Sprechen wir über Sex – ein Vorwort
Männer reden nicht über Sex, allenfalls kalauern sie. Das war bei mir nicht anders: Hier erzähle ich zum ersten Mal von meiner Sexualität. Über Sex zu sprechen war nie ein essentieller Bestandteil meines Lebens. Mit Freunden habe ich es nicht gemacht, auch in meiner Familie nicht. Mit Lebensgefährtinnen habe ich mich höchstens punktuell darüber ausgetauscht, und alles in allem eher selten. Was wir beim Sex fühlen, war kaum je ein Gesprächsthema.
Dabei sind wir in unserem Zusammenleben wie eine Art riesengroße »Selbsterfahrungsgruppe«: Es geht nur miteinander und nur mit kommunikativem Austausch – und das gerade bei dem wichtigsten Thema unseres sinnlichen Lebens. Dazu gehört, dass einer damit anfängt, von sich selbst zu erzählen.
Dieses Buch zu schreiben war wie ein Ausbruch. Als Mann von der eigenen Sexualität zu erzählen kommt mir so vor, als würde ich mich in ein hermetisch abgeriegeltes Sperrgebiet begeben. Das zeigt auch die sprachliche Trockenwüste, die darin herrscht.
Über die abstrusesten Themen unterhalten wir uns in epischer Breite. Wir lassen uns über alles aus, was uns gefällt und was uns ärgert. Aber warum sind wir – und ganz besonders die Männer – nicht in der Lage, uns über unsere Gefühle, auch die beim Sex, genauso virtuos zu verständigen wie über die Beschaffenheit eines guten Rotweins oder die Zubereitung der besten Spaghetti all’arrabbiata? Verdient die schönste Sache der Welt nicht mindestens ebenso viele Worte wie der nächste Urlaub auf der Palmeninsel oder die Flüchtlingskrise?
Wenn es überhaupt Worte zum Thema Sex gibt, sind es zumeist entweder wissenschaftlich-technische Worte oder »schmutzige« Begriffe. Die meisten dieser Alltagswörter werden heute ganz anders verwendet als in ihrer ursprünglichen sprachlichen Bedeutung – in der Regel hat eine Begriffsverengung stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass es jene sprachliche Vielfalt, die wir von anderen Themen kennen, beim Sprechen über Sex nicht gibt.
Hinzu kommt der Einfluss der Pornoindustrie. Das endlose Dauerzappen stereotyper Pornovideos verursacht eine Art sexuellen Visualsturz, ähnlich einem Hörsturz; das Ergebnis ist nicht nur eine Fixierung auf bestimmte sexuelle Praktiken, sondern auch auf ein verengtes Rollenbild, das in ständiger Wiederholung vermittelt, wie Frauen und Männer zu sein haben und was sie vermeintlich mögen. Unmittelbar betroffen davon sind fast nur Männer als Hauptkonsumenten dieser Filme. Manche masturbieren nur noch oder bumsen so ritualisiert und stereotypisiert, wie sie es in den Pornos sehen. Unbefangenheit und Offenheit im Umgang mit Frauen entstehen auf diese Weise nicht.
SÜCHTIG NACH PORNOS?
Einer Studie zufolge sollen in Deutschland über 560000 Menschen internetsüchtig sein,1 geschätzte 400000 seien internetsexsüchtig.2 Die Zahl der Nutzer des Pornoangebots im Internet liegt deutlich höher: So geben 50 Prozent der Schweizer Männer an, regelmäßig Pornos zu konsumieren.3 In einer privaten Umfrage gaben es mir gegenüber zehn von zehn Befragten zu. Über 70 Prozent der Pornokonsumenten sind männlichen Geschlechts.4
Angesichts dieser virtuellen Sexwelt ist es umso notwendiger, die Worte zu finden, um uns über unsere tatsächliche Sexualität zu verständigen. Aber auch bei dem in der Öffentlichkeit geführten Genderdiskurs fehlen Ansätze, sich mit den Gefühlen von Männern beim Sex zu beschäftigen. Wie kann man über das Zusammenleben der Geschlechter sprechen, wenn die treibende Kraft des männlichen Geschlechts aus unserer Kommunikation ausgeklammert wird?
Während meines Selbstversuchs, für eine längere Zeit als Frau zu leben, den ich im Buch Die Frau in mir5 beschrieben habe, und bei der sich daran anschließenden Arbeit über Geschlechterrollen und -klischees (Gender-Key)6 ist mir aufgefallen, wie abstrus männliche Sexualität oft betrachtet wird: als würden Männer beim Sex weniger fühlen als Frauen – als empfinde der Mann seinen Orgasmus nur in der Eichel – als wäre der männliche Orgasmus sowieso nur »kurz, stark, plumps«, wie mir eine Frau sagte … Dazu passt, dass ich von nicht wenigen Bekannten weiblichen und männlichen Geschlechts gewarnt wurde, mir die Bürde eines solchen Themas aufzuhalsen, schließlich könne man über den Orgasmus des Mannes nicht mehr schreiben als »zehn Zeilen« (mehrfacher O-Ton).
Zu meiner Motivation kam also eine gehörige Portion Trotz hinzu. Im ersten Anlauf landete ich bei knapp 400 Seiten über mein sexuelles Erleben. Davon kürzte ich 100, und es blieben über 200 Seiten alleine über meinen Orgasmus, die restlichen 100 über das Davor und Danach, das natürlich mit dazugehört. Offenbar sind die männliche Sexualität und die sexuellen Gefühle der Männer viel mehr als gemeinhin angenommen (und sowieso mehr als die sekundenzuckenden Leiber der Pornoindustrie, die ihre Produkte nur zu gern als Ausweis einer freien Gesellschaft verstanden wissen möchte).
