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E-Book

Im Alter frei werden

Seelsorge im Alter und zum Älterwerden

AutorBurkhard Pechmann
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl148 Seiten
ISBN9783744827096
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Im Alter frei zu werden klingt widersprüchlich. Gerade das Älter- und Altwerden ist von zunehmenden Einschränkungen geprägt. Burkhard Pechmann, Pastor und Altenheim-seelsorger, legt hier befreiende Einsichten und Impulse zur Gestaltung dieses Lebensabschnitts vor: als Umgang mit der Zeit, als Entdeckung von Kräften (z. B. der Resilienz), auch als Herausführung von Abgründen wie der Alters-depression, als Begegnung mit Menschen mit Demenz u. a. Für Seelsorgende, in Therapie und Pflege Tätige, für Ehrenamtliche, für Angehörige, für die Älteren selbst. Für eine Zukunft im Alter.

Burkhard Pechmann, Pastor und Altenheimseelsorger in Hannover. Zahlreiche Aufsätze zu Altern, Resilienz, Demenz und Stebebegleitung. Autor von "Durch die Wintermonate des Lebens", "Rückzug und Aufbruch - Seelsorgliche Hinführungen zu Menschen im Alter", "Altenheimseelsorge - Gemeinden begleiten Menschen im Alter und mit Demenz" und Heften für Menschen mit Demenz: "Ich halte und bewahre dich", "Geborgen in Gottes Gnade".

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Leseprobe

I. Zeit zum Freiwerden


Manchmal nehme ich mir Zeit, manchmal lasse ich mir Zeit. Manchmal kann ich mir Zeit nehmen …, und manchmal habe ich wirklich keine Zeit!

Nehmen „wir“ uns, frage ich jetzt, weil es eine die aktuelle Generation verbindende und die Generationen übergreifende Erfahrung ist, Zeit zum Altwerden? Denn wir erleben uns in der Zeit als gemeinsam Altwerdende und erfahren etwas durch die Zeiten hindurch von früher Altgewordenen: schon von den Eltern, den „Alten“ und den großen Alten, den Großeltern, durch ihre Stimmungen, durch ihre Auseinandersetzung mit dem Altwerden. Es gibt diese eigentümliche Verbundenheit des eigenen Jahrgangs und der nur wenige Jahre Älteren und Jüngeren: das betrifft die anderen Altgewordenen untereinander und das betrifft meinen Jahrgang.

Nehmen wir uns Zeit für andere?

Dabei ist „Zeit“ etwas Eigenartiges.4 Auch wenn die physikalische Zeit der Minuten und Stunden auf der Uhr unbeirrbar gleichmäßig voranschreitet (und die Zeit dabei unerbittlich vergeht), erleben wir Menschen Zeit völlig unterschiedlich: nicht nur untereinander, sondern ständig auch im eigenen, im persönlichen Wahrnehmen. Manchmal gibt es die Gleichförmigkeit dahinfließender Zeit, und dann wechseln sich auf einmal die Situationen an nur einem Nachmittag ab und sind miteinander kaum vergleichbar: „Zeit“ ist immer Erfahrung mit der Zeit. Im Rückblick haben wir viel Zeit für die Arbeit im Beruf aufgewandt und bringen nach wie vor Zeit mit Arbeit zu: mit Hausarbeit, mit Schreibtisch- oder Computerarbeit für Behörden und Institutionen, mit Gartenarbeit. Manche Angelegenheiten, die erledigt werden müssen, sind uns eher lästig, und wir lassen uns viel Zeit, bis wir sie in Angriff nehmen. Anderen Beschäftigungen wenden wir uns gerne zu, und es fällt uns manchmal schwer, damit aufzuhören.

Wir verarbeiten Dinge, in Gesprächen aber auch unsere Erlebnisse und Erfahrungen. Dabei vergeht die Zeit manchmal wie im Fluge, während sie manchmal spannungsvoll stehen zu bleiben scheint. Wie quälend langsam dagegen die Zeit vergehen kann, merkt man wenn man arbeitslos geworden ist! Aber schon bei der Langeweile, die jeder kennt, weiß man nichts mit sich und seiner Zeit anzufangen und versucht – mit diesem eigenartigen Ausdruck –, irgendwie „die Zeit totzuschlagen“.

