Einleitung
»Wie kommt es, dass wir alle in Bezug auf unsere Persönlichkeit verschieden sind, obwohl ganz Griechenland unter einem Himmel liegt und alle Griechen gleich erzogen werden?«, fragt Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, im 3. Jahrhundert vor Christus. Obwohl wir heute alle recht unterschiedlich erzogen werden, ist die Frage so aktuell wie eh und je. Warum ist dieser so und jene anders? Warum mag Helena Gesellschaft und ihr Bruder Torsten nicht? Warum ist Julia so gefräßig und woher kommt Alis Putzfimmel?
Ich glaube, diese Fragen kann man nicht letztgültig beantworten; kein Mensch ist durchsichtig, kein Mensch kann ausgemessen werden. Der Philosoph Sören Kierkegaard schreibt in seinem 1843 erschienenen Buch Furcht und Zittern: »Der Mensch ist inkommensurabel, es bleibt ein Geheimnis zurück.« Dem Respekt vor diesem Geheimnis, das jeder Mensch ist, steht jedoch die Möglichkeit des Verstehens gegenüber. Solche widersprüchlichen Wahrheiten müssen wir bei dieser Einführung in die Charakterkunde im Auge behalten. Denn nur so lässt sich erfassen, dass der Mensch nicht nur ein Sein hat, sondern auch ein Werden ist.
Ich und Du und Müllers Kuh ist ein konzentriertes Kompendium von sechs Persönlichkeitsstrukturen oder Charakteren: dem Narzissten, dem Schizoiden, dem Depressiven, dem Zwanghaften, dem Phobiker und dem Hysteriker. Es beruft sich auf Fritz Riemanns Grundformen der Angst, erschienen 1975, und Karl Königs Kleine psychoanalytische Charakterkunde von 1992, die Riemanns Typologie aufgreift, erweitert und aus anderen Perspektiven beleuchtet.
Ich und Du und Müllers Kuh entspringt jedoch nicht nur der imaginären Begegnung zweier Psychoanalytiker, sondern verdankt sich vor allem einer echten Begegnung zwischen mir und Ingo Offermanns, Professor für Gestaltung an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Während ich seit vielen Jahren Riemann-Leserin und -Bewunderin bin, wird er schon lange von Karl König begleitet. Dabei schätzt er besonders dessen Ansatz, das Verhalten der verschiedenen Charaktere auch im Arbeitsleben oder in Institutionen zu beschreiben: wie jemand als Chef oder als Mitarbeiter ist, wie er reagiert und worin seine Stärken und Schwächen liegen. Diesen Blick wollte er seinen Studenten vermitteln, die als junge Gestalter zwar lernen, Kommunikation zu visualisieren und zu lenken, aber im Prozess der Gestaltungsarbeit immer auch mit sozialer Kommunikation zu tun haben.
Wir waren uns schnell einig – ich würde für seine Studenten ein Seminar halten. Für das Skript begann ich, Riemann und König zusammenzudenken und mit meinem eigenen Blick zu aktualisieren. Daraus entstand ein kurzes Kompensat, das die sechs Charaktertypen idealtypisch vorstellt und anhand ihres emotionalen, kommunikativen und beruflichen Verhaltens beschreibt. Der Fokus liegt auf dem Umgang – das betrifft sowohl den Umgang mit sich selbst als auch den Umgang mit anderen.
Das Ganze wird getragen von Empathie, Solidarität und Verständnis. Kein Charakter ist besser als der andere, und jede Persönlichkeitsstruktur bzw. jede individuelle Ausprägung hat etwas zur Mannigfaltigkeit der Welt beizutragen. Wir realen Menschen sind ohnehin meist Mischtypen.
Ein paar Monate später habe ich diese verdichtete Zusammenfassung den Hamburger Studenten vorgetragen. Kurz darauf begannen die gut dreißig Seiten, auf denen ich das Wichtigste zu den sechs Charaktertypen dargestellt hatte, die Runde zu machen. Leser fanden sie auch außerhalb der Uni nützlich, und immer wieder sagte jemand: »Daraus müsste man ein Buch machen.« Hier ist es, in vielen Einzelaspekten erweitert und um grundsätzliche Gedanken zur Charakterkunde ergänzt.
Was hat es also mit der Charakterkunde auf sich, und warum spricht Riemann von den Grundformen der Angst? Und was haben Angst und Charakter miteinander zu tun?
Angst ist das Grundsätzliche. Für Kierkegaard, der 1844 mit Der Begriff Angst die menschliche Irrationalität und Unabgeschlossenheit ins Licht des Denkens rückte, ist sie das Gewahrsein der eigenen Lebendigkeit, das immer auch das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit miteinschließt. Deshalb ist Angst für den dänischen Philosophen eine Art Stimmung – der Begriff »Stimmung« stammt von dem Philosophen Martin Heidegger, der in Sein und Zeit von 1924 Kierkegaards Nachdenken über Angst aufgreift und aktualisiert. In der Angst liegt auch die Möglichkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden und sich zugleich selbst zu wählen – als der, der man gewesen ist und als der, der man sein könnte.
