Vorrede: Kunterbunte Lebensmitte
Die Lebensmitte ist auch nicht mehr, was sie einmal war.
Sie ist jetzt bunt, ja kunterbunt. Sie ist wechselvoll. Sie ist spannend. Und sie ist anstrengend geworden. Wer heute Anfang vierzig bis Mitte fünfzig ist, kann ein Lied davon singen.
Die Lebensmitte galt noch für unsere Eltern als eine Zeit der Ernte – der Mann hat im Beruf etwas erreicht, er bleibt in „seiner“ Firma bis zur Rente. Die Frau hat wieder mehr Zeit für sich selbst, denn die Kinder sind aus dem Gröbsten heraus. Sie geht stundenweise arbeiten. Das Häuschen ist in einigen überschaubaren Jahren abbezahlt. Die Kinder werden langsam flügge, fahren aber noch mit den Eltern in Urlaub. Der Mann geht einmal die Woche Kegeln und die Frau trifft sich einmal die Woche mit Freundinnen zum Plausch. Die christlichen Feste und der Sommerurlaub regeln die Unternehmungen im Jahreslauf. Der Alltag geht seinen Gang, unterbrochen von kleinen und größeren Freuden.
Die Ehe ist intakt, die Kinder gedeihen, der Wohlstand steigt von Jahr zu Jahr – irgendwo in diesem Dreieck lag das private Glück.
Pustekuchen. Die Zeit ist über ein solches Szenario hinweggegangen. Zum Glück haben wir heute die Gleichstellung von Frau und Mann und moderne Rollenbilder von Mutter und Vater. Aber ich sehne mich auch nach meiner Kinder- und Jugendzeit zurück, als die Welt nicht nur für uns, sondern auch für unsere Eltern geordnet erschien. Jede und jeder wusste, wo der eigene Platz war. Heute müssen wir ohne Vorbilder und aus eigenen Vorstellungen heraus klarkommen. Das macht uns die Sache leichter und schwerer, schöner und kräftezehrender zugleich. Unser „Nachmittag des Lebens“, wie die Lebensmitte gern genannt wird, verläuft so individuell wie nie zuvor.
Vom neuen, kurvenreichen, schönen, schwierigen Lebenslauf der Babyboomer, heute und in der Zukunft, handelt dieses Buch. Es schaut auf unser halbes Leben zurück, in dem viele Gewissheiten fortgespült wurden wie Muscheln im Sand. Es liefert eine Wasserstandsmeldung über unsere persönliche und gesellschaftliche Lage und eine Prognose über unsere persönliche und gesellschaftliche Zukunft. Auf was kommt es heute an? Und auf was morgen? Mit welchem Handwerkszeug meistern wir unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Wer sind wir und was wird aus uns?
Zu erzählen ist über das „Weltwissen“ derjenigen, die heute in der Lebensmitte stehen, über ihre bisherige Lebenserfahrung, über den Witz und den Ernst in ihrem Leben und darüber, wie und woran sie sich orientieren. Worin ihre Lebensschläue und Lebensklugheit besteht. Wo sie für ihre Zukunft schwach und wo sie stark aufgestellt sind.
Donata Elschenbroich hat vor bald zehn Jahren das „Weltwissen der Siebenjährigen“ beschrieben, hat diskutiert, was ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können und wissen muss. Ich beschreibe, was die Anfang Vierzigbis Mitte Fünfzigjährigen auf der Basis der bisherigen Erfahrungen beschäftigt und was sie in Zukunft erwarten können. Wo sie stehen. Wohin alles führt.
Was geht uns durch den Kopf? Was sind unsere Aufgaben von heute und morgen? Wo stehen wir in der ewigen Abfolge der Generationen?
Donata Elschenbroich hat ihr Thema „umwandert“, und selbst wenn wir nicht vom selben schreiben, gefällt mir diese Methode gut. Ich möchte das Weltwissen von uns Babyboomern ebenfalls umwandern, umkreisen, zu seiner Erschließung verschiedene Blickwinkel wählen.
Zu erzählen ist über Persönliches, ja Intimes, und über Öffentliches, ja Politisches. Im wahren Leben gehen diese Bereiche bunt durcheinander, im Leben von uns Babyboomern ist das nicht anders.
Ich bin – ein Mann darf sein Alter preisgeben – Jahrgang 1964. Damit gehöre ich zum massenhaftesten aller deutschen Jahrgänge und zugleich zu einem, der in der Lebensmitte steht. Ich schreibe durch die Brille eigener Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen, aber so, dass auch Allgemeingültiges und Typisches über meine Generation zum Ausdruck kommt. Ich habe mich vor der Niederschrift heftig an meine erste Lebenshälfte erinnert, aber noch häufiger unzählige Babyboomer (gemeint sind natürlich immer Boomerinnen und Boomer) über ihre Erinnerungen und ihre Mittellage im Leben befragt.
Die Fülle der allesamt wahren Anekdoten und Geschichten, erinnerten Bilder, begründeten Behauptungen, schrecklichen Vorurteile und weisen Einsichten mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich viele Statistiken und viele Fakten über unsere Generation ausgewertet habe. Weil ich aber selbst nicht gern statistik-getränkte Bücher lese, möchte ich das auch niemand anderem zumuten.
