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E-Book

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Vollständige Ausgabe

AutorJohann Gottfried Herder
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl990 Seiten
ISBN9783849627683
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Sein Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) beruht auf den Gedanken, die er bereits in kleineren Schriften veröffentlicht hatte. Es ist eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse über die Erde und den Menschen, 'dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen'. Er legte seine Auffassungen über Sprachen, Sitten, Religion und Poesie, über Wesen und Entwicklung der Künste und Wissenschaften, über die Entstehung von Völkern und historischer Vorgänge dar. Vernunft und Freiheit hielt er für Produkte der 'natürlichen' ursprünglichen Sprache, Religion für den höchsten Ausdruck menschlicher Humanität. Die unterschiedlichen natürlichen, historischen, sozialen und psychologischen Umstände führen zur vielschichtigen Differenzierung der Völker, die verschieden aber dennoch gleichwertig sind. Herder 'interpretiert die Menschheitsgeschichte als die vernunftgeleitete Fortsetzung der Naturgeschichte: So, wie die Organisationsweise eines Lebewesens zugleich durch seine organische Kraft und seine Umwelt bestimmt ist, muss die kulturelle Entwicklung eines Volkes, wenn sie gelingen soll, zugleich bestimmt sein durch den 'Charakter' oder 'Genius eines Volks' und durch die physischen Bedingungen ('Clima') des 'Landes' oder 'Erdstrichs', in dem es lebt. Diese beiden Determinanten beeinflussen sich wechselseitig: das jeweilige 'Clima' prägt die Sinnlichkeit und Denkart des Volkes, das Volk prägt sein Land, indem es dieses zweckmäßig gestaltet, d. h. kultiviert. Im Laufe ihrer Geschichte bildet so jede Kultur eine organische, Mensch und Natur umgreifende Einheit, die einzigartig ist, weil jedes Volk besondere Anlagen hat und jedes Land spezifische Anpassungen erfordert bzw. Nutzungsmöglichkeiten bietet.

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Leseprobe

Erstes Buch


 


I

 

Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen

 

Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt, so muß man sie zuvörderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist. Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält. Ohne diese könnten wir uns unser Planetensystem nicht denken, sowenig ein Zirkel ohne Mittelpunkt stattfindet; mit ihr und den wohltätigen Anziehungskräften, womit sie und alle Materie das ewige Wesen begabt hat, sehen wir in ihrem Reich nach einfachen schönen und herrlichen Gesetzen Planeten sich bilden, sich um ihre Achse und um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt in Räumen, die mit ihrer Größe und Dichtigkeit im Verhältnis sind, munter und unablässig umherdrehn; ja nach eben diesen Gesetzen sich um einige derselben Monde bilden und von ihnen festgehalten werden. Nichts gibt einen so erhabnen Blick als diese Einbildung des großen Weltgebäudes, und der menschliche Verstand hat vielleicht nie einen weitern Flug gewagt und zum Teil glücklich vollendet, als da er in Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant1 die einfachen, ewigen und vollkommenen Gesetze der Bildung und Bewegung der Planeten aussann und feststellte.

 

