Einleitung
Emil Secher lebte mit Gattin Johanna, geborene Schab und Sohn Herbert Peter in Wien. Seit Mitte der 1920er Jahre war Emil Secher im renommierten Antiquariat Gilhofer & Ranschburg beschäftigt, bei dem sein Schwager Wilhelm Schab als Gesellschafter fungierte. Nach dem „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 hatte Emil Secher seine Stellung verloren, das Antiquariat wurde noch im gleichen Jahr den Besitzern entzogen und „arisiert“.
Wann genau die Entscheidung im Hause Secher fiel, das Land Richtung New York zu verlassen, wo sich bereits zuvor Verwandte niedergelassen hatten, ist nicht überliefert. Es war geplant, dass die gesamte Familie, bestehend aus den Zweigen Secher, Kupler (Emils Schwester, ihr Ehemann Emil und seine Mutter Fanny) und Schab (Regina, Mutter von Johanna, und Ella, Johannas Schwester) Wien möglichst gemeinsam verlassen sollte. Auch andere Teile der Familie waren entschlossen, Wien zu verlassen.
Nun begann ein zynischer Wettlauf gegen die Zeit. Zur Ausreise waren eine Garantieerklärung für den Unterhalt der Ausreisewilligen aus den USA, der sogenannte Affidavit, das Visum der USA mit positiv abgeschlossenem Gesundheitstest, Schiffspassagen und die Erfüllung aller Auflagen durch das Nazi-Regime notwendig. Fehlte nur ein Teil in diesem bürokratischen System der Bescheinigungen und Bestätigungen oder war auch nur die Gültigkeit eines der Dokumente abgelaufen, wurde die ersehnte Ausreise unmöglich.
Gleichzeitig betrieb das NS-System in Wien eine immer weitergehende Entrechtungs- und Konzentrationspolitik, die die Vorstufen zur späteren Deportation in Gebiete des eroberten Polen bildeten.
Wir kennen die genauen Umstände und den Fortgang der Bemühungen heute nicht mehr. Alle genannten Familienmitglieder waren zur Ausreise registriert und in wohl unterschiedlichen Wartelisten verzeichnet. Im September 1939 öffnete sich dann zumindest für die Familie Emil, Johanna und Herbert Secher eine Möglichkeit, über Triest und Genua in die USA auszureisen. Am 30. Oktober sollte die Familie Wien über die Südbahn nach Italien verlassen.
Am 26. Oktober, vier Tage vor der geplanten und fix arrangierten Ausreise, erhielt Emil Secher eine Aufforderung, sich zu einer der vom Wiener Nordbahnhof abgehenden Deportationen zu melden. Damit schien kurz vor der glücklichen Ausreise die Familie auseinandergerissen zu werden und die so lange ersehnte Ausreise in die USA unmöglich.
Das energische Auftreten Emil Sechers und die Tatsache, dass er Pass, Visum und Passage vorweisen konnte, bewahrten ihn vor der Deportation nach Polen.
Am Abend des 30. Oktober 1939 fand sich Marie Kupler mit Emil, Johanna und Herbert am Südbahnhof ein. Diese um zu verabschieden, jene um auszureisen. H. Pierre erinnerte sich, dass damals eine kleine Gruppe von „Juden“, nicht mehr als 50, scheu auf die Abreise des Zuges wartete, während der Bahnsteig von Zivilisten und Militär überfüllt war.
Mit der Ausreise wurde Emil Secher zur einzigen Hoffnung für die in Wien Zurückgelassenen, eine Ausreise in die USA noch zu ermöglichen.
Die Familien Kupler und Schab lebten zu dieser Zeit noch in vergleichsweise komfortablen Verhältnissen. Regina und Ella Schab bewohnten eine geräumige Wohnung in der Taborstraße 66, die mit den vielen Annehmlichkeiten einer bürgerlichen Wohnung ausgestattet war. Straßenseitig gelegen, Balkon mit einem kleinen Glashaus, große Küche, WC, fließend Wasser und zwei Schlafzimmer sowie ein Zimmer für ein Dienstmädchen. Die Einrichtung bestand aus einem Klavier, Bücherschränken, Ölbildern, Perserteppichen, Ottomane, einem Speisezimmer, einem Wohnzimmer mit grünem Kachelofen und wohl noch so manchem Nippes. Ein Badezimmer, wie in vielen bürgerlichen Wohnungen der Gründerzeit, fehlte. Warmes Wasser wurde in der Küche bereitet, zum Baden ging man ins nahegelegene Römerbad.
Die Wohnung war Zentrum des Familienlebens in Wien gewesen, hier wurden die großen religiösen Feste, die Jubiläen und andere Feste gefeiert.
Marie Kupler und ihre Mutter Fanny wohnten ganz in der Nähe, quasi im gleichen Block in der Vereinsgasse 15. Ihre Wohnung, gleichwohl bescheidener, war ebenfalls komfortabel. Hier war Herbert immer wieder zu Gast, blieb bei Tante, Onkel und Großmutter über ein Wochenende oder einige Ferientage.
Als sich die Ausreise abzeichnete, lösten Sechers ihre Wohnung auf, sodass die letzten Wochen getrennt in Wien verbracht wurden. Herbert und Johanna bei Ella und Regina Schab in der Taborstraße, Emil bei seiner Schwester Marie in der Vereinsgasse.
