Kapitel 1: DIE TRENNUNG
»Der IS greift an« — Die überstürzte Flucht der Kurden — Der Beginn des Exodus — Eine peinlich genaue Razzia — »Die Männer nach links, die Frauen nach rechts« — Verschleppt
Heute Nacht hat mich wieder ein schlechter Traum heimgesucht. Gesichtslose Männer marschierten vorbei, den Säbel im Gürtel und die Kalaschnikow umgehängt. Sie zogen durchs Dorf. Es waren Tausende. Eine Truppe von Kämpfern ohne Augen, ohne Nase, ohne Lippen. Eine Schattenarmee in pechschwarzer Nacht. Sie trugen Fackeln. Die Straße war ein endloses Flammenmeer, und unsere Wohnhäuser waren Scheiterhaufen. Die gesichtslosen Männer brüllten wie Bären. Sie johlten:
»Schlachtet sie alle ab!«
Sie sind über die Schwelle unseres Hauses getreten, um mich mit einer Salve aus ihrem Schnellfeuergewehr zu erschießen.
Mit rasendem Herzklopfen wache ich auf.
Blasses Licht fällt durch die durchbrochenen Vorhänge. Ich drehe mich im Bett um, mein Geist ist durch meinen Albtraum verwirrt. Walid, mein Mann, ist seit zwei Wochen fort. Mein Geliebter ist Maurer auf einer Baustelle in Sulaimaniyya, einer großen, von Bergen umgebenen Stadt in der Autonomen Region Kurdistan im Irak.
Aus der Küche weht der Duft von Linsensuppe herüber. Meine Schwiegermutter bereitet das Frühstück zu. Das Haus von Walids Eltern erwacht ganz friedlich. Nesrine, ihre älteste Tochter, und deren Tochter Rezan schlafen noch. Amina, die Jüngste, hat auf ihrem Handy ein Kartenspiel begonnen, als der Apparat zu vibrieren beginnt. Ihre Cousine Diana ruft aus einem Dorf an, das nicht weit von unserem entfernt liegt:
»Der IS ist ins Dorf eingezogen! Der IS greift an!«
Ich habe damit gerechnet, irgendwann überstürzt aufbrechen zu müssen. Seit mehreren Tagen hatte mich das Gefühl einer drohenden Gefahr im Griff und damit die Furcht davor, dass eine Welt zusammenbrechen würde: meine Welt. Noch nie habe ich etwas Ähnliches empfunden. Eine unabwendbare Katastrophe bedroht mich und reißt auf ihrem Weg alles mit sich fort.
Wir müssen abhauen. Khero, Walids Vater, drängt die kleine Frauengruppe, die seine Welt ist, zur Eile. Amsha, seine Frau, beklagt sich in der Küche, ich höre den Krach eines Stapels Töpfe, die zu Boden fallen. Ich ziehe den Wollteppich beiseite, der am Fuß unseres Schlafplatzes liegt, und hebe mit Kheros Hilfe die Zementplatte an. Aus dem Versteck hole ich eine Ledergeldbörse und einen Strickstrumpf, der von einer dünnen Schicht Gipsstaub bedeckt ist. Ich habe sie nach unserer Hochzeit angefertigt, um unseren Schatz darin aufzubewahren: etwa 3000 Dollar in Gold und Silber. Unser Vermögen. Khero drängt mich. »Los, beeil dich! Pack alles zusammen!«
Nesrine ärgert sich über Rezan, die quengelt. Sie kann sich nur schwer entscheiden, was sie von den Kindersachen mitnehmen soll. Rezan kann gerade erst laufen und beginnt, dayeke zu sagen, was in unserem kurdischen Dialekt »Mama« bedeutet. Ich helfe Nesrine, ihre Schätze in ihren Kleidern zu verstecken. Sie nimmt 5000 Dollar mit. Ihr Mann Baktiar ist auch nicht da: Er arbeitet als Hilfsarbeiter im Nordosten, in der Nähe der türkischen Grenze.
