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Ich weinte nicht, als Vater starb ... und hasste Sex, bis ich Liebe fand

Geschichte eines Inzests und einer Heilung

AutorIris Galey
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783864157950
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Iris war 14, als sie das Geheimnis preisgab: Sie wurde jahrelang von ihrem Vater missbraucht. Zwei Tage später erschoss sich der Vater. Iris wurde in ein Mädcheninternat gesteckt und sprach nie mehr davon - bis sie 40 Jahre später, in Neuseeland, eine TV-Sendung über Inzest sah und die Tragödie ihrer Lebensgeschichte aufzuschreiben begann. Ihr Buch Ich weinte nicht, als Vater starb, in dem sie sich den Namen Olivia gab, um Distanz zum Erlebten zu gewinnen, erschien 1986 zum ersten Mal und wurde ein Weltbestseller. Heute ist Iris Galey 80 Jahre alt und glücklich verheiratet. Es war ein langer und harter Weg der Heilung mit vielem Scheitern und Wiederaufstehen, um das tief sitzende Kindheitstrauma zu überwinden und mit der unsichtbaren Verletzung leben zu lernen. Dieser Doppelband enthält den Weltbestseller Ich weinte nicht, als Vater starb und die neue Fortsetzung ... und hasste Sex, bis ich Liebe fand, in der Iris Galey ihre Geschichte bis heute fortschreibt. Sie beweist, dass es nie zu spät ist für einen Neuanfang und jeder seine Kindheit im Rückblick noch einmal neu gestalten kann. Mit einem Vorwort des Traumatherapeuten Steven Hoskinson.

Iris Galey wurde 1936 in Basel geboren. Mit neun Jahren zog sie nach England, wo ihr Vater sie vier Jahre lang sexuell missbrauchte. Nach dem Selbstmord ihres Vaters kehrte sie zurück in die Schweiz. Im Jahr 1980 wanderte sie nach Neuseeland aus. Seit 1983 engagiert sich Iris Galey weltweit für Inzestüberlebende, gibt Vorträge und Workshops zum Thema und unterstützt Opfer dabei, selbst zu genesen. Ihr eigenes Leben als Inzestopfer hat sie in Büchern beschrieben. Ich weinte nicht, als Vater starb wurde zu einem internationalen Bestseller. Heute lebt sie in der Nähe von Basel.

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Leseprobe

1


Frau Dresden, unsere deutsche Haushälterin, bot mir nach dem Begräbnis einen Apfel an.

Ich konnte den Geruch der Cox-Orange nicht aushalten, denn mein Vater hatte sich dort oben auf dem Dachboden, wo die Äpfel für den Winter gelagert waren, erschossen.

Ich war vierzehn, und er hatte es meinetwegen getan.

Ich hasste dieses Haus in Bradford, hatte das Nachhausekommen gehasst, seit wir dort lebten.

Ich blickte mich im Spülraum um, der neben der Küche lag, und sah Frau Dresden verbissen Eiercreme in einer Schüssel schlagen. Ihre fleischigen Arme bebten im Rhythmus ihrer Bewegungen. Wenn es Krisen gab, machte sie immer Pudding.

Als ich die samtige gelbe Creme schlürfte und zu dem neuen Herd aus rotem Backstein hinübersah, vermisste ich die schwarz polierte Yorkshire-Kaminsole, die herausgerissen worden war. Das einzige Überbleibsel aus alten Zeiten war der Kleiderhalter an einem Flaschenzug, der mit der feuchten, vergessenen Wäsche unter der Decke hing.

Widerwillig betrachtete ich die Unterhosen meines Vaters und jene riesigen unserer Haushälterin. Mich schauderte, und ein eiskalter Schweißtropfen rollte mir den Rücken hinunter.

Er wird diese Unterhosen nicht mehr brauchen, dachte ich. Ich war froh und fühlte kein Bedauern. Ich fragte mich, wo Mama war. Erinnerungen stiegen hoch …

Jeden Abend, wenn Vater mit seinem Triumph Dolomite die Auffahrt hochfuhr, hatte ich Angst. Ich beobachtete ihn durch das Seitenfenster. Kleinlich untersuchte er sein Auto nach den winzigsten Schmutzflecken auf dem blauen Lack. Dann hinkte er mit seiner arthritischen Hüfte durch die Hintertür. Ich hörte, wie er Frau Dresden anschrie und zurechtwies.

