Die medikamentöse Behandlung ist weit verbreitet: „80 Millionen Kinder werden weltweit, so aktuelle Schätzungen, mit Amphetaminen behandelt, …. 400.000 davon in Deutschland“ (Leuzinger-Bohleber 2006, 11). Nach Barbaresie et al. (2002) bekommen 86 % der einschlägig diagnostizierten Kinder Stimulanzien. Amft (2004; 2006) berichtet für Deutschland über eine extreme Steigerung der Ritalin®-Verschreibung in den letzten zwei Jahrzehnten. Sie fällt selbst dann noch dramatisch aus, falls Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine medikamentöse Unterversorgung vorgelegen haben sollte.
Der Mainstream der Hyperaktivitätsforschung ist sich darin einig, dass primär hirnorganische Faktoren für diese Störungsbilder verantwortlich sind, die heute in besonderen neuronalen Netzwerken und synaptischen Verschaltungen gesehen werden.
Umwelteinflüsse, sog. exogene Risikofaktoren, sind demnach von sekundärer Bedeutung, sie treten nur als verstärkende Bedingungen in Erscheinung (Wender 2002; Amft 2004; Pschyrembel 2004; ZEIT-Lexikon 2005). Das hirnorganische Verursachungsmodell blickt auf eine lange Tradition zurück: Mit wechselnden Inhalten und der gleich bleibenden Überzeugung, den Kern der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen in dem jeweils aktuellen biologischen Modell gefunden zu haben. Neben der Vererbungshypothese waren es zunächst prä-, peri- oder postnatale Verletzungen des Gehirns, die als Krankheitsursache galten, dann Minimale Cerebrale Dysfunktionen (MCD), zuletzt Auffälligkeiten des Zentralen Nervensystems im Bereich des Frontalhirns und tiefer liegender subkortikaler Schichten. Ein vornehmlich genetisch bedingter Neurotransmittermangel im Gehirn der Betroffenen gilt gegenwärtig als die entscheidende Größe. Bei einer historischen Betrachtung fällt auf, wie hartnäckig die einzelnen Verursachungsmodelle auch dann noch verteidigt wurden, wenn ihr wissenschaftlicher Gehalt längst das Verfallsdatum überschritten hatte (Ahrbeck & Henning 2004; Henning 2004).
Das hirnorganische Defizitmodell gilt auch gegenwärtig so sehr als ultima ratio, dass der Vorstand der Bundesärztekammer (2006, 42) kurz und bündig erklärt: „Die Behandlung stützt sich im Wesentlichen auf drei Maßnahmenbündel: Psychoedukation, Verhaltenstherapie und die medikamentöse Behandlung.“1 Psychoedukation meint in erster Linie die Aufklärung über das Krankheitsbild und seine Behandlung. Verhaltenstherapie soll ausdrücklich als direkte Intervention unter Verwendung operanter Techniken durchgeführt werden. Und bei den Medikamenten gelten „Stimulanzien aufgrund ihrer erwiesenen Wirksamkeit [als Mittel] der ersten Wahl“. Psychodynamische Interventionen sind als nicht-evidenzbasierte Methoden, „… in der Behandlung der Primärsymptome nicht indiziert“ (Vorstand der Bundesärztekammer 2006, 42f). Sie werden zu den „alternativen Ansätzen“ gezählt und in eine Reihe mit der Bachblütentherapie gestellt.
Die darin enthaltene Trivialisierung der seelischen Situation hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder und Jugendlicher ist unübersehbar. Was interessiert, sind symptomatische Veränderungen, die ein äußerst privilegiertes Eigenleben genießen. Symptome werden als Ärgernisse verstanden, die schnellstmöglich beseitigt werden müssen. Ein Medikamenteneinsatz – daran lassen die Autoren keinen Zweifel – soll bereits dann erfolgen, wenn „eine psychoedukative und psychotherapeutische Hilfe … innerhalb der Frist einiger Wochen nicht hilfreich war“ (Vorstand der Bundesärztekammer 2006, 42), wobei mit Psychotherapie Verhaltentherapie gemeint ist. Dass Symptome der Ausdruck unverstandener kindlicher Not und einer ungelösten inneren Konflikthaftigkeit sein können, steht außerhalb des Kalküls. Ebenso wie Fragen, die dem komplizierten Verhältnis von Symptombildung und inneren Problemlagen nachgehen. Dazu hat das innere Leben der Kinder und Jugendlichen zu grundlegend an Wert und Bedeutung verloren. Und zugleich das Bemühen, sich Kindern in ihren inneren Nöten zu nähern.
