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Dement, aber nicht bescheuert

Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken

AutorMichael Schmieder, Uschi Entenmann
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783843711869
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Michael Schmieder leitet das Heim Sonnweid, das als eine der besten Pflegeeinrichtungen für Demenzkranke weltweit gilt. Sein erklärtes Ziel ist es, den Patienten ihre Würde wiederzugeben. Wenn wir die Kranken mit Medikamenten ruhig stellen, sie gar fixieren oder ihnen eine falsche Realität vorgaukeln, berauben wir sie ihrer Würde - selbst dann, wenn wir ihnen damit zu helfen glauben. Wenn wir sie hingegen ernst nehmen und auf ihre Ängste und Bedürfnisse eingehen, sehen wir sie als Menschen. Und darauf kommt es an.

Michael Schmieder, geboren 1955, leitet das Heim Sonnweid bei Zürich. Er ist ausgebildeter Pfleger und hat einen Master in Ethik. Uschi Entenmann, Jahrgang 1963, ist Autorin bei Zeitenspiegel Reportagen in Weinstadt.

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Leseprobe

Abschied und Ankunft


Der Eintritt in ein Heim muss nicht Verbannung bedeuten, sondern kann auch von Zwängen befreien – den Betroffenen wie seine Angehörigen

Befürchtet hatten es alle, aber dann fuhr der Familie doch der Schreck in die Glieder. »Mutti muss ins Heim«, verkündete die Tochter, nachdem sie von einem Besuch im Krankenhaus zurückgekehrt war.

Die Gewissheit, Abschied von einem Menschen nehmen zu müssen, der seit je zur Familie gehört hatte, traf alle, jeden auf seine Art. Dass dieser Abschied gewisse Erleichterungen bringen würde, realisierte vorerst noch keiner. Auch nicht die Tochter, die ihre Mutter seit Jahren betreut hatte, meist liebevoll, manchmal auch etwas gereizt, wenn die verwirrte Frau beim Anziehen, Waschen und bei anderen Handreichungen hartnäckig jede Hilfe verweigerte. Weil sich die Tochter von früh bis spät um sie kümmerte, wurden Gespräche und gemeinsame Stunden mit ihrem Mann immer seltener. Vielleicht ahnten sie, dass sie künftig mehr Zeit füreinander hätten, auch für die Töchter und den Sohn. Die Kinder konnten das Dahinschwinden der Großmutter nicht ertragen und kamen kaum noch zu Besuch, der Sohn behauptete sogar, er würde sich eher »die Kugel geben« als so zu altern. Hinzu kam, dass sein Betrieb, den er mit einem Zuschuss der Eltern gegründet hatte, kriselte. Das Geld sollte er wieder zurückgeben, denn Heime sind teuer. Auch die Töchter, beide noch in der Ausbildung, müssten Opfer bringen, zumal sich andeutete, dass es noch schlimmer kommen würde. Denn der Großvater schien nicht mehr so ganz von dieser Welt zu sein, seitdem die Oma im Krankenhaus lag. Wer um Himmels willen sollte und konnte das alles bezahlen!

Seit dreißig Jahren sind wir jede Woche mit ähnlichen Schicksalen konfrontiert. Rund fünfzig Menschen, die an Demenz erkrankt sind, nehmen wir pro Jahr in unserem Heim, der Sonnweid, auf. Jeder von ihnen bringt eine eigene Geschichte mit, und immer wieder tun sich Abgründe auf. Im Gegensatz zu den meisten Heimen gilt deshalb in der Sonnweid die Regel, dass wir beim ersten Treffen Gespräche nur mit den Angehörigen führen. Selbst in einem frühen Stadium der Demenz kann der Kranke dem Gespräch oft nicht mehr folgen. Er hat vermutlich schon lange vorher bemerkt, dass etwas in seinem Kopf nicht stimmt, und tut aus seiner Sicht das einzig Richtige: Er schweigt. Weil er ahnt, dass mit dem Ende des Schweigens auch das Ende seiner bisherigen Sozialstruktur einhergehen würde. Er hat Angst vor der Veränderung. Auch von außen gesehen ist er mit diesem Verhalten im Recht. Es ist schließlich nicht die Aufgabe des Kranken, seine Defizite zu melden – dies würde dem Wesen der Krankheit widersprechen. Er spürt zwar, dass man über ihn redet, versteht jedoch kaum, was das für ihn bedeutet, wird im Verlauf des Gesprächs immer verwirrter, gestresster und zunehmend von Ängsten geplagt. Stellt man ihm eine Frage, dauert es quälend lange, ehe er eine Antwort findet, und die besteht oft nur in der verzagten Bitte an den Angehörigen: »Sag du es.«

