2. Das Gottesbild
Wörter und Begriffe, die sich auf Phänomene psychischer oder geistiger Erfahrung beziehen, entwickeln sich und wachsen mit dem Menschen, auf dessen Erfahrung sie sich beziehen – oder sie vergehen mit ihm. Sie verändern sich in dem Maß, wie er selbst sich verändert; sie haben genau wie er ein Leben.
Wenn ein sechsjähriger Junge zu seiner Mutter sagt: „Ich hab dich lieb“, so gebraucht er das Wort „Liebe“ entsprechend der Erfahrung, die er im Alter von sechs Jahren besitzt. Wenn das Kind sich weiterentwickelt hat und zum Mann herangereift ist und dann die gleichen Worte zu einer geliebten Frau sagt, so haben sie eine andere Bedeutung. Es kommt dann darin der weitere Bereich, die größere Tiefe, die größere Freiheit und Aktivität zum Ausdruck, die die Liebe eines Mannes von der eines Kindes unterscheidet. Aber wenn auch die Erfahrung, auf die sich das Wort „lieben“ bezieht, beim Kind eine andere ist als beim Mann, so hat sie doch in beiden Fällen den gleichen Kern, genauso wie der Mann sich vom Kind unterscheidet und doch mit ihm identisch ist.
Jedes Lebewesen kennzeichnen gleichzeitig Dauer und Wandlung; daher finden wir Dauer und Wandlung auch in jedem Begriff, in dem sich die Erfahrung eines lebendigen Menschen widerspiegelt. Dass aber auch Begriffe ihr eigenes Leben haben und dass auch sie wachsen, wird nur verständlich, wenn man sie nicht von der Erfahrung trennt, die sie zum Ausdruck bringen. Wenn der Begriff entfremdet, das heißt von der Erfahrung, auf die er sich bezieht, getrennt wird, so verliert er seine Realität und verwandelt sich in ein Kunstgebilde des menschlichen Geistes. Hierdurch entsteht die Fiktion, dass jeder, der den Begriff gebraucht, sich damit auf das Substrat der ihm zugrunde liegenden Erfahrung bezieht. Sobald dies geschieht – und dieser Prozess der Begriffsentfremdung ist eher die Regel als die Ausnahme –, verwandelt sich die eine Erfahrung ausdrückende Idee in eine Ideologie, welche sich widerrechtlich an die Stelle der Realität setzt, die ihr im lebendigen Menschen zugrunde liegt. Die Geschichte wird dann zu einer Geschichte der Ideologien anstatt einer Geschichte konkreter, realer Menschen, die ihre eigenen Ideen hervorbringen.
Diese Erwägungen sind wichtig, wenn man das Gottesbild begreifen will. Sie sind auch wichtig, wenn man den Standpunkt verstehen will, von dem aus diese [VI-094] Seiten geschrieben wurden. Ich glaube, dass das Gottesbild ein historisch bedingter Ausdruck einer inneren Erfahrung war. Ich kann verstehen, was die Bibel oder echt religiöse Menschen meinen, wenn sie über Gott sprechen, doch teile ich ihre Begriffsvorstellung nicht. Ich glaube vielmehr, dass der Begriff „Gott“ durch die sozio-politische Struktur bedingt war, in der Stammeshäuptlinge oder Könige die höchste Macht innehatten. Der Begriff des höchsten Wertes wurde verstanden in Analogie zur höchsten Macht in der Gesellschaft.
„Gott“ ist eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen für den höchsten Wert im Humanismus und keine Realität an sich. Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass ich bei der Diskussion der Ideen eines monotheistischen Systems mich oft des Wortes „Gott“ bediene, und es wäre recht umständlich, wollte ich jedes Mal meine eigene Wertung dieses Begriffes hinzufügen. Daher möchte ich meinen Standpunkt von vornherein klarstellen. Wenn ich meine Position annähernd definieren wollte, würde ich sie als nicht-theistische Mystik bezeichnen.
Auf welche Realität menschlicher Erfahrung bezieht sich der Gottesbegriff? Ist der Gott Abrahams derselbe wie der Gott von Moses, Jesaja, Maimonides, Meister Eckhart und Spinoza? Und wenn es nicht derselbe Gott ist, gibt es dann trotzdem ein gemeinsames Erfahrungssubstrat, das dem Begriff, wie er von all diesen verschiedenen Männern gebraucht wird, zugrunde liegt, oder könnte es sein, dass ein solcher gemeinsamer Boden bei einigen vorhanden ist, aber in Bezug auf andere nicht existiert?
Dass eine Idee, der begriffliche Ausdruck einer menschlichen Erfahrung, so leicht in eine Ideologie verwandelt wird, liegt nicht nur an der Angst des Menschen, sich ganz einer Erfahrung auszuliefern, sondern auch an der Eigenart der Beziehung zwischen Erfahrung und Idee (bei der Begriffsbildung). Ein Begriff kann niemals die ihm zugrunde liegende Erfahrung adäquat zum Ausdruck bringen. Er weist auf sie hin, aber ist sie nicht. Er ist, wie sich die Zen-Buddhisten ausdrücken, „der Finger, der auf den Mond zeigt“ – er ist nicht der Mond. Jemand kann sich mit dem Begriff a oder dem Symbol x auf seine Erfahrung beziehen; eine Gruppe von Personen kann sich des Begriffs a oder des Symbols x bedienen, um damit eine gemeinsame Erfahrung zu bezeichnen. In diesem Fall ist der Begriff oder das Symbol, auch dann wenn der Begriff der Erfahrung nicht entfremdet ist, nur annäherungsweise Ausdruck der Erfahrung. Das kann gar nicht anders sein, weil das Erleben eines Menschen niemals mit dem eines anderen Menschen identisch ist; es kann sich jenem nur so weit nähern, dass die Verwendung eines gemeinsamen Symbols oder Begriffs möglich wird. (Tatsächlich ist ja auch die Erfahrung ein und derselben Person bei zwei verschiedenen Gelegenheiten nie genau die gleiche, weil niemand in zwei verschiedenen Augenblicken seines Lebens genau der gleiche Mensch ist.) Der Begriff und das Symbol haben den großen Vorteil, dass sie es den Menschen ermöglichen, ihre Erfahrungen auszutauschen; sie haben den ungeheuren Nachteil, dass sie leicht der Entfremdung unterliegen.