Jeden Abend ließ er mich warten, weil er die Schuhe, die ich zu putzen hatte, inspizieren wollte. Manchmal schlug er mit einem Schuh auf meinen Kopf, ein andermal stieß er ihn in meinen Bauch.

»Ich habe ihr beigebracht zu kochen, doch nie macht sie es so, wie ich es ihr gezeigt habe, und du bist auch ein Schwachkopf. Wieso bist du zu blöde, ein paar Schuhe zu putzen, so wie ich es dir gezeigt habe? Was für ein Versager ist mein Kind! Wieso bin ich dazu verdammt, so eine Sammlung von dummen Weibsbildern um mich zu haben?«

Er rief immer vom Gang her: »Du bist ganz alleine für deine Fehler verantwortlich! Darum musst du Disziplin lernen und entsprechend erzogen werden!«

Selbst wenn ich Beulen auf meiner Stirn hatte, wagte es niemand, seine Autorität infrage zu stellen. Er hatte es weit gebracht. Als Direktor eines bekannten schweizerischen Chemieunternehmens wurde er sehr respektiert und gefürchtet. Er hatte uns alle von unserer Minderwertigkeit überzeugt. Er hätte viel lieber einen Sohn gehabt und ließ uns immer spüren, dass man ihn wegen der Geduld, die er für uns aufzubringen hatte, eigentlich hätte bemitleiden müssen.

Und jede Nacht hatte es noch Schlimmeres gegeben, viel Schlimmeres. Ich konnte jetzt kaum noch atmen, wenn ich nur daran dachte.

»Heute Nacht nicht! Keine Nacht mehr!« sagte ich laut, während ich fingerschleckend die Cremeschüssel leerte und meine schmutzigen Schuhe zur Seite stieß.

»Vot’s zat?«, fragte die Haushälterin.

»Nichts, Frau Dresden!«

Meine Gedanken kehrten zu dem Begräbnis zurück. Ich hatte mich sehr bemüht zu weinen, doch die Tränen wollten nicht kommen. Wir alle standen vor der Kapelle auf dem Friedhof. Mutter wies mich darauf hin, dass der Gürtel an meinem dunkelblauen Trauerkleid verdreht war. Ich hatte es schon zur Schule angezogen und war das einzige Mädchen ohne Uniform gewesen. Heute war die Schule aus für mich. Ich erinnerte mich, wie sehr ich gehofft hatte, dass meine hinter dem Rücken gefalteten Hände mir das Gefühl und den Anschein von mehr Traurigkeit geben würden, als ich tatsächlich empfand. Ich betrat die Kapelle, froh, den vielen Reihen von Gräbern zu entrinnen. Skelette da unten, verwesendes Fleisch. Grinsende Zähne, die Zahnärzte einst mit Goldfüllungen versehen hatten. All diese Nerven jetzt tot. Ich setzte mich in die vorderste Bankreihe und war mir sicher, Gott könne mich durchschauen: Anstatt mich zu grämen, dachte ich nur Schlechtes.

Ich bemerkte Freunde und Männer aus der Firma meines Vaters. Diejenigen, die ich sah, weinten nicht. Niemand außer Mama weinte. Der Kranz der Firma war der größte, ganz in Grün, Weiß und Gold. Blumen, die nach dem Winter auf ihrem Weg ans Licht die harte Erde durchstoßen hatten, um schließlich auf einem Sarg zu landen!

Jetzt, daheim im Spülraum, fragte ich mich, ob ich mich anders hätte verhalten sollen, um den Erwartungen meiner Mutter und der anderen zu entsprechen. Ich konnte es nicht, dachte ich. Ich konnte es nicht, weil alles, was ich empfand, unglaubliche Erleichterung war. Die Erleichterung war jetzt so groß, dass ich zu weinen anfing …

»Danke für den Pudding«, rief ich und versetzte der Wandtäfelung Tritte, während ich den dunklen Korridor entlangging.

»Hör auf damit und zieh dir deine Socken hoch!«, brüllte Frau Dresden.