Dadurch ist es möglich, das Leben als eigenes Leben zu begreifen. Der Einzelne wird für einen Moment in aller Klarheit mit dem Werden und Vergehen der Welt konfrontiert, mit der Unendlichkeit der Möglichkeiten und der Notwendigkeit, sich angesichts der eigenen Begrenztheit bewusst für sich und seine eigenen Möglichkeiten zu entscheiden – »Entschlossenheit« nennt Heidegger diese antwortende und verantwortliche Haltung dem eigenen Leben gegenüber.
Die existentielle Angst, von der beide Philosophen sprechen, ist eine chaotische Kraft, die den Einzelnen immer wieder zur eigenen Ordnung aufruft. Existentielle Angst ist wirklich beängstigend. Oft genug kann man diese Stimmung nicht einmal aushalten und läuft weg, bequemt sich, verdrängt. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, an diesen tosenden Wassern zu weilen. Er kann sich dort zwar erfrischen, aber er wird sich kurz darauf wieder in seine Behausung zurückziehen. Diese Behausung könnte man Charakter nennen, verstanden als Weise, auf der Welt zu sein, sich dort einzurichten und sich zu seiner Existenz zu verhalten. Der Charakter ist also der grundlegende Umgang mit unserem Leben, mit unserer Lebendigkeit und unserer Vergänglichkeit, sprich mit der existenziellen Angst.
In der Antike, beispielsweise bei Aristoteles, bezog sich das Wort »Charakter« vor allem auf die moralische Haltung eines Menschen, heute jedoch verstehen wir darunter auch Verhaltensweisen und das Grundtemperament. In diesem Sinn kann man Charakter und Persönlichkeit synonym verwenden. Die Charakterstrukturen dieses Buches – der selbstbesessene Narzisst, der detachierte Schizoide, der abhängige Depressive, der verklemmte Zwanghafte, der schattenhafte Phobiker und der publikumshungrige Hysteriker – scheinen wie Panzerungen, die den Einzelnen zugleich schützen und deformieren.
Panzerungen? Man könnte die charaktertypischen Neigungen und Krümmungen durchaus als eingeschliffene Routinen und Gewohnheiten beschreiben, doch Menschen können sich auch verändern, reifen, Grenzen überwinden. Beides ist wahr. Vielleicht stellen wir uns den Charakter einfach als einen beweglichen Panzer vor, der ebenso gut festwachsen wie mitwachsen kann, stabil und flexibel zugleich. Doch warum sind die Charaktere so unterschiedlich?
Historischer Überblick
Die Frage nach unserer Verschiedenheit ist so alt wie die Menschheit. Die alten Griechen glaubten daran, dass die Natur aus vier Elementen besteht: Luft, Erde, Feuer und Wasser. Hippokrates, der berühmteste Arzt der Antike, entwickelte darauf aufbauend im zweiten Jahrhundert vor Christus die erste wissenschaftliche Typologie der Persönlichkeit. Die »Säftelehre«, auch »Humoralpathologie« genannt – humor bzw. umor ist das lateinische Wort für Feuchtigkeit, Flüssigkeit, Saft –, brachte jedes Element mit einem Körpersaft und dem dazu passenden Temperament in Verbindung. Der sanguinische Typ ist enthusiastisch und optimistisch, sein Element ist die Luft und sein Wesen wird vom Blut bestimmt. Das Temperament des Melancholikers wird von der schwarzen Galle gefärbt, seine Stimmung ist traurig, sein Element die Erde. Das Element des Cholerikers ist Feuer, sein Jähzorn und seine Reizbarkeit korrespondieren mit gelber Galle. Schleim hingegen bestimmt den Phlegmatiker, er ist apathisch, langsam und sein Element ist das Wasser. Schon bei Hippokrates gibt es also Überlegungen zum Verhältnis von Umwelt und biologischer Determination – wie sollte man sonst Unterschiede zwischen Geschwistern erklären?
Nach dem heutigen Stand der Forschung stellen die Gene Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung, die sich in Interaktion mit der Umwelt entfalten oder verkümmern. Ob ein Mensch als Produkt vielfältiger Wechselwirkungen von Anlage und Erfahrung seinen Charakter erwirbt oder ob er sein Charakter ist, kann nicht endgültig entschieden werden. Doch mit Riemann, der einem ganzheitlichen Menschenbild verpflichtet ist, glaube auch ich an die Fähigkeit des Menschen, sich ...