Einleitung
Wir sind wach und damit bei Bewusstsein, wir machen uns Gedanken, haben Gefühle, Ängste und Hoffnungen; wir sprechen miteinander, gründen Staaten, wählen Parteien, betreiben Wissenschaft, produzieren Kunstwerke, verlieben uns, täuschen uns und sind imstande zu wissen, was der Fall ist. Kurzum: Wir Menschen sind geistige Lebewesen. Dank der Neurowissenschaften wissen wir teilweise, welche Gehirnareale aktiv sind, wenn man uns etwa Bilder zeigt oder dazu bewegt, an etwas Bestimmtes zu denken. Wir wissen auch einiges über die Neurochemie emotionaler Zustände und Störungen. Doch steuert die Neurochemie unseres Gehirns am Ende unser gesamtes geistiges, bewusstes Leben und Verhalten? Ist unser bewusstes Ich sozusagen nur die Benutzeroberfläche unseres Gehirns, die in Wirklichkeit zu unserem Verhalten gar nichts beiträgt, sondern diesem nur wie ein Zuschauer beiwohnt? Ist unser bewusstes Leben also nur eine Bühne, auf der ein Stück vorgeführt wird, in das wir gar nicht wirklich, das heißt frei und bewusst eingreifen könnten?
Der scheinbar so selbstverständliche Umstand, dass wir geistige Lebewesen sind, die ein bewusstes Leben führen, wirft unzählige Rätsel auf. Mit diesen Rätseln beschäftigt sich die Philosophie seit Jahrtausenden. Der Zweig der Philosophie, der sich mit uns Menschen als geistigen Lebewesen beschäftigt, heißt heutzutage Philosophie des Geistes. Diese werden wir hier näher betrachten. Sie ist heute relevanter als je zuvor.
Viele halten die Natur des Bewusstseins für eines der letzten großen ungelösten Rätsel. Warum sollte in irgendeinem Naturprodukt überhaupt sozusagen das Licht angehen? Und wie hängt das Neuronengewitter unter unserer Schädeldecke mit unserem Bewusstsein zusammen? Fragen wie diese werden in Teildisziplinen der Philosophie des Geistes, nämlich in der Bewusstseins- und Neurophilosophie behandelt.
Es geht hier also um uns selber. Zunächst stelle ich einige Hauptüberlegungen der Philosophie des Geistes anhand zentraler Begriffe dar, zu denen Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Ich gehören. Von diesen ist viel die Rede, meist aber ohne Kenntnis der philosophischen Hintergründe, was zu Verwirrungen führt. Deswegen erläutere ich diese Hintergründe einmal möglichst voraussetzungsfrei. Denn sie bilden die Grundlage für die zweite Hauptabsicht dieses Buchs: die Verteidigung unserer Freiheit (unseres freien Willens) gegen die landläufige Vorstellung, irgendjemand oder irgendetwas würde uns hinter unserem Rücken unfrei machen – sei es Gott, das Universum, die Natur, das Gehirn oder die Gesellschaft. Wir sind durch und durch frei, weil wir geistige Lebewesen sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir irgendwie nicht zum Tierreich gehören. Wir sind weder reine Genkopiermaschinen, denen ein Gehirn eingepflanzt ist, noch Engel, die sich in einen Körper verirrt haben, sondern tatsächlich die freien geistigen Lebewesen, für die wir uns seit Jahrtausenden halten und die auch politisch für ihre Freiheiten eintreten.
Materieteilchen und bewusste Organismen
Eine Herausforderung unserer Zeit liegt in der Verwissenschaftlichung des Menschenbildes. Wir wollen endlich objektives Wissen darüber erlangen, wer oder was der Mensch eigentlich ist. Allerdings steht der menschliche Geist dabei im Weg, da sich dieser bisher der naturwissenschaftlichen Erforschung entzieht. Um dieses Problem anzugehen, wird nun schon seit einigen Jahrzehnten versucht, die Neurowissenschaften als die Naturwissenschaften vom menschlichen Geist zu etablieren.
Muten wir ihnen damit nicht mehr zu, als sie eigentlich leisten können? Bis vor kurzem dachte man wohl kaum, dass beispielsweise ein Neurologe oder ein Neurobiologe der Spezialist für den menschlichen Geist sein soll. Können wir den Neurowissenschaften im Allgemeinen beziehungsweise der Hirnforschung im Besonderen wirklich zutrauen, uns Auskunft über unser Selbst zu geben?
Das vorliegende Buch möchte auf allgemeinverständliche Weise – und an alte Einsichten anknüpfend – neue Perspektiven für die Philosophie des Geistes eröffnen. Die Selbsterkenntnis steht nämlich schon lange im Zentrum der Philosophie, und die Vorgeschichte hilft uns, besser zu verstehen, woher sowohl die echten Probleme als auch die Scheinprobleme kommen, die uns beschäftigen.
