1 Es muss sich etwas ändern, aber was?
»Es muss sich etwas ändern!« Wie oft denken oder sagen wir diesen Satz, immer und immer wieder. Er könnte auch heißen: »Ich kann nicht mehr!«, oder: »So geht es nicht weiter!«
Wir machen damit unserer Frustration Luft, wir klagen Freunden unser Leid, wir drehen uns in endlosen Gedanken rund um unsere Situation und sammeln wohlgemeinte Ratschläge. Doch was dann geschieht, ist meistens – nichts.
Nach vielen versuchten Wegen und Irrwegen macht sich oft nur noch Hoffnungslosigkeit breit. Kein Ausweg in Sicht, keine Perspektive, keine Idee. Zumindest keine umsetzbare. Wie man es dreht und wendet, nichts geht voran, nichts löst sich. Das Leben scheint in eine Sackgasse geraten zu sein.
Wenn wir uns in einer solchen Situation ernst nehmen und alleine nicht weiterkommen, brauchen wir Hilfe von außen. Gefragt ist jetzt ein anderer Blickwinkel, vielleicht auch professionelles Handwerkszeug. Und so kommen viele Menschen in meine Praxis. Sie geben mir eine Zusammenfassung ihrer unglücklichen, wenn nicht gar katastrophalen Lebenssituation und landen letztlich immer bei diesem Satz: »Es muss sich etwas ändern!«
Es sind Menschen wie Sie und ich, die da kommen. Ganz normale Menschen, die sich in eine Situation verrannt haben und den Ausweg nicht sehen. Wie Kathrin zum Beispiel, die sich am Ende ihrer Kraft fühlt, weil sich ihre Gedanken nur noch um einen Mann namens Martin drehen. Gefühlte vierundzwanzig Stunden am Tag fragt sie sich, wie sie sein Herz wieder erobern kann und wie sie sich in Bezug auf ihn verhalten soll. Als hätte sie keinen anspruchsvollen Job, der sie fordert, als hätte sie kein kleines Kind, das ihre Liebe braucht. Oder wie der junge Informatiker Philipp, der tagaus, tagein vor dem Computer sitzt, während das Leben da draußen an ihm vorbeizieht. Oder Sabine, die mit Anfang 60 immer häufiger ihre Einsamkeit und Verbitterung spürt, die sie ihr Leben lang mit Arbeit überdeckt hatte. Es kommen Menschen, deren Existenz gefährdet ist, aber ebenso auch solche, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere sind. Wie Andreas, der in seinem Job so brillierte, dass er Stufe um Stufe die berühmte Leiter erklomm, bis ihm unlängst bewusst wurde, dass sein Job ihm gar keine Freude mehr macht. Statt seiner eigentlichen Arbeit als Ingenieur nachzugehen, trägt er nun Verantwortung für 160 Mitarbeiter und hetzt von einem Meeting zum nächsten. Das ist gar nicht sein Ding.
Oder Anke. Seit zehn Jahren führt sie ein Leben, das sie nicht mehr als ihr eigenes empfindet. Sie hat sich in ihrer Ehe mit Christoph eingerichtet. Alles dreht sich um die Kinder, um den Haushalt, um das Schlankhalten ihres Körpers im Fitnessstudio, während Christoph ein Leben auf der Überholspur führt. Er arbeitet als Manager in einem Unternehmen, in dem sich die Schnelllebigkeit selbst zu überholen scheint und die Globalisierung permanente Erreichbarkeit fordert. Anke weiß, dass Christoph fremdgeht, doch er weiß nicht, dass sie das weiß. Die beiden haben nie darüber geredet. Sie reden überhaupt selten, und richtig eigentlich nie. Er ist ja auch kaum da. Zur Beratung kommt sie, weil ihr Arzt sie schickt. Sie habe eine Depression. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Depression als Resignation. Anke fühlt sich nutzlos, seit die mittlerweile pubertierenden Kinder immer häufiger ihre eigenen Wege gehen. Früher war sie einmal Buchhändlerin gewesen. Der Job hatte ihr Spaß gemacht, doch den Weg zurück ins Arbeitsleben traut sie sich nicht zu. Wie sie sich überhaupt wenig zutraut. Und so vergeht Tag um Tag, das Leben plätschert so dahin. Es gehe ihr ja nicht schlecht, sagt sie. Keiner sei krank, sie habe keine Geldsorgen, eigentlich sei ja alles o.k. Nur fehle ihr eine Aufgabe. Doch mit der Aufgabe fehlt der Sinn, die Lebendigkeit. Aber das wird schon wieder, so denkt sie. Wenn die Kinder aus dem Haus sind und Christoph nicht mehr so viel arbeiten muss, dann beginnt ja vielleicht ein neues Leben. Vielleicht.
Anke ist genügsam geworden. Wie so viele Menschen hat sie resigniert und betrachtet ihr unerfülltes Leben als einen natürlichen Zustand. »Es ist halt so, da kann man nichts machen«, sagte sie sich jahrelang und führte ein Leben in der Warteschleife. Dass sie in meine Praxis kam, war eher Zufall, doch nach ein paar Terminen war sie nicht wiederzuerkennen. Zum ersten Mal beschäftigte sie sich wirklich mit sich selbst, zum ersten Mal schaute sie sich genau an, zum ersten Mal fühlte sie sich gesehen. Wenn schon nicht von Christoph, dann doch wenigstens von sich selbst. Was sie da sah, überraschte sie. Man konnte richtig zuschauen, wie sie dabei aufblühte.
Natürlich gibt es auch Menschen, die ihr Leben ganz ohne professionelle Hilfe ändern, wenn sie zur Gewissheit gelangt sind, dass es so nicht weitergeht.
