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E-Book

Ich hatte einen Traum

Jugendliche Grenzgänger in Amerika

AutorJuan Pablo Villalobos
VerlagBerenberg Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783946334460
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Ihr Weg führte durch die 'Kühlschränke' - so nennen die Kinder aus Mittelamerika die kargen, klimatisierten Auffangzentren in den USA. Davor lag eine lange, gefährliche Reise, die manche ihrer Gefährten nicht überlebten. Juan Pablo Villalobos hat sie befragt und ihre Geschichten aufgeschrieben. Es sind Kinder aus Guatemala, Honduras und El Salvador, die ganz allein die Reise in das gelobte Land im Norden antraten, getrieben von Gewalt und zerstörten Familien. Sie alle träumten den gleichen Traum von einem Leben in Geborgenheit. Und sie alle haben bereits eine Geschichte, von der manche Erwachsene nicht einmal träumen mögen. Ein nüchternes und doch ergreifendes Stück Literatur vom amerikanischen Kontinent in ­diesen unseren Zeiten.

Juan Pablo Villalobos, geboren 1973 in Guadalajara, Mexiko, studierte Marketing und Literatur und lebt heute in Barcelona. Bei Berenberg erschien seine lose mexikanische Romantrilogie, zuletzt der Band 'Ich verkauf dir einen Hund' (2016).

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Leseprobe

Ich werde ein bisschen schlafen


Im Kühlschrank weißt du nie, wie spät es ist. Nicht mal, ob Tag oder Nacht. Der Kühlschrank ist die Zelle, wo du landest, wenn dich die Grenzpolizei schnappt. Sie heißt Kühlschrank, weil es da drin so kalt ist, und das Einzige, was sie dir geben, ist eine Decke, die aussieht, als wäre sie aus Metall. Es ist so kalt, dass ich Krämpfe in den Beinen kriege, aber das kann auch daran liegen, dass ich die ganze Zeit stehen muss. Als sie mich einsperren, kann ich mich nicht mal setzen oder hinlegen, weil überall schon andere Mädchen schlafen und es keinen Platz mehr gibt.

»He, pass auf, dass du nicht umkippst«, sagt eins der Mädchen zu mir.

»Was?«, frage ich, weil ich nicht ganz verstanden habe und weil ich nicht gesehen habe, welches von den Mädchen das gesagt hat.

Die Zelle ist voll, etwa sechzig bis achtzig Mädchen, alle in meinem Alter oder jünger, sogar ein paar Kinder sind dabei. In diesem Kühlschrank sind wir getrennt, es gibt nur Mädchen, aber ich war auch schon mal in einem, da waren alle gemischt, Männer und Frauen, und da gab es auch keinen Platz, um sich zu setzen oder hinzulegen, es war richtig voll, genau wie hier.

»Deine Augen sind zugefallen, und ich hab gedacht, du schläfst im Stehen«, sagt das Mädchen, das vor meinen Füßen liegt.

Ich reibe mir die Augen, um den Schlaf zu vertreiben, und als sich das Mädchen aufrichtet, nutze ich die Chance, um kurz die Beine zu strecken, vielleicht hören die Krämpfe ja auf.

»Setz dich«, sagt sie.

Ich gehorche, bevor sie es sich anders überlegt. Im Sitzen tut mir der Rücken weh, aber wenigstens können sich meine Beine etwas ausruhen. Ich sitze ihr gegenüber. Sie hat dunkle Haut wie ich, ihr Haar ist zerzaust und schmutzig, weil wir uns hier nicht duschen können, nicht mal richtig waschen. Sie ist etwa so alt wie ich, höchstens fünfzehn.

»Ich habe solchen Hunger, dass ich aufgewacht bin«, sagt sie. »Hast du keinen Hunger?«

Ich sage nein und dass mir der Hunger vergeht, wenn ich Angst habe. Mir fällt auf, dass ich kaum was gegessen habe, seit ich von meinen Großeltern aufgebrochen bin. Ich glaube, die ersten Tage, als wir im Bus unterwegs waren und nicht mal richtige Pausen gemacht haben, habe ich überhaupt nichts gegessen. Und in dem Haus, wo wir darauf gewartet haben, die Grenze zu überqueren, habe ich mir den Magen verdorben, weil ich das mexikanische Essen nicht vertragen habe.

»Weißt du, wann wir was zu essen kriegen?«, fragt das Mädchen.

Ich antworte, dass ich das nicht weiß, dass ich erst seit ein paar Stunden hier bin.

»Haben sie dich gerade erst geschnappt?«, fragt sie.

»Nein, vor zwei Tagen, aber sie haben mich zuerst woanders hingebracht.«

»Was gab es da zu essen?«

»Etwas Milch und einen Apfel«, sage ich.

»Mehr nicht?«

»Nein, morgens, mittags und abends das Gleiche. Das war alles.«

»Hier kriegt jeder ein Sandwich«, sagt sie. »Und einen Saft. Wie alt bist du?«

»Vierzehn«, sage ich.

»Ich auch«, sagt sie.

An ihrer Art zu reden habe ich schon gemerkt, dass sie aus El Salvador kommt, genau wie ich, aber ich glaube, sie ist aus der Hauptstadt.

»Ich heiße Kimberly«, sage ich.

»Aus welcher Ecke kommst du?«, fragt sie.

»Aus Ahuachapán«, sage ich. »Und du?«

»Warum legst du dich nicht etwas hin?«, sagt sie. »Wenn du willst, stehe ich kurz auf, dann kannst du dich ausruhen. Aber nicht zu lange.«

Sie steht auf und macht mir ein Zeichen, dass ich mich hinlegen soll.