Mein Schwiegervater drängt uns zur Eile. Wir haben Vorräte eingepackt: Brot, Gemüse und Wasser. Viel Wasser, denn der Tag wird sicher brütend heiß werden. Er nimmt seine Kalaschnikow mit, die er unter den Autositz schiebt, und legt seinen Revolver ins Handschuhfach. Als ich ihn mit der Waffe in der Hand sehe, schwindet meine Angst. Ich schließe die Augen, atme tief durch und steige in den alten dunkelbraunen Opel Vectra. Als ich ohne weiter nachzudenken die Tür zuschlage, dreht sich alles in meinem Kopf. Rezan, die neben mir auf den Knien ihrer Mutter sitzt, heult. Das Kind saugt wie ein Schwamm die Angst auf und wird davon durchtränkt. »Hör endlich auf zu nerven. Beruhige dich, du musst dich jetzt zusammenreißen«, schimpft ihre Mutter.
Khero lässt den Motor an, löst die Handbremse, ändert dann seine Meinung:
»Oh Gott, ich habe die Vögel vergessen! Wartet im Auto auf mich. Ich bin sofort wieder da.«
Er läuft zur Volière und öffnet das Gitter, was lautes Gepiepse und Flügelschlagen zur Folge hat. Ein bunter Vogel verlässt seine Stange, um seinen Schnabel auf die andere Seite der Stäbe zu stecken, er zögert ein wenig, dann flattert er davon und lässt sich auf einem Stein nieder. Er ist der Einzige, der das Abenteuer wagt. Die Kanarienvögel folgen ihm nicht in die Freiheit. Jedenfalls nicht sofort. Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, sich um sie zu sorgen?
»Macht es gut, meine Freunde«, murmelt Khero.
Die Nachbarn haben ihre Koffer auf das Dach ihres Autos geschnallt, sind aber noch nicht fertig. Daher fahren wir ohne sie los. Auf der Hauptstraße herrscht Aufruhr. Die Nachricht vom Angriff des »Islamischen Staates« hat sich im Dorf verbreitet, das am Fuß des Sindschar-Gebirges liegt. Die Dorfbewohner machen sich zu Fuß, im Auto oder zusammengedrängt auf den Ladeflächen von Kleinlastern davon. Allgemein ist Panik zu spüren. Die Ängstlichsten sind bereits fort. Die Leichtsinnigsten beeilen sich mit den letzten Vorbereitungen.
Unter den Dorfbewohnern, die es am eiligsten haben, sich davonzumachen, sind Bachir und Rojko. Gestern noch waren sie entschlossen, sich »bis zum Schluss zu verteidigen«. Das zumindest hatten sie überall herumposaunt. Sie gehören zur Wachbrigade. Sie haben sich bewaffnet, um an den nächtlichen Rundgängen teilzunehmen. Beim geringsten verdächtigen Geräusch während ihrer Rundgänge gaben sie Schüsse ab. Das hat uns keine Angst gemacht. Da sie noch unerfahren waren, haben unsere Beschützer auf gut Glück geschossen, einfach vor sich hin. Das hat sie wohl beruhigt. Uns übrigens auch. In den letzten Tagen hatten die Händler die Gitter vor ihren Geschäften herabgelassen und die Bauern sind nicht mehr auf die Felder gegangen. Jede Aktivität war erlahmt. Wir hatten überlegt, das Dorf heimlich zu räumen, aber uns war klar, dass die Flucht schwierig werden würde. Um sich dem Einfluss des IS zu entziehen, hätten wir das Sindschar-Gebirge mit seinen vertrauten Gipfeln umrunden müssen. Anschließend müssten wir auf unserer Route Rojava umfahren, den syrischen Teil Kurdistans, bevor wir den Fluss Tigris überqueren könnten, um weiter nördlich in die Region des irakischen Kurdistan in unmittelbarer Nähe der türkischen Grenze zu gelangen. Schließlich hätten wir dann Zuflucht in der Nähe der Stadt Zakho finden können, wo wir Verwandte haben. Im Ganzen eine Strecke von über 200 Kilometern. Die Peschmerga, kurdische Soldaten, haben uns davon abgeraten, eine solche Reise zu unternehmen.
