1. Interview Jürg Roffler
Jürg Roffler ist Leiter des Institutes for Breathexperience in Berkeley, California (CA). Als Mitarbeiter am Ilse Middendorf Institut in Berlin lehrte er dort einige Jahre, bevor er 1991 in San Francisco das Middendorf Institute for Breathexperience gründete. Seit 2001 ist das Institut in Berkeley, CA ansässig. Jürg Roffler inspiriert und erweitert die Atemarbeit des „Erfahrbaren Atems“ um künstlerische Performances, wie das Projekt atembewegt und Breathexperience in Performing Arts und entwickelte eine ergänzende Lehre „Entwicklung und Partnerschaft“ für die Klärung von partnerschaftlichen Beziehungen.
Gemeinsam mit Gertrud Kutscher und Christine Ritt leitet er die Ausbildung zum Atemtherapeuten unter dem Dach des MIBE Institutes for Breathexperience Berkeley-Berlin.
Kontaktdaten
www.breathexperience.de
www.breathexperience.com
www.breathexperience.ca
https://archive.org/details/JoeyWilliams-AtemBewegtAtembewegt447
Monika Bloch führte das Interview mit Jürg Roffler in Lunden (Kanton Graubünden, Schweiz) im Juli 2014.
Wie kamen Sie mit der Atemarbeit von Ilse Middendorf in Kontakt?
Ich war schon als Kind sehr bewegungsorientiert, war interessiert am Leiblichen, am Körper, an den sinnlichen Elementen des Menschseins. Diese waren mir immer ganz nahe. In den 1960er Jahren wurde man als junger Mann nicht unbedingt unterstützt, den Körper als „Haus“ zu bewohnen und darin sein eigenes Leben zu erkennen und das, was man brauchte. Man wurde in den Sport geschickt oder man „machte Bewegung“. Das habe ich schön gefunden und es hat mir gut getan. Ich habe sehr viel Sport gemacht um mich in meiner Körperlichkeit zu spüren und mich zu finden.
In den 1970er Jahren habe ich mit der Atemarbeit begonnen. Vorher habe ich verschiedene Körpertherapien kennengelernt, zum Teil auch Ausbildungen angefangen, so zum Beispiel Biodynamik bei Gerda Boyesen23. Ich besuchte viele Gestalttherapiekurse, einige Körpertherapiekurse und habe in dieser Zeit überhaupt ganz viel an körperorientierten Psychotherapien ausprobiert. Ich suchte eine Lehre, eine Therapie- und Heilform, in welcher die Wichtigkeit des Ganzseins Grundlage war. Das Leibliche musste einbezogen sein. Ich wusste nicht genau, was ich suchte, aber ich habe immer nur viel versprechende Ansätze gefunden. Es gab nichts, was mich in dieser Tiefe berührt hatte, die ich suchte. Nach einer Ausbildung zum Sozialpädagogen leitete ich in Langnau im Emmental (Schweiz) eine Beratungsstelle für Langzeitpatienten, die an Asthma, Krebs, oder Tuberkulose litten. In dieser Tätigkeit hatte ich das Privileg, ein- oder zweiwöchige Auszeiten für Weiterbildungen nehmen zu können.
In den späten 1970er Jahren war ein Kurs von Ilse Middendorf in der Kulturmühle Lützelflüh im Emmental (Schweiz) ausgeschrieben. Das war ein Fünf-Tage-Kurs, ein Einführungskurs über den Erfahrbaren Atem. Da ging ich hin. Die Kursinhalte haben mich sehr angesprochen, waren aber nicht spektakulär. Die Kurse in Körperarbeit, welche ich besucht hatte, waren immer sehr kathartisch: viel schreien und viel ausleben. Die Atemarbeit war nichts von dem. Aber während der Kurstage habe ich gespürt, dass der Atem, so wie er mir da angeboten wurde, mich in dieser ganz bestimmten Tiefe, die ich suchte, erreichte. Ich wusste genau, dass es das war, was ich suchte: Die Arbeit mit dem Atem und diese bestimmte Qualität im Atem, welche durch das Zulassen entsteht, ohne willentlichen Eingriff und Manipulation. Von Ilse Middendorfs Arbeitsweise war ich anfangs irritiert, weil ich es gewöhnt war, gefühlsorientierte Körperarbeit zu machen, zum Teil auch mit manipulativen Ansätzen, auch vom Atem her. Und das war bei Ilse Middendorf überhaupt nicht gefragt. Das hat mich sehr befreit und mir sehr gut getan. Dadurch, dass ich meinen Atem so lassen konnte, wie er war, dass dieser Atem, so wie er war, auch mit mir, mit meiner Person etwas zu tun hatte, dass auf diese Art mein eigenes Wesen erfahrbar wurde, das hat mich sehr berührt. Ich hatte das gefunden, was ich in mir gesucht hatte. Und das wichtigste: ich habe gespürt, diese Arbeit lässt mich so, wie ich bin. Das war die Haupterkenntnis aus diesem ersten Kurs. Später kam mehr und mehr die Gewissheit hinzu, dass diese Art von Arbeit nicht nur mich „mich selbst sein ließ“, sondern mich auch in meiner Entwicklung unterstützte.
Was war Ihre Motivation, die Ausbildung zum Atempädagogen zu absolvieren?