Ein irgendwie objektives Buch über eine Generation ist entweder unmöglich oder dröge zu lesen. Ein Autor schaut stets durch eine persönliche Brille auf diese Generation, so sehr er sich auch bemüht, andere Sichtweisen einzublenden. Doch letztlich gibt es bei diesen Themen keine Wahrheit und keine Unwahrheit außer der eigenen. Die Leserin oder der Leser möge sich eine individuelle Vorstellung machen und mir darüber schreiben (siehe die Adresse am Schluss des Buches).
Die Lebensmitte ist so spannend geworden wie nie vorher in der Geschichte. Die Babyboomer, die jetzt in der Lebensmitte stehen, sind eine spannende, weil einmalige Generation. Sie sind die Kinder aus einer Zeit, als das Kinderkriegen noch geboomt hat. Es gab, als wir gezeugt wurden, noch keine Pille, nur die „Zeitwahlmethode“ (das Wort habe ich aus dem „Linder“, meinem Biologiebuch). In diesem Buch stand weiter, diese Methode sei „unsicher“, und bei der Menge von uns Kindern muss es wohl so sein, damals wie heute.
Die ungeregelte, weil von keiner Pille gestoppte Fruchtbarkeit setzte Millionen von Deutschen in die Welt, in der Bundesrepublik genauso wie in der DDR. Nie zuvor und nie mehr danach waren es so viele an der Zahl. Schon wegen ihrer Masse haben die Babyboomer ihren Platz im Geschichtsbuch sicher.
Die Babyboomer sind eine glückliche Generation. Die Masse von ihnen ist erwachsen, zumindest befindet sie sich in einem Alter, in dem ihre Eltern bereits erwachsen waren. Sie sind zwar nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. In der goldenen Mitte ihres Lebens sind sie die jüngsten, gesündesten, am besten gebildeten Nachvierziger und Vorsechziger in der deutschen Geschichte. Außerdem verfügen sie über mehr Geld als alle Generationen zuvor.
Die Babyboomer stehen auf dem Hochplateau ihres Lebens, und wie jede Generation vor ihr haben sie Grund zu der Annahme, dass kulturell nichts Besseres nachkommen wird – jedenfalls nicht mit den beiden Nachfolger-Generationen, der wehleidigen Generation Golf und der rastlosen Generation Praktikum.
Natürlich stehen auch wir vor den Herausforderungen des Alltags, ziehen Kinder groß, sorgen uns um den Arbeitsplatz, fühlen uns einsam, weil wir keinen Partner/ keine Partnerin finden – aber leider manchmal genauso einsam, wenn wir ihn/ sie gefunden haben. Keine Frage, es gibt auch in dieser Generation viele Frauen und Männer, die dem „Hochplateau des Lebens“ nichts abgewinnen können. Aber es ist ein Unterschied, vom Schicksal einer Generation zu sprechen, einem kollektiven Schicksal sozusagen, oder vom Schicksal einer oder eines Einzelnen. Ein Einzelschicksal kann von Krankheit oder materieller Knappheit betroffen sein. Ein Babyboomer kann wegen einer Krankheit nicht in seinem Beruf arbeiten. Eine Babyboomerin muss ihre Kinder allein großziehen, weil sich der Vater aus dem Staub gemacht hat und überdies keinen Unterhalt zahlt. Jemand verliert seinen Arbeitsplatz und findet, weil er in seinem Alter „schwer vermittelbar“ ist, keinen neuen mehr.
Trotzdem teilen auch diese Einzelschicksale ein kollektives Schicksal mit den weiteren Angehörigen ihres Jahrgangs. Individuelle Lebensumstände mögen schwierig sein. Doch es bleibt dabei, dass die Babyboomer eine besondere, einzigartige Generation sind!
Ich widme mich also weniger den individuellen Lebensläufen, sondern dem, was die Angehörigen dieser Generation miteinander verbindet – die Lust und den Frust in einer spannenden, offenen Lebensphase.
Die Babyboomer haben nach einem halben Lebensweg viel erreicht und auch wieder viel verloren, eine Ehe, die Familie, den Arbeitsplatz oder einfach nur viel Geld, aber sie haben auch noch Zeit für eine Kehrtwende oder einen Neuanfang. Wir stehen nicht am Anfang eines Weges, sondern wir gehen mitten auf diesem Weg. Dabei werden wir älter, und das Älterwerden ist ja schon Herausforderung genug.
Ich möchte etwas vom persönlichen Lebensgefühl der Babyboomer einfangen. Privat sind sie Frau und Mann, Mutter und Vater, Single oder Lebensabschnittsgefährtin oder -gefährte. Das tue ich manchmal nüchtern und manchmal trunken von Erinnerungen, leichtfüßig und schwermütig, so objektiv wie nötig und so subjektiv wie möglich. Wer sich falsch „eingefangen“ fühlt, möge auf der Homepage protestieren – und schon wird das Bild von der kunterbunten Lebensmitte noch bunter.
Und dann ist da noch die öffentliche, die politische Rolle der Babyboomer als Bürgerinnen und Bürger, Nachbarin und Nachbar oder Elternbeirätin und Elternbeirat. In Wirtschaft und Gesellschaft sind wir ebenfalls nicht nur eine wichtige, sondern die wichtigste Generation. Auch hier zeichnet uns vor allem unsere Masse aus.
Weiter rührt unsere Bedeutung von unserem materiellen Wohlstand her. Wir sind die Generation, die im Erwerbsleben angekommen ist, die regelmäßig Geld verdient, und das ist bei unserer Zahl an „Berufsjahren“ kein...