Mit der Zeit bin ich – wie jeder Mensch – älter geworden. In meinen ersten beiden Lebensjahrzehnten haben andere über meine Zeit bestimmt und mir damit einen festen Halt gegeben. Andererseits habe ich schon als Kind angefangen, mir Freiräume zu erobern und selbst etwas aus meiner Zeit zu machen. Mein eigener Wille ist dadurch klarer und stärker geworden. Und erst recht in der Jugendzeit wurde mir nicht nur deutlicher, was ich will, sondern auch, was ich kann oder können möchte, oder keinesfalls möchte! Die Ausbildungszeit hat mich darin bestärkt, aber mir auch noch einmal andere Möglichkeiten aufgezeigt.

Im Berufsleben habe ich immer versucht, rechtzeitig an meinem Arbeitsplatz zu sein. Aber hin und wieder bin ich in einen Stau geraten und musste mich in Geduld üben. Auch bei Fahrten mit der Bahn gab es Zwischenfälle, die mich zum Warten zwangen. Überhaupt das Warten! Wie viel Zeit habe ich in Wartezimmern von Ärzten zugebracht! Bei Erkrankungen verging die Zeit manchmal entsetzlich langsam, und dann war ich wieder erstaunt, wie schnell ich wieder auf die Beine gekommen bin. Habe ich mir dann wirklich genug Zeit zur Erholung gelassen ...? Denn schon bald setzte wieder der Zeitdruck, der Stress in der Arbeitswelt ein, der mich forderte.

Ohne dass ich darüber nachgedacht hätte, hat mir andererseits die ganze Zeit über bis heute der Rhythmus von Tag und Nacht, auch der Jahreszeiten, selbstverständlich Halt, Vertrautheit und Sicherheit gegeben: Es sind Strukturen der Schöpfung, auf die ich mich verlassen kann und die unglaublich lange vor mir bestehen. Und manchmal bin ich zuversichtlich, dass Gott mit der Zeit geht, ja dass er in der Zeit gegenwärtig und auch in dieser Zeit wirksam ist: der des Altwerdens, der der Begegnung mit alt werdenden Frauen und Männern.

Umgekehrt werde ich von anderen daran erinnert, dass meine Lebenszeit und die Zeiten meines Lebens bei Gott ein- und festgeschrieben stehen, wenn ich höre: „Meine Zeit steht in Deinen Händen“ (Psalm 31,16). Das entlastet mich. Das nimmt den Druck von mir, was ich alles während meines Lebens in dieser Welt meine, erlebt und geschafft haben zu müssen. Ich darf als zeitlicher, also vergänglicher Mensch wissen, dass ich in dem zeitlosen, ewigen Gott bewahrt bin – und bewahrt bleiben werde.

Denn trotz der Lebenserfahrung, die mit den Jahren zunimmt, ist der Umgang mit der Zeit nicht leichter geworden: Die Lebensmöglichkeiten sind vielfältiger, aber auch unübersichtlicher geworden. Die Lebenskräfte lassen nach, während der Lebenshunger manchmal noch zunimmt und sich bis zu einer eigentümlichen Lebensgier steigern kann, ja genug „vom Leben“ zu bekommen. Die Konflikt-Ausgesetztheit des Menschen besteht ungebrochen fort. Und da sind die anderen: Die Jüngeren drängen nach vorne und scheinen so mühelos mit den smarten Dingen der technische Weltbeherrschung vertraut zu sein (auch wenn sie bei der Frage nach dem Wetter am Nachmittag eher auf ihre Wetter-App als in den Himmel schauen und sich der unmittelbaren und erfahrungsbasierten Wahrnehmung entfremden).