Nach den positiven Erfahrungen des Kurses in Lützelflüh wollte ich die Ausbildung in Berlin machen. Aber ich zweifelte daran, ob ich das tatsächlich durchhalten würde, weil ich so viele Ausbildungen angefangen und nicht beendet hatte. Ich beschloss zu warten, machte dann später nochmals einen Fünf-Tage-Kurs und es stellte sich die gleiche Wirkung und die gleiche Zufriedenheit ein, die ich beim ersten Kurs hatte. Da habe ich mich für die Ausbildung in Berlin angemeldet. Ich habe in der Schweiz alle Zelte abgebrochen und ging nach Berlin, um die Ausbildung zu machen. Ich wusste, das ist das Richtige für mich. Es war von Anfang an ganz klar und jetzt im Laufe der Jahre wird es immer klarer. Es tut sich in mir selbst immer mehr auf. Die Ausbildung dauerte zweieinhalb Jahre und war eine Vollzeitausbildung. Ich habe nebenbei noch ein bisschen bei einer Drogenberatungsstelle in Berlin gejobbt. 1982 habe ich am Middendorfinstitut in Berlin die Ausbildung begonnen, 1985 abgeschlossen und dann am Institut gearbeitet bis 1991. 1985 wurde Ilse Middendorf eingeladen, in den USA zu unterrichten. Ich begleitete sie auf dieser Reise und bot 1989 in San Francisco die erste Ausbildung an, pendelnd zwischen Berlin und San Francisco. 1991 habe ich meinen Wohnsitz offiziell in die USA verlegt und habe das MIBE Institute for Breathexperience in San Francisco gegründet.
Erzählen Sie von Ihrer ersten Begegnung mit Ilse Middendorf.
Ilse Middendorf war eine sehr starke Persönlichkeit, enorm präsent und substanzhaft. Sie war ein Mensch, den ich sofort gespürt habe. Das erste Mal bin ich ihr in der Kulturmühle Lützelflüh begegnet. Sie war als Person sehr „königlich“, das hat sie auch gepflegt. Es zeigte sich auch in ihrer Kleidung und ihrem Schmuck: Rosarotes Twinset, doppelte Perlenkettenreihe – es war immer alles perfekt. Sie war Grande Dame, wurde bewundert und wollte bewundert werden. Sie hat sich auch immer ein bisschen „darüber gestellt“, so im Sinne von: Ich bin diejenige, welche alles erschaffen hat, ich habe das gefunden. Sie hatte einen klaren Führungsanspruch. Sie hat ihre Stärke auch eingesetzt. Sie war sehr bestimmend, aber auch sehr offen. Wir haben viel zusammen erlebt und waren uns sehr nahe. Ich habe während der Ausbildung ihre Stärke sehr geschätzt und ich habe mich auch daran gemessen. Unsere Beziehung war gekennzeichnet von Nähe und Distanz. In den 1990er Jahren kam sie jedes Jahr an unser Institut in die USA, um meine Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Ich habe dann immer alles für sie organisiert, habe viel mit ihr unternommen. Es war ein sehr persönliches Zusammensein.
Was war das wesentlichste Anliegen von Ilse Middendorf an die Absolventinnen und Absolventen in der Ausbildung zum Atempädagogen/zur Atempädagogin?
Ilse Middendorf war es wichtig, dass die Menschen vom Denken wegkommen in die Empfindung und ins Zulassen des Atems. Die Empfindung der Atembewegung sollte das Leitseil sein, die Orientierung für sämtliche Prozesse. Nicht denken, sondern die Empfindung der Atembewegung wird „das Hirn“: das ist der Informationsträger, der Inhaltsträger der ganzen Arbeit. Dies hat Ilse Middendorf sehr gut vermittelt. Sie hatte eine unglaubliche Intuition, wie sie mit den Menschen arbeiten konnte und wie es ihr gelang, dass ihre Botschaft die Menschen erreichte. Sie war in der Arbeit sehr strukturiert und auch sehr klar. Sie hat in der Ausbildung, aber auch bei der Arbeit immer durchblicken lassen, was sie gut fand und was nicht, obwohl ja die ganze Arbeit nichts mit Bewertung und hierarchischer Orientierung zu tun hat. Das war manchmal irritierend, sich im wertfreien Raum des zugelassenen Atems zu befinden und doch von Ilse Middendorf so klare Botschaften über „gut“ und „nicht gut“ zu erhalten. Wenn etwas dann klappte, gab es „ein Feuerwerk“. Ilse Middendorf wollte, dass viele Menschen den Erfahrbaren Atem kennen und erfahren lernen. Und sie wollte bei den Menschen Verständnis dafür wecken, was der Erfahrbare Atem ist. Die Menschen sollten verstehen UND erfahren – das war ihr Hauptanliegen.
Wie gestaltete Ilse Middendorf ihre Unterrichtsstunden?
Da gab es erst einmal die Gruppenstunden. Ilse Middendorf saß auf dem Atemhocker mit uns im Kreis. Sie leitete eine Übung an, um die Empfindungsfähigkeit zu fördern. Das baute sich auf. Es gibt eine bestimmte Entwicklung, in welcher der Mensch an einen Punkt kommt, an welchem er sich durch den Atem bewegen lässt. Die Bewegung aus dem Atem ist der Höhepunkt der Arbeit. Auf diesen Moment hin hat Ilse Middendorf mit den Menschen gearbeitet. Die Arbeit war immer praktisch, immer aus der Erfahrung. Zwischen den praktischen Übungen gab Ilse Middendorf Erklärungen ab zum Beispiel über Atemprinzipien, so wie sie diese aufnahm als Archetypen des Atems. Diese Aspekte nahm sie mit hinein. Es waren aber nie dozierende Momente, sondern die Erklärungen flossen in die praktische Arbeit mit dem Atem ein.
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