Hauptsache Jugoslawien
Am 28. April 1918 stirbt Gavrilo Princip im Garnisonsspital der Festung Theresienstadt an Knochentuberkulose. Acht Monate später wird der Staat geboren, für den er zum Mörder geworden war. Am 1. Dezember 1918 proklamiert Serbiens Thronfolger Aleksandar Karadjordjević in Belgrad die Gründung des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“. Und genau das ist das Problem. Denn wer hatte eigentlich gesagt, dass das neue Reich der Südslawen ein Königreich mit einer serbischen Dynastie an der Spitze und Belgrad als Hauptstadt sein sollte? Eine Volksabstimmung darüber hatte es nie gegeben. Bis zum Zusammenbruch Österreich-Ungarns war die Feindschaft zur habsburgischen Monarchie die Klammer gewesen, die all die unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Konzepte zur Ausgestaltung eines gemeinsamen Staates der Südslawen zusammenhielt. Nun ist diese Klammer fort, und die Gegensätze treten in aller Schärfe zutage. Die Anhänger eines föderalen Modells bezeichnen sich als „echte Jugoslawen“ und lehnen die (vor allem serbischen) Verfechter eines zentralistischen, nach preußischem oder französischem Vorbild gestalteten Staates als „Pseudojugoslawien“ ab.
Auf der griechischen Insel Korfu, dem Sitz der serbischen Exilregierung, hatten sich Serben, Kroaten und Slowenen im Sommer 1917 in einer gemeinsamen Deklaration nur in groben Linien darüber einigen können, wie der künftige südslawische Staat verfasst sein sollte. Den kroatischen Delegierten schwebte eine Art Föderation vor, in der Serben, Kroaten und Slowenen nur einige Teilgebiete staatlichen Handelns wie Finanzen, Außenpolitik und Verteidigung einer gemeinsamen Führung unterstellten, ansonsten aber selbstständig blieben. Ähnlich war die Machtteilung zwischen Österreich und Ungarn in der Habsburgermonarchie gewesen, auf deren Trümmern das neue Vielvölkerreich der Südslawen entstehen sollte. Ein solches Arrangement kam für die Serben jedoch nicht in Frage. Schließlich hatte Serbien die Führungsrolle im Kampf gegen die Osmanen und danach gegen die Habsburger gespielt, hatte im Krieg den höchsten Blutzoll entrichtet und verfügte im Gegensatz zu Kroatien und Slowenien über eine intakte Königsdynastie, die zur Übernahme der Macht bereitstand. Außerdem würden die Serben in dem neuen Staat, auf dessen Territorium damals etwa zwölf Millionen Menschen lebten, mit gut vierzig Prozent der Bevölkerung die größte Gruppe stellen, deutlich vor Kroaten (23 Prozent) und Slowenen (acht Prozent). Daraus schlossen viele Belgrader Politiker jedoch nicht, dass sechzig Prozent der Bürger des neuen Staates eben keine Serben waren, sondern nur, dass die (relative) Mehrheit das Recht habe, in dem gemeinsamen Staat die führende Rolle zu spielen. Viele Serben stellten sich den neuen Staat, dessen Bevölkerung doppelt so schnell wuchs wie die Deutschlands, als eine Art vergrößertes Serbien vor. Der Grundsatz „Der Balkan den Balkanvölkern!“ wurde so zu: „Der Balkan einigen Balkanvölkern!“ Montenegriner und muslimische Bosnier wurden in Belgrad als Serben respektive „islamisierte Serben“ betrachtet, Mazedonier als „Südserben“. Und die Albaner im Kosovo hatten ohnehin nichts zu melden. Andere große Bevölkerungsgruppen auf dem Territorium des zu gründenden Staates, vor allem Ungarn und Deutsche, die gemeinsam immerhin eine Million Seelen ausmachten, zählten ebenfalls nicht, denn Minderheiten galten nirgends viel im damaligen Europa. Sie hatten eben Pech und konnten froh sein, wenn sie nicht vertrieben wurden. Kroaten und Slowenen wiederum sollten nur Juniorpartner in einem Unternehmen unter serbischer Führung sein. Unter diesen Bedingungen hatte sich die serbische Regierung auf Korfu 1917 mit ihren kroatischen und slowenischen Verhandlungspartnern nur vage darauf einigen können, dass nach dem Krieg die „qualifizierte Mehrheit“ einer verfassunggebenden Versammlung über die Details des Staatsaufbaus abstimmen solle. Dabei blieb offen, wie viele Stimmen für eine solche „qualifizierte Mehrheit“ erforderlich sein sollten. Drei Fünftel? Zwei Drittel? Das sollte später entschieden werden.