Mich dünkt, es ist Hemsterhuis, der es beklagt, daß dies erhabene Lehrgebäude auf den ganzen Kreis unsrer Begriffe die Wirkung nicht tue, die es, wenn es zu den Zeiten der Griechen mit mathematischer Genauigkeit festgestellt wäre, auf den gesamten menschlichen Verstand würde getan haben. Wir begnügen uns meistens, die Erde als ein Staubkorn anzusehen, das in jenem großen Abgrunde schwimmt, wo Erden um die Sonne, wo diese Sonne mit tausend andern um ihren Mittelpunkt und vielleicht mehrere solche Sonnensysteme in zerstreuten Räumen des Himmels ihre Bahnen vollenden, bis endlich die Einbildungskraft sowohl als der Verstand in diesem Meer der Unermeßlichkeit und ewigen Größe sich verliert und nirgend Ausgang und Ende findet. Allein das bloße Erstaunen, das uns vernichtigt, ist wohl kaum die edelste und bleibendste Wirkung. Der in sich selbst überall allgnugsamen Natur ist das Staubkorn so wert als ein unermeßliches Ganze. Sie bestimmte Punkte des Raums und des Daseins, wo Welten sich bilden sollten, und in jedem dieser Punkte ist sie mit ihrer unzertrennlichen Fülle von Macht, Weisheit und Güte so ganz, als ob keine andre Punkte der Bildung, keine andre Weltatomen wären. Wenn ich also das große Himmelsbuch aufschlage und diesen unermeßlichen Palast, den allein und überall nur die Gottheit zu erfüllen vermag, vor mir sehe, so schließe ich, so ungeteilt, als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom Einzelnen aufs Ganze. Es war nur eine Kraft, die die glänzende Sonne schuf und mein Staubkorn an ihr erhält; nur eine Kraft, die eine Milchstraße von Sonnen sich vielleicht um den Sirius bewegen läßt und die in Gesetzen der Schwere auf meinem Erdkörper wirket. Da ich nun sehe, daß der Raum, den diese Erde in unserm Sonnentempel einnimmt, die Stelle, die sie mit ihrem Umlauf bezeichnet, ihre Größe, ihre Masse, nebst allem, was davon abhängt, durch Gesetze bestimmt ist, die im Unermeßlichen wirken, so werde ich, wenn ich nicht gegen das Unendliche rasen will, nicht nur auf dieser Stelle zufrieden sein und mich freuen, daß ich auf ihr ins harmoniereiche Chor zahlloser Wesen getreten, sondern es wird auch mein erhabenstes Geschäft sein, zu fragen, was ich auf dieser Stelle sein soll und vermutlich nur auf ihr sein kann. Fände ich auch in dem, was mir das Eingeschränkteste und Widrigste scheint, nicht nur Spuren jener großen bildenden Kraft, sondern auch offenbaren Zusammenhang des Kleinsten mit dem Entwurf des Schöpfers ins Ungemessene hinaus, so wird es die schönste Eigenschaft meiner Gott nachahmenden Vernunft sein, diesem Plan nachzugehen und mich der himmlischen Vernunft zu fügen. Auf der Erde werde ich also keine Engel des Himmels suchen, deren keinen mein Auge je gesehen hat; aber Erdbewohner, Menschen, werde ich auf ihr finden wollen und mit allem vorliebnehmen, was die große Mutter hervorbringt, trägt, nährt, duldet und zuletzt liebreich in ihren Schoß aufnimmt. Ihre Schwestern, andre Erden, mögen sich andrer, auch vielleicht herrlicherer Geschöpfe rühmen und freuen können; gnug, auf ihr lebt, was auf ihr leben kann. Mein Auge ist für den Sonnenstrahl in dieser und keiner andern Sonnenentfernung, mein Ohr für diese Luft, mein Körper für diese Erdmasse, alle meine Sinne aus dieser und für diese Erdorganisation gebildet: demgemäß wirken auch meine Seelenkräfte; der ganze Raum und Wirkungskreis meines Geschlechts ist also so festbestimmt und umschrieben als die Masse und Bahn der Erde, auf der ich mich ausleben soll; daher auch in vielen Sprachen der Mensch von seiner Mutter Erde den Namen führet. Je in einen größern Chor der Harmonie, Güte und Weisheit aber diese meine Mutter gehört, je fester und herrlicher die Gesetze sind, auf der ihr und aller Welten Dasein ruhet, je mehr ich bemerke, daß in ihnen alles aus einem folgt und eins zu allem dienet, desto fester finde ich auch mein Schicksal nicht an den Erdenstaub, sondern an die unsichtbaren Gesetze geknüpft, die den Erdenstaub regieren. Die Kraft, die in mir denkt und wirkt, ist ihrer Natur nach eine so ewige Kraft als jene, die Sonnen und Sterne zusammenhält; ihr Werkzeug kann sich abreiben, die Sphäre ihrer Wirkung kann sich ändern, wie Erden sich abreiben und Sterne ihren Platz ändern; die Gesetze aber, durch die sie da ist und in andern Erscheinungen wiederkommt, ändern sich nie. Ihre Natur ist ewig wie der Verstand Gottes, und die Stützen meines Daseins (nicht meiner körperlichen Erscheinung) sind so fest als die Pfeiler des Weltalls. Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff, im Größesten sowohl als im Kleinsten auf einerlei Gesetze gegründet. Der Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes.