Auch ohne seine Gegenwart ist das erste Gespräch ein Schlüsselerlebnis. Für uns, den Kranken und seine Angehörigen. Wir alle wissen, dass eine demenzielle Erkrankung immer ein komplexes System trifft. Krank ist eine Person, betroffen sind viele. Und alle haben sich noch vor dem ersten Treffen in der Sonnweid bohrende Fragen gestellt: Wird Mutti es im Heim aushalten? Kommt es nicht billiger, wenn sie noch ein Weilchen daheimbleibt? Gibt es denn nicht inzwischen eine wachsende Zahl von Pflegediensten, die dafür sorgen, dass es zu Hause möglichst lange gutgeht? Selbst wenn diese Institutionen aus naheliegenden Gründen daran interessiert sind, dass es möglichst lange »gut« geht. Wie viel Lieblosigkeit mit der Pflegekraft durch die Tür kommt, kann niemand beurteilen. Schon gar nicht die Kranke. »Oma redet doch viel, wenn der Tag lang ist.«

Dennoch kommt der Punkt, an dem nichts mehr geht. Es ist quälend, dauernd spüren zu müssen, dass die Pflege zu Hause kaum Anerkennung findet, die Fürsorge auf Essen reichen, Einlagen wechseln und Waschen reduziert ist und man am Ende dennoch nicht alles schafft. Weil man nicht mehr genug Schlaf bekommt, Schlafentzug ist in manchen Ländern eine Foltermethode! Weil man ungeduldig wird, zuweilen sogar aggressiv reagiert und weiß, dass die Belastung von Tag zu Tag schlimmer wird. Demenz ist nicht heilbar, das hat sich herumgesprochen. Schließlich bleibt nur noch der letzte Schritt: Wir bringen die Oma ins Heim, genau dahin, wo sie nie hinwollte.

Auch wenn wir diese Klage aus Hunderten von Gesprächen kennen, ist es wichtig, sie immer wieder anzuhören. In den ein bis zwei Stunden des ersten Gesprächs erlebe ich regelmäßig, dass sich mein Gegenüber öffnet, sehe, wie sich ein Bild des Kranken entwickelt, erkenne ich, wie weit die Demenz fortgeschritten ist, vor allem aber auch, welcher familiäre Hintergrund sich abzeichnet. Schon deshalb bitten wir vor dem Treffen darum, uns keine Vorberichte, keine Krankenakte oder irgendwelchen Papierkram zu schicken. Wir wollen uns ohne Vorwissen ein Bild davon machen, wie es unter der Oberfläche aussieht. Oft sind es tiefe Verletzungen, die sich offenbaren. Wie im Fall der alten Frau, die ihren dementen Mann bei uns unterbringen wollte. Nach einem langen Blick durch die Fensterwand meines Büros in den Garten, durch den Patienten spazierten, manche allein, andere von Pflegerinnen begleitet, brach es aus ihr heraus. Ein Leben lang habe ihr Mann sie betrogen, das Geld verhurt, und für sie habe er nichts übriggehabt. Erst als ihn die Krankheit daran hinderte, über die Stränge zu schlagen, konnte sie sich fürs Alter etwas vom Munde absparen, immerhin dreißigtausend Franken. Und die sollten jetzt für die Pflege dieses Kerls draufgehen!