Inwiefern sollten wir unser Menschenbild dem technologischen Fortschritt anpassen? Um zentrale Fragen wie diese überhaupt sinnvoll anzugehen, sollte man Begriffe unseres Selbstporträts wie Bewusstsein, Geist, Ich, Denken oder Freiheit genauer unter die Lupe nehmen, als wir dies alltäglich gewöhnt sind. Denn nur dann können wir durchschauen, wo wir aufs Glatteis geführt werden, wenn man uns etwa versichern möchte, es gebe eigentlich keinen freien Willen oder der menschliche Geist (das Bewusstsein) sei lediglich eine Art Oberflächenspannung des Gehirns oder, wie Francis Crick und Christof Koch kurzzeitig meinten: synchronisiertes Neuronenfeuern im 40-Hertz-Bereich – eine Vermutung, die sie inzwischen selber eingeschränkt haben.1
Im Unterschied zum Mainstream der heutigen Bewusstseinsphilosophie (Philosophy of Mind) – die sich manchmal zu Unrecht auf Deutsch als Philosophie des Geistes bezeichnet – ist der in diesem Buch verfolgte Vorschlag antinaturalistisch. Der Naturalismus* geht davon aus, dass sich alles, was es überhaupt gibt, letztlich naturwissenschaftlich untersuchen lässt. Dabei wird in der Regel mindestens implizit auch angenommen, dass der Materialismus richtig ist, also die These, dass es nur materielle Gegenstände, nur Dinge gibt, die zur unerbärmlichen materiell-energetischen Wirklichkeit gehören. Was aber gilt dann für das Bewusstsein, das sich bisher nicht naturwissenschaftlich erklären lässt – und bei dem teilweise nicht einmal absehbar ist, wie dies überhaupt möglich sein sollte? Das trifft umso mehr zu, sofern dieser menschliche Geist von den Geistes- und Sozialwissenschaften untersucht wird. Würde das bedeuten, dass etwa die Bundesrepublik Deutschland, die Romanwelten Houellebecqs, Trauer um Verstorbene, Gedanken und Gefühle im Allgemeinen sowie die Zahl π in Wirklichkeit materielle Gegenstände sind? Gibt es sie denn etwa nicht oder gibt es sie nicht wirklich? Naturalisten versuchen genau dies zu beweisen, indem sie den ihnen zufolge irreführenden Eindruck zerstreuen, es gebe immaterielle Wirklichkeiten. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen.
Wie gesagt, ist die hier eingenommene Perspektive die des Antinaturalismus, das heißt, es wird davon ausgegangen, dass nicht alles, was es gibt, in Wirklichkeit naturwissenschaftlich untersuchbar beziehungsweise materiell ist. Ich sage also, dass es immaterielle Wirklichkeiten gibt und halte dies eigentlich für eine jedem zugängliche Einsicht des gesunden Menschenverstandes. Wenn ich jemanden als Freund betrachte, daher entsprechende Gefühle ihm gegenüber habe und mein Verhalten daran anpasse, meine ich nicht, dass die Freundschaft zwischen ihm und mir ein materielles Ding sei. Ich halte mich selbst auch nicht nur für ein materielles Ding, wenngleich ich selbstverständlich nicht derjenige wäre, der ich bin, wenn ich keinen geeigneten Leib hätte, den ich wiederum nicht haben könnte, wenn die Naturgesetze unseres Universums anders gewesen oder die biologische Evolution anders verlaufen wäre.
Die Frage, ob der Naturalismus oder der Antinaturalismus letztlich Recht behält, ist nicht nur für die akademische Fachdisziplin namens Philosophie sowie für das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften zueinander von Bedeutung. Sie betrifft uns alle, zumal im Zeitalter einer von vielen beobachteten Rückkehr der Religion, da diese mit Fug und Recht als Bastion des Immateriellen angesehen wird. Ignoriert man immaterielle Wirklichkeiten allzu voreilig (wie der Naturalismus unserer Zeit), ist man am Ende nicht einmal mehr imstande, die Religion zu verstehen, da man sie von vornherein als eine Art Aberglaube oder Spukgeschichte ansieht. Es scheint Defizite in der Vorstellung zu geben, wir könnten alle zwischenmenschlichen Prozesse über naturwissenschaftliche, technologische und ökonomische Fortschritte verstehen und durch ein solches Verständnis unter Kontrolle bringen.
Schon im letzten Jahrhundert wollten viele Denkerinnen und Denker** aus verschiedenen Richtungen Aufklärung und Rationalismus verabschieden beziehungsweise kritisch in ihre Grenzen weisen. So meinten etwa Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) in ihrem Buch Die Dialektik der Aufklärung, die Moderne sei letztlich ein Unglücksfall, der im Totalitarismus enden musste. Das sehe ich überhaupt nicht so. Ich glaube aber, die Moderne bleibt so lange defizitär, wie sie auf der materialistischen Grundüberzeugung aufbaut, dass es im Grunde genommen nur Materieteilchen gibt, die in einem riesigen Weltbehälter nach Naturgesetzen verteilt werden, bis nach Milliarden Jahren einmal Organismen auftreten, von denen einige bewusst sind – was dann ein Rätsel aufwirft. Auf diese Weise werden wir den menschlichen Geist niemals verstehen, ebenjene Einsicht hat bei den alten Griechen zur Erfindung der Philosophie geführt.
Um den Standpunkt einer antinaturalistischen Philosophie des Geistes heute wiederzugewinnen, müssen wir die Vorstellung aufgeben, wir müssten zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem religiösen Weltbild wählen, da beide prinzipiell verfehlt sind. Heute gibt es eine Gruppe von historisch und...