 

II

 

Unsre Erde ist einer der mittleren Planeten

 

Die Erde hat zwei Planeten, den Merkur und die Venus, unter sich, den Mars (und wenn vielleicht über ihm noch einer versteckt ist), den Jupiter, Saturn, Uranus über sich, und was für andre noch da sein mögen, bis sich der regelmäßige Wirkungskreis der Sonne verliert und die exzentrische Bahn des letzten Planeten in die wilde Ellipse der Kometenbahnen hinüberspringet. Sie ist also ein Mittelgeschöpf, so wie der Stelle nach, so auch an Größe, an Verhältnis und Dauer ihres Umschwungs um sich und ihres Umlaufs um die Sonne; jedes Äußerste, das Größeste und Kleinste, das Schnellste und Langsamste, ist zu beiden Seiten von ihr entfernt. So wie nun unsre Erde zur astronomischen Übersicht des Ganzen vor andern Planeten eine bequeme Stelle hat2, so wäre es schön, wenn wir nur einige Glieder dieses erhabnen Sternenverhältnisses näher kennten. Eine Reise in den Jupiter, die Venus oder auch nur in unsern Mond würde uns über die Bildung unsrer Erde, die doch mit ihnen nach einerlei Gesetzen entstanden ist, über das Verhältnis unsrer Erdegeschlechter zu den Organisationen andrer Weltkörper von einer höhern oder von einer tiefern Art, vielleicht gar über unsere zukünftige Bestimmung so manchen Aufschluß geben, daß wir nun kühner aus der Beschaffenheit von zwei oder drei Gliedern auf den Fortgang der ganzen Kette schließen könnten. Die einschränkende, festbestimmende Natur hat uns diese Aussicht versaget. Wir sehen den Mond an, betrachten seine ungeheuren Klüfte und Berge; den Jupiter und bemerken seine wilden Revolutionen und Streifen; wir sehen den Ring des Saturns, das rötliche Licht des Mars, das sanftere Licht der Venus und rätseln daraus, was wir glücklich oder unglücklich daraus zu ersehen meinen. In den Entfernungen der Planeten herrscht Proportion; auch auf die Dichtigkeit ihrer Masse hat man wahrscheinliche Schlüsse gefolgert und damit ihren Schwung, ihren Umlauf in Verbindung zu bringen gesucht: alles aber nur mathematisch, nicht physisch, weil uns außer unsrer Erde ein zweites Glied der Vergleichung fehlet. Das Verhältnis ihrer Größe, ihres Schwunges, ihres Umlaufs z.B. zu ihrem Sonnenwinkel hat noch keine Formel gefunden, die auch hier alles aus einem und demselben kosmogonischen Gesetz erkläre. Noch weniger ist uns bekannt, wie weit ein jeder Planet in seiner Bildung fortgerückt sei, und am wenigsten wissen wir von der Organisation und dem Schicksal seiner Bewohner. Was Kircher und Swedenborg davon geträumt, was Fontenelle darüber gescherzt, was Huygens, Lambert und Kant davon, jeder auf seine Weise, gemutmaßt haben, sind Erweise, daß wir davon nichts wissen können, nichts wissen sollen. Wir mögen mit unsrer Schätzung herauf- oder herabsteigen, wir mögen die vollkommenern Geschöpfe der Sonne nah oder ihr fern setzen, so bleibt alles ein Traum, der durch den Mangel der...

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