»He, du, ich bin dran.«

Ich öffne die Augen und sehe die Decke des Kühlschranks. Das Mädchen hat sich über mich gebeugt und schüttelt mich an den Schultern. Ich setze mich auf, und sie lässt sich neben mir nieder.

»Wie heißt du noch mal?«, fragt sie. »Vor lauter Hunger kann ich mir nichts mehr merken.«

»Kimberly«, sage ich, »aber alle sagen Kim. Du kannst mich gerne Kim nennen. Habe ich lange geschlafen?«

»Keine Ahnung«, sagt sie, »hier verliert man jedes Gefühl für die Zeit, aber ich glaube ja, mir tun jedenfalls schon die Beine weh.«

Wir schweigen, und ich versuche, wach zu werden, um aufstehen zu können. Ich gähne, und mein Kopf dreht sich, als wäre hier drin zu wenig Sauerstoff. Ich bin so müde, dass ich kaum noch weiß, wann ich wach bin und wann ich schlafe. In der ersten Nacht, im anderen Kühlschrank, habe ich überhaupt kein Auge zugetan, später schon, da bin ich immer mal wieder kurz eingenickt.

»Der Kühlschrank, wo ich vorher war, war noch viel schlimmer«, sage ich, um Zeit zu gewinnen – wenn wir weiter reden, kann ich vielleicht noch etwas länger sitzen bleiben. »Wie eine Müllhalde, überall waren Apfelreste, und keiner hat saubergemacht. Die Milchpackungen haben auch alle einfach auf den Boden geschmissen. Außerdem war ich krank, ich hatte mir eine heftige Grippe eingefangen. Nach zwei Tagen haben sie alle aufgerufen, die woanders hinkamen. Sie haben uns in einen Bus gesteckt und hierher gebracht.«

»Glaubst du, sie schicken uns zurück?«, fragt sie.

»Wohin?«

»Ich meine, ob du glaubst, dass sie uns abschieben?«

»Keine Ahnung.«

Ich erzähle ihr nicht, dass ich in der ersten Nacht geweint habe. Ich habe an meine Großeltern gedacht und wollte nach El Salvador zurück. Wenn sie von mir verlangt hätten, die Abschiebung zu unterschreiben, hätte ich das auf der Stelle getan. Seit ich über den Fluss war, musste ich ständig weinen und war richtig traurig und dachte immer nur: Was mache ich hier eigentlich?

»Als wir den Fluss überquert haben, ist ein Mann ins Wasser gefallen«, sage ich zu dem Mädchen. »Wir waren in einem Boot, sie haben uns zur anderen Seite gebracht und gesagt, wir müssen schnell aussteigen und ans Ufer rennen. Und der Mann schaffte es nicht aus dem Boot, obwohl er gar nicht so alt war, und da haben sie ihn über Bord geworfen. Er war klitschnass, und sie haben ihn einfach liegen lassen. Keiner hat ihm geholfen, weil man nicht lange am Ufer bleiben kann. Wir sind losgerannt, sie haben nicht gesagt wohin, da waren Berge, Bäume, es gab keinen Weg, wir mussten uns irgendwie durchschlagen. Es war stockdunkel, keiner hatte eine Taschenlampe oder sonst was dabei, sie haben gesagt, wir dürfen nichts mitnehmen. Wir waren etwa dreißig, auch Schwangere und kleine Kinder, keiner wusste, ob wir jemals wieder aus den Bergen rauskommen. Ein Junge hat geweint. Wir mussten umkehren und einen anderen Weg suchen. Eine Frau hatte eine Flasche Wasser dabei, und ich habe sie gefragt, ob sie mir was abgibt, aber sie wollte nicht. Sie braucht alles für sich selbst, hat sie gesagt. Das werde ich nie vergessen. Dann haben wir Lichter gesehen und sind darauf zu. Ich hatte keine Ahnung, was wir tun sollten, in welche Richtung wir laufen sollten, nichts. Plötzlich ist der Wagen aufgetaucht. Es war die Polizei.«

»Ich werde ein bisschen schlafen«, sagt das Mädchen und streckt die Beine aus, damit ich aufstehe.

Ich richte mich auf und spüre meine eingeschlafenen Beine, oder besser gesagt, ich spüre sie nicht, es ist, als hätte man sie abgeschnitten.

»Weck mich, wenn sie Sandwichs bringen«, sagt sie.

»He, ich bin dran«, sage ich leise zu dem Mädchen, um sie nicht zu erschrecken, aber sie hört mich nicht.

So vor ungefähr zwei Stunden hat sie sich hingelegt, glaube ich, und wieder habe ich Krämpfe in den Beinen. In dem Moment geht die Zellentür auf und eine Frau mit einem Wagen kommt herein. Die Sandwichs. Die Mädchen stehen langsam auf. Ich beuge mich zu dem Mädchen runter und flüstere ihr ins Ohr:

»Wach auf, es gibt was zu essen.«

Wir nehmen uns ein Sandwich und eine von den kleinen Saftpackungen und setzen uns zum Mittagessen hin. Oder zum Frühstück oder Abendessen. Wer weiß, wie spät es ist. Auf dem Sandwich ist eine Scheibe Schinken. In der Packung ist Orangensaft.

»Wo willst du hin?«, fragt das Mädchen.

»Zu meiner Mama«, antworte ich.

»Und wo wohnt die?«

»In New York.«

»Und wo hast du in El Salvador gelebt?«

»Bei meinen Großeltern, den Eltern meiner Mutter«, sage ich. »In Ahuachapán. Ich habe auch eine Weile bei meinen anderen...

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