Kapitel 2 Das Märchen vom deutschen Blut
Werfen wir einmal einen Blick ins Geschichtsbuch. Im Jahre 9 nach Christi Geburt kam es zu einem für die Geschichte der Deutschen entscheidenden Ereignis. Im Teutoburger Wald schlug ein Heer deutscher Stämme eine – wie es auf den ersten Blick schien – übermächtige Streitmacht. Drei römische Legionen, mehr als 15000 Soldaten, wurden während des tagelangen Gemetzels im strömenden Regen Germaniens fast völlig zerrieben. Am Ende nahm sich der Feldherr Publius Quinctilius Varus das Leben. Zu sehr hatte ihn die Niederlage gedemütigt. Und Rom hatte endgültig die Nase voll von den Germanen. Folglich gaben sie ihre Ambitionen auf, das Reich im Norden zu erweitern. Sie bauten eine große Holzmauer – den sogenannten Limes – und wollten in Zukunft einfach nur noch ihre Ruhe haben. Die Schlacht im Teutoburger Wald geriet später zum Gründungsmythos eines geeinten Deutschlands. Zum Gründervater erklärt wurde Hermann der Cherusker, der Anführer der germanischen Horden. Eigentlich hieß der Mann Arminius, aber Hermann klang irgendwie deutscher, weshalb er viele Jahre nach seinem Tod einfach umgetauft wurde. Da hatte der zur Zeit der Schlacht fünfundzwanzigjährige Jungspund bereits in die Weltliteratur Einzug gehalten. Tacitus, der große römische Schriftsteller, hatte ihn zum Befreier Germaniens erklärt. Später machten die teutonischen Nachfahren daraus kurzerhand den »Befreier Deutschlands«.
Hermann, alias Arminius, ist aber noch aus einem weiteren Grund für uns von Interesse. Denn Hermann war zwar ein Spross aus germanischem Adel. Zugleich besaß er das römische Bürgerrecht. Mit anderen Worten: Die mythische Gründerfigur Deutschlands hatte die doppelte Staatsbürgerschaft. Arminius oder Hermann war quasi der erste Deutsche und gleichzeitig noch der erste Deutsche mit einem Doppelpass. Doch damit nicht genug: Er war auf seinen römischen Pass sogar stolz.
In der Zeit, als die rot-grüne Regierung für das neue Staatsbürgerschaftsrecht stritt, musste ich oft an Hermann denken. Damals gab es heftigsten Widerstand gegen die zentrale Reform der neuen Bundesregierung. Denn es ging ans Eingemachte, um die Frage, ob Deutscher nur sein konnte, in dessen Adern »deutsches« Blut floss. Ich hörte von Hermann zum ersten Mal in der Schule. Aber es ging nur um die Bedeutung der Schlacht für die deutsche Geschichte. Das reichte mir nicht aus. Ich wollte damals mehr über den Mann wissen. Mich interessierte, wie er es geschafft hatte, einen zerstrittenen Haufen von ganz unterschiedlichen Stämmen zusammenzuführen und so stark zu machen, dass sie gegen das ruhmreiche römische Heer antreten konnten und es schließlich sogar besiegten. Es kam mir auf die Details an.
So wurde ich zu einem Stammgast in der Spandauer Stadtbibliothek. Ich sehe noch den Lesesaal vor mir, der mir als kleinem Jungen riesig vorkam. In der Erinnerung tauchen die Bibliothekare auf, wie sie mir die bestellten Bücher brachten oder mir andere empfahlen. Oft blieb ich bis spätabends dort, ohne zu bemerken, dass die Öffnungszeit schon wieder vorbei war. Im Winter war es dann bereits stockfinster, wenn ich aus dem Gebäude ging. Aus den lichten Regionen des Wissens trat ich hinaus ins Dunkel der Wirklichkeit. Das Neubaugebiet Heerstraße Nord galt damals – wie heute – als sozialer Brennpunkt. Ständig kam es zu Randalen, zu Streitigkeiten unter Gangs oder Schlägereien, manchmal sogar Messerstechereien. An den Straßenecken lungerten ziemlich üble Gestalten herum. Noch unheimlicher war es nachts. Ich fürchtete mich damals in den stockdunklen Wegen um die Stadtbibliothek und rannte die meiste Zeit, bis ich bei meinen Eltern im Plattenbau ankam. Trotzdem war ich auch am nächsten Tag wieder in der Bibliothek, nur um abends wieder im Dunkeln verängstigt nach Hause zu sprinten, oft mit einem ganzen Stapel Bücher im Rucksack.
Meine Lieblingsfächer in der Schule waren Geschichte und Erdkunde. In der Oberstufe kam dann Politik dazu.
Besonders hat mich immer fasziniert, wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Landkarte veränderte, wie Länder sich bildeten, ihre Gestalt wandelten und womöglich sogar irgendwann verschwanden. Sehen wir uns daher mal das Gebiet an, das die Römer Germanien nannten. In den Jahrhunderten nach der Varusschlacht lässt sich der Landstrich grob in zwei Regionen teilen. Einmal gibt es das Gebiet, das die Römer erobert hatten und das sie bereit waren zu verteidigen. Dies endete an der Donau und am Main und erstreckte sich längs des Rheins nordwärts. Vor den Römern waren auf das Gebiet bereits Kelten eingewandert, die sich ebenfalls gegen die Germanen im Norden verteidigen mussten. Die kulturelle Trennlinie war also nicht neu. Nur dass die Römer ihre Abschottung etwas strategischer angingen, indem sie gegen die barbarischen Horden einen Grenzwall errichteten. Allerdings war der alles andere als undurchlässig. Immer wieder kam es zu Durchbrüchen durch Kriegertrupps aus dem Norden. Aber viel wichtiger war, dass es ein System des Austauschs gab. Es war durchaus im Interesse der Römer, dass es zu einem regen Grenzhandel kam. So lässt sich auch erklären, wieso der Limes alles andere als ein hochgerüstetes Bollwerk war, sondern auf weiten Strecken nicht viel martialischer aussah als ein besserer Gartenzaun.