Es gibt noch einen weiteren Faktor, der zur Entfremdung und „Ideologisierung“ beiträgt. Es scheint eine inhärente Tendenz des menschlichen Geistes zu sein, dass er nach Systematisierung und Vollständigkeit strebt. (Eine Wurzel dieser Tendenz [VI-095] dürfte im Streben des Menschen nach Sicherheit zu suchen sein – ein Streben, das nur allzu verständlich ist, wenn man die Gefährdung der menschlichen Existenz bedenkt.) Wenn wir einige Fragmente der Realität kennen, haben wir den Wunsch, sie so zu vervollständigen, dass sich etwas „Sinnvolles“ ergibt, das in ein System zu bringen ist. Aber auf Grund der Begrenztheit der menschlichen Natur bleibt unser Wissen immer nur „fragmentarisch“, und es ist niemals vollkommen. Daher neigen wir dazu, selbst einige zusätzliche Stücke zu fabrizieren und zu den Fragmenten hinzuzufügen, um ein Ganzes, ein System daraus zu machen. Durch die Intensität des Verlangens nach Sicherheit wird man oft den qualitativen Unterschied zwischen den „Fragmenten“ und dem Hinzugefügten nicht gewahr.
Man kann diesen Prozess häufig sogar in der Weiterentwicklung der Wissenschaft verfolgen. In vielen wissenschaftlichen Systemen finden wir eine Mischung aus echten Einsichten in die Wirklichkeit und fiktiven Stücken, die hinzugefügt wurden, um ein vollständiges System zu erreichen. Erst an einem späteren Entwicklungspunkt ist klar zu erkennen, welches die echten, aber fragmentarischen Elemente des Wissens waren und was „Polsterung“ war, die hinzugefügt wurde, um das System einleuchtender zu machen. Dem gleichen Prozess begegnen wir auch in der politischen Ideologie. Als die französische Bourgeoisie in der Französischen Revolution um ihre eigene Freiheit kämpfte, tat sie dies in der Illusion, dass sie für die universale Freiheit und das Glück als absolute Prinzipien, also im Namen aller Menschen, kämpfte.
Auch in der Geschichte der religiösen Vorstellungen treffen wir auf diesen Prozess. Als der Mensch ein fragmentarisches Wissen von der Möglichkeit hatte, dass man das Problem der menschlichen Existenz durch die volle Entwicklung der menschlichen Kräfte lösen könnte, als er das Gefühl hatte, er könnte dadurch zur Harmonie gelangen, dass er Liebe und Vernunft voll entwickelte, anstatt den tragischen Versuch zu unternehmen, zur Natur zu regredieren und die Vernunft auszulöschen, da gab er dieser neuen Vision, diesem X, viele Namen: Brahman, Tao, Nirwana oder Gott. Diese Entwicklung ging in den tausend Jahren zwischen 1500 und 500 vor Chr. auf der ganzen Welt vor sich, in Ägypten, Palästina, Indien, China und Griechenland (vgl. Karl Jaspers’ „Achsenzeit“). Welcher Art diese verschiedenen Vorstellungen waren, hing ab von den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen der betreffenden Kultur und der gesellschaftlichen Klassen sowie von den sich daraus ergebenden Denkmodellen. Aber das X, das Ziel, wurde bald in etwas Absolutes verwandelt; es wurde ein System darum herum errichtet, und die Zwischenräume wurden mit vielen fiktiven Annahmen ausgefüllt, bis das Gemeinsame der Vision fast ganz unter dem Gewicht der in jedem System produzierten fiktiven „Zusätze“ verschwand.
Jeder Fortschritt in der Wissenschaft, in den politischen Ideen, in Religion und Philosophie besitzt die Tendenz, Ideologien zu erzeugen, die miteinander rivalisieren und sich gegenseitig bekämpfen. Dieser Prozess wird noch dadurch gefördert, dass, sowie das Denksystem zum Kern einer Organisation wird, Bürokraten auftauchen, die zur Aufrechterhaltung ihrer Macht und Herrschaft lieber das Trennende als das Gemeinsame in den Vordergrund stellen und die daher ein Interesse daran haben, den fiktiven Zusätzen die gleiche oder gar eine noch größere Bedeutung zuzumessen als den [VI-096] ursprünglichen Fragmenten. Auf diese Weise verwandeln sich Philosophie, Religion, politische Ideen und manchmal sogar die Wissenschaft in Ideologien, die von den jeweiligen Bürokraten beherrscht werden.
Das Gottesbild des Alten Testaments hat sein eigenes Leben und es hat seine eigene Entwicklung genommen, die der Entwicklung eines...