Ich lief am Wohnzimmer vorbei und war überrascht, dass kein Feuer im Kamin brannte. Jeden Abend nach der Schuhputzprozedur hatte Vater mit einem Krug Guinness-Bier am Feuer gesessen. Er stocherte so lange mit dem Schürhaken in der rot glühenden Kohle herum, bis auch dieser durchscheinend rot glühte, worauf er ihn schnell in die dunkle Flüssigkeit tauchte und umrührte. Ich sah, wie der Schaum hochschoss und überlief. Seine Lippen wurden ganz weiß, wenn er den Schaum abschlürfte.

Einmal, als ich mich besonders mutig fühlte, hatte ich ihn gefragt: »Papa (denn ich durfte ihn nicht Vater nennen), warum kannst du mich nicht einfach lieb haben? Weißt du, so wie andere Papas? Nicht mit … dem … einfach lieb haben?« Mit spöttischem Blick sah er auf, der Muskel in seiner Wange zuckte. Er schlug seine Knie zusammen, dann lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück, streckte die Beine aus, steckte seine Hand in die Hosentasche und sagte: »Schau, wie er groß wird. Schau dir dein Spielzeug an. Schau, wie er hüpft! Er gehört dir. Er will, dass du ihn anfasst und hältst. Er kann nicht anders! Schau, wie dein Spielzeug hüpft.«

Ich stand da, diese schreckliche Übelkeit stieg in mir auf, wie immer. Ich wollte fortlaufen, aber ich wagte es nicht. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass niemand kam, dann stürzte er sich auf mich, packte meine Hand und presste sie dorthin.

Ich hatte den leeren Kamin und den Sessel, in dem er gesessen hatte, angestarrt; jetzt wandte ich mich ab. Mich überkam das gleiche Gefühl wie damals. Dieses schmerzliche Gefühl von Einsamkeit und Wertlosigkeit. Alles in mir sehnte sich nach jemandem, der mich halten und streicheln würde, ohne diesen entsetzlichen Teil – das Sexuelle.

Ich lief weiter, hielt unten an der dunklen Treppe an und schaute hinauf.

Dort oben hatte er es getan.

Langsam stieg ich zum Dachboden hinauf. Der Geruch der Äpfel umgab mich.

Ekelerregend. Ich streckte meine Arme über das Geländer hinaus, bewegte sie auf und ab wie Flügel und sagte: »Ich bin ein Vogel. Ich bin ein Vogel, und ich kann wegfliegen, und es ist gut, ein Vogel und ein Mädchen zu sein und zu fliegen.« Wieso sagte ich dies immer, wenn ich hinaufging? Ich zögerte, als ich oben vor seiner Schlafzimmertür angekommen war, der Tür, durch die ich so oft hatte gehen müssen.

Zaghaft öffnete ich die Tür und starrte an die Decke. »Nun ist alles gut«, sagte ich laut. »Er ist für immer fort! Er kann mir nicht mehr wehtun, nie mehr!« Nach einer Weile wagte ich es, den Blick zu senken. Was ich sah, ließ mich erschaudern. Ich fühlte mich nicht gut und wollte nicht hierbleiben, und doch musste ich hinsehen.

Auf der blau-weiß gestreiften Matratze war ein großer, feuchter Fleck. Der ausgewaschene rötliche Fleck, der vom Tod meines Vaters zeugte.

Wie unter Zwang musste ich in dem Raum mit seiner schrägen Decke und dem Dachfenster herumschauen. Dort waren der Schreibtisch, der Hocker, Bett und Nachttisch – alles in Chrom und schwarzem Marmor, außer der rot-weißen Schweizer Fahne, die mit vier Nägeln an die Wand geschlagen war.

Ich sah den knochigen, glatzköpfigen Mann vor mir, wie er meine Beine auseinanderriss und sich zwischen sie presste. Ich war neun, als es begann. Ich fühlte seine Schläge, wenn ich mich wand. Ich sah ihn, wie er schnell nach seiner goldgeränderten Brille auf dem Nachttisch griff, um mich besser betrachten zu können. Wie die Wolfsgroßmutter in ›Rotkäppchen‹.

Wieso musste ich jetzt ausgerechnet daran denken? Ein Märchen! Hu! Wie er gerieben und gezerrt und mich angestarrt hatte! Wie mein dünner Arm sich...

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