Ich bin überzeugt, dass wir mehr über unsere Sexualität und unsere Gefühle sprechen müssen. Wir haben es dringend nötig. Jedes Thema in unserem Leben erfährt eine neue Dynamik, wenn Worte hinzukommen, was übrigens neurologisch nachzuweisen ist. Denn Worte in Verbindung mit Erfahrungen schaffen neuronale Verbindungen im Gehirn, sie prägen sozusagen bestimmte Klischee-Eindrücke, und in diesen Assoziationswelten werden diese Eindrücke auch wieder wachgerufen, wenn die entsprechenden Worte fallen. Je mehr Worte es zu einem Lebensthema gibt, desto vielfältiger und freier werden wir demnach im Umgang damit. Bezeichnenderweise sagt die Eigenart der Worte, die es zu einem Thema gibt, daher viel über unseren Umgang damit aus. In Sprache manifestiert sich die Dynamik des menschlichen Zusammenlebens. Nur wenn wir die Sprachlosigkeit überwinden, können wir den Trend zur Abspaltung der Sexualität von unserem Leben stoppen.
Sexualität als universelle Energie unseres Zusammenlebens brauchen wir dringender denn je. Nicht die Liebe, die mir dafür als zu flüchtig erscheint, nicht irgendwelche äußerlichen Umgangsformen, sondern unsere gefühlte Sexualität ist das Bindemittel zwischen uns Menschen. Zerstören wir sie, werden wir uns immer mehr voneinander isolieren. Die menschliche Berührung schließt die körperliche mit ein, die zugleich auch eine geistige und seelische ist. Sie ist eine maßgebliche Quelle unserer ureigensten und unverwechselbaren Fähigkeiten: der Empathie, der Liebe, der Intuition, der Kreativität und letztlich auch der Intelligenz. Und natürlich betrifft Sexualität als Berührung auch unsere Gefühle. Doch die gesellschaftliche Entwicklung ist gegenläufig, und sie ist weit fortgeschritten. Wenn wir zulassen, dass diese Fähigkeiten und Eigenschaften aus unseren Begegnungen ausgegrenzt werden, können wir uns gleich den Maschinen einer fast schon greifbaren Zukunft überlassen. Sie sorgen für Orgasmen, die man nach Belieben in Orgasmus-Apps einstellen kann, befruchten Frauen, melken den Männern das Sperma heraus. Wir werden vereinsamen, stumpf gegenüber anderen und hoch aggressiv werden, weil uns mit der emotionalen Sexualität zugleich das Bindeglied und die Balance unseres Zusammenlebens abhandenkommen. Auch das erfordert, dass wir darüber sprechen, also den Diskurs.
Ich will das, was ich sagen will, nicht anhand von wenigen ausgewählten Beispielen aus meinem Leben beschreiben. Es geht um das ganze Bild, nicht um Ausschnitte, es geht um die Entwicklung des sexuellen Erlebens, mehr noch: Es geht um die Ausbildung unserer Persönlichkeit und wie sie durch Sexualität bedingt wird – das alles ist miteinander verflochten. Meine Sexualität besteht – wie die Sexualität jedes Mannes (und natürlich auch die Sexualität jeder Frau) – nicht aus einem oder zwei gepflegten metaphorischen Ereignissen, sondern aus einem gelebten Leben. Deshalb habe ich mich darauf eingelassen, das ganze Leben zu erzählen, von den ersten sexuellen Empfindungen bis zum erotischen Leben als Erwachsener und meinen Erfahrungen mit der Reproduktionsmedizin. Dazu gehören auch die Verhaltensregeln, die Eltern und Umwelt uns mit auf den Weg geben – von denen »Darüber spricht man nicht« eine der vielleicht prägendsten ist, die fatale Rückwirkungen auf unsere Sexualität haben kann.
Logischerweise spielen die Partnerinnen eine bedeutende Rolle. In meinem Leben gab es mehrere Frauen, das soll in über dreißig Jahren durchaus vorkommen. Nichts an den geschilderten Begegnungen mit ihnen ist erfunden, alles hat sich so zugetragen. Nur ihre Namen und Persönlichkeiten wie auch die Umstände unserer Begegnung habe ich zu ihrem Schutz so weit nötig fiktionalisiert und mitunter vollkommen unkenntlich gemacht. Ich empfinde größten Respekt und Liebe für sie.
Es geht mir nicht darum, diese Partnerinnen vorzuführen oder mich selbst zum Casanova zu stilisieren; weder bin ich Macho noch Narziss, noch Exhibitionist oder Pornograf. Es geht mir um radikale Offenheit und Ehrlichkeit, nicht um erotische Schilderungen um ihrer selbst willen. Wenn auf den folgenden Seiten einige erotische Begegnungen detailreich berichtet werden, so liegt das in der Natur der Sache: Wie sollte man das Schweigen durchbrechen, das unsere Sexualität umgibt, ohne darüber zu sprechen, was unsere Sexualität und damit uns als geschlechtliche Wesen ausmacht: die vielen Spielarten des Sex, unsere sexuellen Erfahrungen, Wünsche und...