Amelie war Anfang 40, als ihr plötzlich und in aller Dringlichkeit bewusst wurde: »Wenn ich jetzt nicht etwas anders mache, dann gehe ich endgültig kaputt.« Nach einer schweren Kindheit mit einem manisch-depressiven Vater war sie mit 17 von zu Hause ausgezogen. Mit 18 hatte sie von einer flüchtigen Liebesaffäre ein Kind bekommen und schuftete seither rund um die Uhr als Hebamme, um sich und ihr Kind zu versorgen. Sie hatte sich einen Namen gemacht, war die Hebamme in der Stadt. Das bedeutete, sie war immer im Einsatz, 23 Jahre lang. Denn Hebammen haben niemals Feierabend, schon gar nicht, wenn sie die Bedürfnisse der Neugeborenen und deren Mütter über ihre eigenen stellen. Nebenher hatte sie versucht zu studieren und halbwegs normale Liebesbeziehungen zu leben, aber das mit den Männern war so eine Sache. Amelie ist auf natürliche, ungeschminkte Weise schön und hat ein großes Herz, und so verliebte sie sich ebenso leicht in Männer wie diese sich in sie. Doch ihre Beziehungen waren meist emotionale Achterbahnfahrten mit starken Gefühlen, schweren Verletzungen und wechselseitigen Abhängigkeiten. Ihr letzter Freund hatte sich das Leben genommen. Danach war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, am Ende ihrer Kraft.
Zwar hatte sie seit dem frühen Erwachsenenalter unzählige Stunden bei verschiedenen Psychotherapeuten verbracht, doch eine wirkliche Wende in ihrem Leben trat erst ein, nachdem sie am Rande des psychischen und körperlichen Abgrunds eine folgenschwere Entscheidung getroffen hatte. Diese lautete kurz und knapp: Ich will gesund sein. Und dies bedeutete: Ich will mein Leben ändern. Radikal.
Ab diesem Moment krempelte sie ihr Leben um. Wie sie das tat, hat mich beeindruckt. Sie tat es ohne Begleitung und ohne psychologische Unterstützung. Aber sie tat es so, als hätte sie dieses Buch gelesen. Als hätte sie Stück für Stück ihre innere Landkarte erarbeitet, als sei sie Schritt für Schritt, genau wie hier beschrieben, in ein neues Leben gegangen. Doch sie konnte es nicht gelesen haben, denn ich traf sie erst am Ende. Am Ende ihres Veränderungsprozesses, am Ende ihrer Reise in ein neues Leben. Und genau zu dem Zeitpunkt, als ich das Ende dieses Buches schrieb.
Wenn ich Geschichten voll von Überanstrengung, Überforderung, Verletzungen, Leid oder Leere höre, dann frage ich mich oft, was eigentlich noch alles passieren muss, bis Menschen an den Punkt kommen, an dem sie es ernst meinen mit ihrem »So geht’s nicht weiter!«. Auch ich selbst steckte schon häufiger in Lebenssituationen, die so nicht weitergehen konnten. Sackgassen machen auch vor Psychologen nicht halt. Meine berufliche Situation war davon glücklicherweise nie betroffen, aber wie oft habe ich an Beziehungen festgehalten, die mir nicht guttaten. In denen sich dringend etwas ändern musste. In denen ich wartete und auf Wunder hoffte, die sich natürlich nie einstellten. Es gibt Situationen im Leben, da kann man auch mit dem besten psychologischen Verständnis und Handwerkszeug Leid nicht verhindern. Sonst würden Psychologen ja durchweg im Glück baden. Natürlich hilft unser professionelles Wissen, auch das eigene Unglücklichsein in einem einigermaßen erträglichen Rahmen zu halten. Wir können verhindern, dass es auf alle Lebensbereiche übergreift, kennen Techniken, um Linderung zu schaffen und Abkürzungen zu nehmen. Und möglicherweise können wir den Seelenschmerz sogar für irgendetwas nutzen. Doch auch wir stoßen an Grenzen. Und dann suchen wir, was alle in einer festgefahrenen Situation suchen sollten – die Perspektive von außen, von einem neutralen Dritten, von einem Psychologen oder anderen Experten.
Trotz aller Bemühungen und aller Kompetenz bekommt man aber auch mit deren Hilfe nicht immer, was man will. Es gibt Situationen im Leben, in denen muss man sich mit einer zweit- oder gar drittbesten Lösung zufriedengeben, auch wenn uns die vielen Glücks- und Erfolgsversprechen etwas anderes suggerieren. Letztlich geht es darum, das eigene Leben im Rahmen der eigenen Möglichkeiten bestmöglich zu gestalten. Sich zu reflektieren, sich zu erkennen, sich gemäß dem eigenen Potenzial eine dazu passende Lebenswelt aufzubauen. Und sich selbst innerlich so zu entwickeln, dass es sich im Rahmen der Gegebenheiten möglichst gut leben lässt. Es geht darum, ein erfülltes Leben zu leben.
»You can’t stop the waves, but you can learn to surf«, so wird der Rinpoche Chögyam Trungpa zitiert. Doch auch wenn Sie bestmöglich surfen lernen, Sie werden immer wieder ins Wasser fallen, denn das gehört zum Surfen einfach dazu. Das heißt, Sie werden möglicherweise immer mit irgendetwas ein wenig unzufrieden sein, Sie werden Stürze erleben und sich Verletzungen holen, doch wenn Sie Ihr Leben selbst entworfen haben und sich in der Kunst des Lebens üben, wird Sie das nicht mehr...