Nach Kriegsende hat die Idee einer Vereinigung der Südslawen aber trotzdem noch große Unterstützung nicht allein in Serbien, sondern auch in Kroatien und Slowenien. Anfang Oktober 1918 wird in Zagreb ein „Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben“ gegründet, der die Vereinigung der Südslawen (immer minus Bulgarien) anstrebt. Ivo Vojnović, Andrićs Leidensgenosse aus dem Krankenhaus, hat einen dieser revolutionären Oktobertage in Zagreb in seinem Tagebuch festgehalten. Dort lesen wir, dass Andrić, krank und geschwächt, in Begleitung von Freunden auf dem Balkon des kroatischen Nationaltheaters die serbische Flagge geschwenkt habe, während auf dem Platz davor 50.000 Menschen Serbiens König bejubelten. Doch die Begeisterung wird nicht nur bei Vojnović, sondern auch bei hunderttausenden anderen Kroaten rasch in Gleichgültigkeit oder Ablehnung umschlagen. Schon am 5. Dezember, vier Tage nach der Proklamation des neuen Staates in Belgrad, kommt es in Zagreb zu antijugoslawischen Demonstrationen von Bürgern, die eine kroatische Republik fordern. Bei einem Polizeieinsatz zur Niederschlagung der Proteste werden dreizehn Menschen getötet und siebzehn verletzt. Im Januar 1921 kann die serbische Fraktion im ersten jugoslawischen Parlament durchsetzen, dass zur Annahme der neuen Verfassung nur eine einfache Mehrheit nötig ist, was Buchstaben und Geist der Deklaration von Korfu widerspricht. Zudem wird in Belgrad festgelegt, dass die Abstimmung über die neue Verfassung am 28. Juni 1921 stattfinden soll – ausgerechnet am Veitstag also, jenem serbischen Doppelfesttag, an dem die Serben die Ermordung Sultan Murads 1389 und Franz Ferdinands 1914 feiern. Nun soll als drittes Ereignis an diesem Datum die Gründung eines serbisch dominierten südslawischen Staates hinzukommen – so empfinden es jedenfalls viele Kroaten. Die Atmosphäre verschlechtert sich so sehr, dass eine Mehrheit der Kroaten von diesem Jugoslawien bald nichts mehr wissen will. Der weitgehend auf Belgrader Bedürfnisse und das serbische Königshaus zugeschnittene zentralistische Verfassungsentwurf wird von 53 Prozent der Parlamentarier gebilligt, doch selbst diese knappe Mehrheit kommt nur zustande, weil die meisten Abgeordneten aus Kroatien und Slowenien die entscheidende Sitzung boykottieren. Sie protestieren damit gegen eine Verfassung, in der sie sich nicht vertreten sehen. Das beginnt schon beim Staatswappen mit dem kyrillischen Schriftzug „CCCC“ (für: Nur Einigkeit rettet den Serben) und setzt sich fort über eine bedenkliche Machtfülle für das serbische Königshaus. Was in der Verfassung angelegt ist, wird durch die Verfassungswirklichkeit noch übertroffen. Fast siebzig Prozent aller Ministerposten in der nur zwanzig Jahre währenden Geschichte des ersten jugoslawischen Staates werden an Serben fallen. In Armee und Verwaltung sieht es kaum anders aus. Manche versuchen anfangs, die Ungleichgewichte damit zu entschuldigen, dass es sich dabei um die unvermeidlichen Geburtswehen eines jungen Staates handele. Andere sprechen von einer Totgeburt.
Der neue Staat weist jedenfalls nicht weniger innere Widersprüche auf als die Habsburgermonarchie, aus deren Konkursmasse er entstanden ist. Kritik, wie sie Gavrilo Princip, Ivo Andrić und die Mlada Bosna an den Ungerechtigkeiten des Habsburgerreiches geübt hatten, können Kroaten, Slowenen, bosnische Muslime oder Kosovo-Albaner nun mit einiger Berechtigung gegen Jugoslawien vorbringen. Viele Kroaten empfinden den Übergang von habsburgisch-ungarischer zu jugoslawisch-serbischer Vormundschaft nur als Gefängniswechsel. Aus dem habsburgischen war für sie ein jugoslawischer Völkerkerker, aus dem Wien-Budapester ein Belgrader Joch geworden. Während sich jedoch viele Slowenen und auch Bosniens Muslime nicht zuletzt aus Mangel an besseren Möglichkeiten trotzdem mit dem neuen Staat arrangieren, haben immer mehr Kroaten das Gefühl, auf der Verliererseite der Geschichte zu stehen. In ihrer Wahrnehmung sind sie 1918 nicht befreit worden, sondern nur vom habsburgischen Regen in die serbische Traufe geraten. Niemand drückt das wortgewaltiger aus als Stjepan Radić, der Chef der Kroatischen Bauernpartei und bald mit Abstand beliebteste Politiker der Kroaten. Radić hatte vor 1918 ebenfalls für ein vereinigtes Jugoslawien gekämpft. Tiefgläubig und radikal antiklerikal zugleich, lautet sein Wahlspruch: „Gelobt seien Jesus und Maria, nieder mit den Pfaffen!“ Radić wendet sich gegen den politischen Klerikalismus, denn er will nicht, dass Bischöfe Politik machen. Zugleich ist er erzkatholisch. Seinen Privatkatholizismus behält er nach 1918 bei, doch seine Befürwortung Jugoslawiens mutiert mit den Jahren zu einer immer erbitterteren Gegnerschaft. Radić wehrt sich dagegen, dass die Kroaten nur ein „Stamm“ einer angeblich serbisch-kroatisch-slowenischen Nation mit Hauptsitz in Belgrad sein sollten. Die Amtssprache des neuen Staates heißt offiziell „Serbo-Kroato-Slowenisch“ und zeichnet sich dadurch aus, dass sie von niemandem gesprochen wird, weil es sie nicht gibt. Radićs Bauernpartei wirft Serbien vor, die kroatische Souveränität usurpiert zu haben. Die Kroaten seien in Jugoslawien unterdrückt wie nie zuvor in ihrer Geschichte, sagt er.
Tatsächlich gibt es an dem neuen Staat nicht nur...