Es ist nicht unsere Aufgabe zu werten, wir dürfen uns nicht zum Anwalt für den scheinbar Schwächeren einer Beziehung machen. Auch wenn wir glauben, ihn zu verstehen. Im Fall der zornigen alten Dame brachte ich schon ein gewisses Verständnis für ihre Reaktion auf. Sie hätte ja durchaus die Möglichkeit gehabt, den Spieß umzudrehen, wenn sie ihren Mann bei sich behalten hätte. In ihrem langen Eheleben hatte immer er die Rolle des Stärkeren gespielt, zu Hause läge jetzt die Macht in ihren Händen. Es spricht für sie, dass sie ihren Schürzenjäger trotzdem in unsere Obhut gab, wo er es dann auch tatsächlich verstand, sich beliebt zu machen, vor allem bei den Damen. Wie vielen anderen Angehörigen auch hat ihr bei dieser Entscheidung geholfen, dass sie sich ausweinen und den Ärger von der Seele reden konnte. Für die Angehörigen ist es wichtig, dass sie sich nicht bewertet fühlen, sondern in ihren zwiespältigen Gefühlen und ihrer Überforderung angenommen werden. Klagende Fragen, warum die Tochter ihren Vater nie besucht, warum der Sohn die Mutter alleinlässt, bleiben im Raum stehen. Dafür drängen sich neue Fragen auf, die wir beantworten müssen. Wie wird der kranke Angehörige reagieren, wenn er ins Heim gebracht wird? Was geschieht dort mit ihm? Wann ist überhaupt der richtige Zeitpunkt gekommen, ihn fortzugeben?

Wir möchten den Angehörigen nichts vormachen. Ich kenne den richtigen Zeitpunkt auch nicht. Spätestens, wenn man sich wünscht, der andere möge endlich sterben, ist er gekommen. Der Eintritt ins Heim bedeutet immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Austritt, dem Tod. Das spüren alle sehr genau. Die gemeinsame Wohnung zu verlassen heißt, ein gemeinsames Leben zu verlassen. Sich vorzustellen, dass heute Abend mein Mann, meine Frau zum letzten Mal neben mir einschlafen wird, ist trotz aller Belastungen der vergangenen Jahre schwer zu ertragen. Dennoch kann es trösten, wenn der gesunde Partner den Wechsel ins Pflegeheim nicht als Abschieben betrachtet. Den Kranken fürsorglich zu betreuen gelingt nur, solange der Gesunde nicht über seine Grenzen hinaus belastet wird. Wenn er verzweifelt ist, den Kranken vernachlässigt, ständig schimpft und wenn ihm vielleicht sogar mal die Hand ausrutscht, dann braucht er dringend Hilfe von außen.

Im Umgang mit Demenzkranken gilt der Grundsatz, sich nicht mit ihnen zu identifizieren. Wir müssen eine Form der distanzierten Empathie im Umgang mit unseren Schützlingen wahren, alles andere wäre unprofessionell und würde weder den Kranken noch den Pflegenden helfen. Doch unter den Lebens- und Leidensgeschichten, die in den Erstgesprächen anklingen und den Besuchersessel in meinem Büro zuweilen in einen Beichtstuhl verwandeln, gibt es auch Tragödien, die uns in einem guten Sinn stark berühren. Dazu gehört die Liebesgeschichte zwischen Regina und Bernard Berger, an die ich mich noch in vielen Details erinnere, weil sie mir sehr nahegegangen ist. Und weil auch sie exemplarisch für den Verlauf der Krankheit ist.

Die beiden begegneten sich Anfang der achtziger Jahre zum ersten Mal. Anlass war ein geschäftlicher Termin, der plötzlich und unerwartet in eine Liebe auf den ersten Blick mündete. Regina war Abteilungsleiterin in einer Firma in Zürich, er arbeitete als Chefinformatiker einer französischen Firma und kam als Kunde zu ihr. Ein Mann, der was hermachte: fast eins neunzig groß, schlank, mit markant geschnittenem Gesicht und Augen, um die er beim Reden feine Lachfältchen zwinkerte. Sein Humor war es, in den sie sich sofort verguckte, dieser jungenhaft spöttische, aber nie verletzende Charme, der die Geschäftsbesprechung zu einem amüsanten Geplänkel machte. Auch ihn hatte es auf Anhieb erwischt. Schon nach einer Stunde wusste er: Diese warmherzige Person, mit der es sich so gut lachen ließ, war die Frau seines Lebens.

Wenn sie doch bloß nicht beide bereits verheiratet gewesen wären! Reginas Ehe war kinderlos geblieben,...

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