Manche trauen sich überhaupt mehr (zu), als ich mich getraut habe, während andererseits von den Gleichaltrigen nicht mehr alle am Leben sind.

Wie viel Zeit bleibt mir noch?, fragt man sich teils mit bangem („hoffentlich noch“), teils mit herbei sehnendem („auch diese Zeit wird ein Ende finden“) Unterton. Und natürlich prägt das Lebensende überhaupt die Einstellung zum Altwerden: ob als erhoffte oder befürchtete letzte, endgültige Grenze.

Deshalb habe ich diese Fragestellungen als hilfreich und weiterführend empfunden:

Lasse ich mir Zeit?

Kann ich warten?

Ertrage ich es zu warten?

Traue ich mich alt zu werden ...?

Die Konsequenz für die Begegnung mit Menschen im Alter bedeutet für mich: Zur Voraussetzung seelsorglicher Begegnung mit älter und alt werdenden Frauen und Männern gehört, sich Zeit zu nehmen und sich Zeit zu lassen. Wer dazu nicht in der Lage ist, sollte von einem Besuch bei jemandem absehen, weil er dann nur Unruhe oder in anderer Form Belastendes in die Welt jenes alten Menschen bringt. Dann gehört zur eigenen Klärung, der weiterführenden Fragestellung nachzugehen: Was macht mich derartig unfrei, dass ich mir nicht einmal mehr Zeit für andere nehmen kann? – Manchmal kommt es zu einer besonderen Herausforderung verdichteter Zeit: in der Sterbebegleitung, wenn Menschen – in dem verständlicherweise manchmal nicht einfachen Umfeld der Angehörigen – die Möglichkeit haben sollen, in Ruhe zu sterben.

Manche bringen es mit, andere brauchen etwas, was ihnen die Augen dafür öffnet: zum Altern gehört Vertrauen. Das Älter- und Altwerden ist offensichtlich Teil der ganzen Schöpfung. Denn alles altert: Pferde bekommen gegen Ende ihres Lebens manchmal noch das Gnadenbrot; Hunde trotten schließlich nur noch langsam hinter ihrem Frauchen her. Die Blumen auf der Wiese vergehen (Jesaja 40,7) . Selbst an den Bergen – oft ein Sinnbild für Dauer und Beständigkeit – nagt der Zahn der Zeit: Bei manchen Verwitterungen und Abbauprozessen ist strittig, ob und wieweit menschlicher Einfluss daran beteiligt ist, während bei vielen unserer Eingriffe mehr und mehr offensichtlich wird, dass sie den Planeten, auf dem wir leben, beschleunigt altern lassen: die Schöpfungszerstörung des Menschen, die immer stärker um sich greift und inzwischen die ganze Atmosphäre bedrohlich erfasst hat. Die Folge sind: zeitgenössische apokalyptische Tendenzen, reale Befürchtungen vor dem Untergang von Lebensräumen, konkrete Zukunftsängste die kommenden Generationen betreffend. Und man kann in diesem „ängstlichen Harren der Kreatur“ auch das sehnsuchtsvolle „Seufzen derer“ hören5, „die auf die Erlösung ihrer leiblichen Existenz warten“. Dazu gehören auch die Laute des zahllosen Schlachtviehs, das nicht alt werden darf …

Und gleichzeitig gehört nach wie vor zur Realität alles Lebendigen die Phase des Alterns.

Weitere Fragestellungen:

Vermag ich es, mich in diese Lebensphase hinein zu begeben, vielleicht erst tastend, dann mit mehr und mehr Sicherheit ...? Oder was hindert mich daran? Möchte ich am liebsten davor ausweichen?

Kann ich als seelsorglicher Mensch andere mit wachsender Zuversicht in diesen Lebensabschnitt hineinführen? Oder was hält mich in dieser konkreten Begegnung davon ab?

Durch vielfältige Fragen und Selbstbeobachtung kann ich auf einmal vieles entdecken in der Welt, in der ich bin und die in mir ist und die in anderen ist.

4 Umfassend hierzu: Hermann Schmitz,...

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