»Warum wollt ihr fort? Wir beschützen euch. Ihr könnt auf uns zählen. Ihr kennt unsere Tapferkeit«, rief Kekan in die Menge, der Chef der Peschmerga, die im Dorf und in der Umgebung stationiert waren. Diejenigen, die verkündeten, sie wollten trotzdem fort, mussten sich Einwände anhören.
»Ihr werdet nicht weit kommen. Die Übergänge zwischen Syrien und dem Irak sind dicht. Die Grenze ist geschlossen. Ihr könnt das Gebirge nicht umrunden.«
Also vertrauten wir lieber den Peschmerga, diesen »Männern, die den Tod nicht fürchten«, wie sie auf Kurdisch heißen. Kekan hatte einen dicken Bauch und ähnelte kaum dem Bild, das ich mir von Saladin machte, dem kurdischstämmigen Eroberer, den die arabisch-muslimische Geschichte feiert. Khero, Walids Vater, zufolge hatte Kekan sich tapfer gegen Saddam geschlagen, der die Kurden und die Jesiden hasste, aber diese Heldentaten liegen schon sehr lange zurück. Sein Ruf als Kämpfer hat jedoch ganz selbstverständlich überlebt. Er wird respektiert. Er war bei allen Kämpfen vor 25 Jahren dabei, als der Diktator aus Bagdad die Brutalität so weit getrieben hatte, die Kurden von Halabdscha, in der Nähe der iranischen Grenze, mit chemischen Waffen zu vergasen. Er war ein Haudegen unter Haudegen. Wir hätten nie gedacht, dass er in der Nacht vom 3. August türmen würde.
Kekan und seine kleine Truppe haben das Dorf kurz vor Tagesanbruch verlassen. Er hatte kurz zuvor von den jesidischen Wachposten erfahren, dass in Sindschar, dem großen Ballungsraum der Region, wo 300000 Menschen leben, ein Angriff des IS begonnen hatte. Er hatte den Auftrag bekommen, sich zurückzuziehen. Und Kekan verließ seinen Posten. Sein Fall ist kein Einzelfall. Die christlichen Dörfer der Ninive-Ebene und der Stadt Qaraqosh erfuhren dasselbe Schicksal. Das sollte ich jedoch erst später erfahren.
Seit Monaten herrscht die Angst. Sie hat sich im Mai von Syrien aus in den Irak ausgebreitet, als die sunnitischen Aufständischen verkündeten, sie würden die Grenzen aufheben, um nur noch ein Land anzuerkennen: Mesopotamien. Wir Jesiden bezeichnen den »Islamischen Staat« im Irak und in der Levante mit seinem islamischen Namen: Daesh.
Im Juni hatte der »Islamische Staat« mühelos die Kontrolle über Mossul übernommen, die zweitgrößte Stadt im Irak mit zwei Millionen Einwohnern. Die irakische Armee hatte einfach aufgegeben. Ein identisches Szenario hatte sich in unserer Nähe, etwa 20 Kilometer entfernt, in Tal Afar abgespielt.
Als Tal Afar am 9. Juni fiel, suchten die arabischen Schiiten bei uns Zuflucht. Wir haben sie gut aufgenommen. Familien, die freie Zimmer hatten, boten sie den Flüchtlingen an. Diejenigen, die nirgendwo untergekommen waren, schliefen in der Schule. Sie erzählten uns von der Gewalttätigkeit des Daesh. Ich war entsetzt. Bei einer Hochzeit, zu der ich eingeladen war, konnte ich mit einer Flüchtlingsfrau sprechen, deren Vater, ein Musiker, nun als Nomade Flöte spielte und von...