Gemessen an der Gesamtzahl wissenschaftlicher Publikationen werden nur vergleichsweise selten Zweifel an der Sinnhaftigkeit organischer Verursachungstheorien laut. Insbesondere psychoanalytische Beiträge zu ADHS und HKS sind ein Randphänomen geblieben. Daran haben bisher auch die größeren Schriften der letzten Jahre von Passolt (2001), Amft, Gerspach & Mattner (2004), Bovensiepen, Hopf & Molitor (2004), Leuzinger-Bohleber, Brandl & Hüther (2006) nur begrenzt etwas ändern können. Einschlägig relevante kulturtheoretische Überlegungen nimmt der Mainstream der ADHS-Forschung nur in wenigen Ausnahmefällen zur Kenntnis. Beides ist angesichts der bestehenden Forschungslücken durchaus erstaunlich: Die Gruppe der als hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört geltenden Kinder und Jugendlichen erweist sich als äußerst heterogen und ätiologische Fragen sind von einer abschließenden wissenschaftlichen Klärung weit entfernt (von Lüpke 2001, 2004; Riedesser 2006). Dazu trägt bei, dass sich die alten organischen Verursachungstheorien aufgrund neuer Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Vieles spricht inzwischen dafür, dass der ehemals starre Gegensatz zwischen Natur und Kultur durch ein Ergänzungsverhältnis ersetzt werden muss. Die Hirnentwicklung hängt nämlich, wie sich gezeigt hat, wesentlich von den Anregungen der frühen Umwelt ab, das heißt vor allem von Bindungs- und Beziehungserfahrungen. Insofern müssen auch die Folgen des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in den Blick geraten, der sich in den letzten Jahrzehnten eingestellt hat.
Kultureller Wandel und veränderte Lebensrealitäten
Selbst wenn man gewisse modische Tendenzen und zeittypische diagnostische Präferenzen einrechnet und viele Diagnosen voreilig oder gar leichtfertig gestellt werden mögen, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen sind zu einem Leitthema des Kindseins geworden. Sie verweisen auf gravierende Entwicklungsprobleme, die seit vielen Jahren bei einer bemerkenswerten Anzahl von Kindern und Jugendlichen anzutreffen sind. Da von einer radikalen Veränderung der hirnorganisch vorgegeben Grundstruktur nicht ernsthaft ausgegangen werden kann, liegt es auf der Hand, dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen und den Konsequenzen, die sich daraus für das Leben des Einzelnen ergeben, genauer nachzugehen. Dabei werden im Folgenden primär jene Entwicklungen in den Blick genommen, die als Neuerungen die letzten zwei Jahrzehnte bestimmt haben. Also denjenigen Zeitraum, der sich annäherungsweise mit der Vervielfachung der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsdefizitdiagnosen bzw. der verstärkten Beachtung dieses Phänomens deckt. Das Interesse gilt dabei vor allem der Beschleunigung der Lebensverhältnisse, dem damit verbundenen Abschied von Beständigem und sicherndem Halt, den sozialen und psychischen Folgen neuer Kommunikationsmittel und insbesondere einer kulturellen Entwicklung, die zunehmend erregenden Sensationen einen bevorzugten Platz einräumt.
Die Veränderungsprozesse der letzten Zeit werden gemeinhin im Übergang zu einer „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) gesehen, die ein gesteigertes Lebensrisiko (Beck 1986) beinhaltet, das sich aus der Schwächung institutionalisierter Absicherungssysteme ergibt. Der Einzelne ist dadurch aufgefordert und zugleich gezwungen, eigene Wege zu finden. Seine Suche danach kann gelingen oder auch scheitern. Er steht deshalb verstärkt unter psychischem Druck, muss sich immer wieder seiner selbst vergewissern und ist vor folgenschweren...