Das bedeutet nun aber, dass gut ein Drittel des heutigen Territoriums der Bundesrepublik durch die römische Kultur beeinflusst wurde, dass sich auf diesem Gebiet schon vor zweitausend Jahren südländische Menschen niederließen und das Land zu ihrer Heimat machten. Castra Vetera, Colonia Claudia Ara Agrippinensium, Augusta Treverorum oder Ratisbona etwa waren die Vorläufer unserer heutigen Städte Xanten, Köln, Trier oder Regensburg. Immer noch graben Archäologen dort Geschirr, Waffen oder Müllkippen aus römischer Zeit aus. Zum Glück, muss man heute sagen, hat die römische Kultur Einzug in die Gebiete nördlich der Alpen gehalten. Denn so gelangten die Errungenschaften des hochentwickelten Südens – Schrift, Rechtswesen, Geld, Architektur, Straßenbau – in den unterentwickelten Norden. Wenn wir so wollen, dann sind unsere weltberühmten Autobahnen die konsequente Weiterentwicklung der römischen Straßen, die damals durch Germaniens Wälder gezogen wurden.
Um das Jahr 400 n. Chr. kam es zu den großen Völkerwanderungen in Europa. Im Zentrum dieser massiven Migration stand wieder das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Von der Nordküste des Schwarzen Meers zogen quer über den Kontinent die Goten. Ihre Reise dauerte fünfunddreißig Jahre. Dabei legten sie gut zweitausend Kilometer zurück. Doppelt so viel schafften die Vandalen, die aus Mitteleuropa aufbrachen und zum Teil sogar das Mittelmeer überquerten. Ihre Wanderung fand unter genau den entgegengesetzten Vorzeichen der heutigen Flüchtlinge statt. Gewiss war ihre Überfahrt über das Meer bis in den Norden Afrikas nicht minder lebensgefährlich.
Bis ins Jahr 1945 hat die Geschichtswissenschaft von der Zeit der Völkerwanderungen ein völlig falsches Bild gezeichnet, wie Peter Heather, Professor für mittelalterliche Geschichte am King’s College London, in seinem Buch Invasion der Barbaren schreibt. Man habe sich die Menschenströme wie ein Billardspiel vorgestellt: Eine Kugel wird angestoßen, die andere Kugeln anstößt, und viele weitere bewegen sich anschließend in die unterschiedlichsten Richtungen. Am Ende jedoch bleiben alle Kugeln, wie sie sind. Die ursprünglichen Ethnien bestehen also weiter, nur an einem anderen Ort. Das ist falsch. Vielmehr muss man sich die Völkerwanderung wie einen großen Suppentopf vorstellen. Die Grundsubstanz ist eine klare Brühe, dann wird zum Beispiel ein Kürbissud hineingegossen, anschließend etwas scharfes Öl, Sahne und zum Schluss Kerbel. Die Grundsubstanz ist gleich geblieben, der Charakter, der Geschmack, hat sich komplett verändert.
Das bedeutet: Die Suppe, die wir heute Deutschland nennen, ist nur deswegen so schmackhaft, weil sie aus sehr vielen verschiedenen Zutaten besteht. Oder in den Worten von Peter Heather: »Die Art nationaler Identität, die im Europa des 19. Jahrhunderts propagiert wurde, war ein historisches Konstrukt.«
In deutschen Landen fand diese Konstruktion etappenweise statt, während des Paulskirchen-Parlaments, während der Bismarckjahre, im späteren Kaiserreich und auf besonders unrühmliche Weise während der Nazidiktatur. Das Deutschland-Bild, das dabei entstand, entsprach dem Wunschdenken der Zeitgenossen, hatte mit der historischen Wirklichkeit aber nicht viel zu tun. »Das Nationalgefühl des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lässt sich nicht auf die ferne Vergangenheit übertragen«, so Heather.
Tatsächlich war das Gebiet der heutigen Bundesrepublik schon in den Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt ein wahrer Durchgangsbahnhof. Kelten, Römer, Germanen, Slawen – vier komplett unterschiedliche Kulturformen also – drängten sich hier, beeinflussten sich, handelten miteinander, heirateten untereinander oder bekämpften sich. Aus dem Norden kamen die Wikinger. Später fielen aus dem Osten die Magyaren ein, auch sie hinterließen ihre Spuren. Aus dem Süden drängten die Sarazenen über Spanien nach Europa. Zwar gelangten sie nicht bis auf das Gebiet des heutigen Deutschlands, aber Teile des Reiches, die unter der Herrschaft des Franken Karls des Großen standen, gerieten durchaus unter ihren Einfluss. Etwa Teile Norditaliens oder Südfrankreichs. Vereinzelt tauchten...