Für die Zeit nach der Ausreise war für die in Wien verbleibenden Familienmitglieder vorgesorgt worden. Regina und Ella waren durch Ellas Brüder vor ihrer Ausreise finanziell zumindest für einige Zeit abgesichert. Willy Schab sollte zudem Mutter und Schwester, sobald er sich in den USA eingerichtet hatte, finanziell unterstützen. Aus Angst, Opfer einer staatlichen Erpressung zu werden, wurden Geldfragen und die Person Wilhelm Schab nur in Kürzeln (G.; W.) in der folgenden Korrespondenz angesprochen.
Emil und Marie Kupler, sowie Großmutter Secher waren in einer wesentlich ungünstigeren Situation. Fanny Secher erhielt zunächst eine kleine Pension. Emil und Marie waren hingegen gänzlich auf die Zuwendungen Emil Sechers angewiesen. Die Bürde der finanziellen Unterstützung der Familie in Wien, als frischer und zunächst stellungsloser Einwanderer in New York, teilte er sich mit seinem Neffen Otto Kupler, der vor den Sechers New York erreicht hatte.
Weiters standen Freunde der Familie, Heinrich und Helly Beck bereit, Kuplers unter die Arme zu greifen. Zudem hatte Emil seine Schwester überzeugt, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in die Programme zur Unterstützung der mittellosen Gemeindemitglieder aufzunehmen.
Trotz der kursierenden Gerüchte über weitere Entrechtungsmaßnahmen des Nazi-Regimes und trotz der beginnenden Deportationen nach Polen war die Familie wohl guten Mutes, die Ausreise der Zurückgebliebenen recht bald bewerkstelligen zu können.
Die hier vorgelegte private Korrespondenz der Briefe Sechers und Kuplers nach New York erzählt von dieser Hoffnung, die die Familie den Trennungsschmerz und die zunehmend schwieriger werdende Situation in Wien meistern ließ. Sie dokumentiert auch das Schwinden dieser Hoffnung, die Freude über sich vermeintlich auftuende Chancen zur Ausreise und die langsam zur Gewissheit werdende Einsicht, dass dieses Hoffen und Sehnen sich nicht mehr erfüllen würde.
Marie und Ella berichten von der zunehmenden Entrechtung der als „Juden“ verfolgten Wienerinnen und Wiener. Parks und öffentliche Anlagen sind den Verfolgten versperrt. Straßenbahnfahren wurde immer mehr zum Spießrutenlauf. Willkürliche Kontrollen, Rauswürfe und andere Schikanen waren an der Tagesordnung. Marie spricht stets von den vielen „Laufereien“ in der Doppelbedeutung von Amtsweg, Besorgung und Fußweg. Ein rassistisches Ausgehverbot ab 16:00 Uhr erhöhte den Druck zusätzlich.
Ein Gesetz über die „Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 1 wurde zum Instrument, die Verfolgten aus ihren Wohnungen zu vertreiben und in einem „Judenviertel“ in Wiens Leopoldstadt zu konzentrieren. Marie, Emil und Fanny mussten als Erste die vertraute Wohnung aufgeben und ein Sammelquartier in einer Wohnung in der Lessinggasse 15, in direkter Nachbarschaft zur früheren Wohnung, beziehen.
Die Unsicherheit über die neue Wohnung, die Frage des Umzuges, der Unterbringung der überzähligen Einrichtung sowie die Demütigung des Sammelquartiers zehrten sehr an den Nerven Ellas und Maries.
Zur finanziellen Abhängigkeit von anderen kam die Mühe, die die bewusste Verknappung der Lebensmittel und überhöhte Preise für die als „Juden“ Verfolgten bedeutete. Dinge des täglichen Bedarfs, Wurst, Käse, Milch, Kaffee oder Tee wurden zu unerreichbarem Luxus, der nur über sogenannte „Liebesgabenpakete“ aus dem Ausland, von Familienmitgliedern aus der Schweiz oder aus Lettland erreichbar war. „Nichts zu achelen“, der jiddische Ausdruck für „essen“, ist eine häufig wiederkehrende Bemerkung der Briefschreiberinnen.
Die Gemeinschaft der Verfolgten um die Familien Kupler-Secher-Schab wird über die Monate zunehmend kleiner. Manchen gelingt die Ausreise, andere fallen der Deportation zum Opfer, andere fliehen in den Suizid. Je länger sich die Ausreise verzögert, je strenger die Visa-Vergabe der USA wird, je rigider und zynischer die Verfolgung des Nazi-Regimes wird, desto schwieriger wird es für Ella und Marie, gegen die Hoffnungslosigkeit anzukämpfen. Mit der Zeit werden der Trost, die Geliebten in Sicherheit und Wohlergehen in New York zu wissen, und die Erinnerung an die gemeinsame Zeit zu den letzten verbliebenen Lichtblicken in den Briefen.
Marie und Ella standen sich vor 1938 nicht besonders nahe. Marie, eine zweifache Mutter und bodenständige Hausfrau, war nicht leicht zu erschüttern. Sie herrschte über die Küche, den Mittelpunkt des häuslichen Lebens, und wusste sich stets zu helfen. Ella hingegen war eher die schöngeistige und empfindsame Person, unverheiratet, sich um die Mutter kümmernd. Erst die Umstände der Jahre 1939 bis Juli 1942, als Regina nach Theresienstadt und Ella ins Ghetto von Izbica deportiert wurden, ließ die beiden Frauen und ihre Familien näher zusammenrücken. Jetzt kommt es zu fast täglichen Besuchen, Hilfsdiensten vor allem von Emil und Marie an Ella und Regina. Die eingehenden und ausgehenden Briefe werden miteinander geteilt, gemeinsam gelesen und somit zu einem wichtigen Bindeglied der beiden Frauen. Dieses Verhältnis...