Im »finsteren« Mittelalter
Ars torquendi: Das römische Recht als Wurzel des Bösen
Das Foltern wurde nicht in Deutschland erfunden. Die Idee, Menschen durch Zufügung von Schmerzen zu bestimmten Handlungen zu zwingen, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. In Europa waren es die Römer, die die Lehre von der Folter zu einer umfangreichen Rechtsdoktrin ausgebaut und damit die spätere Entwicklung für Jahrhunderte geprägt haben.[1] Ähnlich wie im griechischen Recht war im römischen anfangs nur die Folterung von Sklaven zulässig, und zwar dann, wenn sie selbst eines Verbrechens angeklagt waren. Später wurde diese Regel erweitert: Sklaven durften nun auch dann gefoltert werden, wenn sie nur als Zeuge aussagen sollten, und das nicht allein in Strafprozessen, sondern selbst bei Geldstreitigkeiten. Nach damaliger Auffassung waren Sklaven nicht rechtsfähig, daher musste ihre Aussage durch Schmerzen überprüft und gewissermaßen beglaubigt werden.
Die Folterung freier römischer Bürger blieb dagegen lange verboten. So konnte sich noch im 1. Jahrhundert nach Christus der Apostel Paulus davor schützen, indem er sich gegenüber den römischen Behörden auf sein Bürgerrecht berief. Als er nämlich in Jerusalem predigte, so erzählt es das Neue Testament, versuchten die Stadtbewohner ihn zu lynchen; sie »erhoben […] ihre Stimme und riefen: Hinweg mit diesem von der Erde! Denn er darf nicht mehr leben. Als sie aber schrien und ihre Kleider abwarfen und Staub in die Luft wirbelten, befahl der Oberst, ihn in die Burg zu führen, und sagte, dass man ihn geißeln und verhören sollte, um zu erfahren, aus welchem Grund sie so gegen ihn schrien. Als man ihn aber zum Geißeln festband, sprach Paulus zu dem Hauptmann, der dabeistand: Ist es erlaubt bei euch, einen Menschen, der römischer Bürger ist, ohne Urteil zu geißeln? Als das der Hauptmann hörte, ging er zu dem Oberst und berichtete ihm und sprach: Was willst du tun? Dieser Mensch ist römischer Bürger. Da kam der Oberst zu ihm und fragte ihn: Sage mir, bist du römischer Bürger? Er aber sprach: Ja. […] Da ließen sogleich von ihm ab, die ihn verhören sollten.«[2]
Erst seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde die Folterung von freien Römern erlaubt.[3] Anfangs war sie nur bei Verrat zulässig, später bei immer mehr Verbrechen, die jeweils durch kaiserlichen Erlass festgelegt wurden: so gestattete Caracalla im 3. Jahrhundert die Folter von Bürgern in Fällen von Giftmord, Konstantin im 4. Jahrhundert bei Hellseherei, Zauberei und anderen Formen der Magie, Justinian dann bei Ehebruch und »unnatürlichen« Begierden. Der Hintergrund dieser Ausweitung der Foltergesetze ist, dass sich vor allem in der Zeit vom 2. bis zum 4. Jahrhundert die sozialen Gegensätze innerhalb der römischen Gesellschaft verstärkten.[4] Die herrschende Klasse, die ihre Mitglieder als »honestiores«, als Edle, bezeichnete, degradierte die einfachen Bürger zu »humiliores«, zu Niedrigen, denen man kaum mehr als den sozialen Status von Sklaven zuerkannte; ihnen wurde daher zunehmend auch die gleiche Rechtsunfähigkeit zugeschrieben wie diesen.
Mit welchen Methoden in Rom gefoltert wurde, lässt sich den erhaltenen Quellen nur ansatzweise entnehmen. Wie schon die Episode des Paulus in Jerusalem zeigt, war das Geißeln, also das Auspeitschen, eine verbreitete Verfahrensweise. Tacitus berichtet, dass Kaiser Nero mit der Peitsche und Feuer habe foltern lassen, und andere Dokumente sprechen vom Zerreißen der Haut mit Haken oder Zangen.[5] Dabei wurden die Gefolterten entweder an einen Pfahl gebunden oder auf das so genannte »Pferdchen« (eculeus) gesetzt, eine Art Holzbock, über dessen genaue Gestalt – den fantasievollen Abbildungen aus späterer Zeit zum Trotz – nichts bekannt ist. Vermutlich waren viele Folterarten an die Methoden der damals üblichen Körperstrafen angelehnt. Bei der Interpretation der Quellen muss man allerdings vorsichtig sein: Insbesondere in den spätantiken Heiligenlegenden sollten die Protagonisten durch die ausgestandenen Qualen als strahlende Vorbilder für Gottvertrauen und Leidensfähigkeit erscheinen. Um dies zu demonstrieren, ließen die Biographen ihre frommen Helden gerne aufspießen, zerhacken, zersägen oder in Nageltonnen stecken, während den weiblichen Heiligen die Brüste abgezwickt oder glühendes Eisen in die Vagina gefüllt wurde. Bei so exzessiven Schilderungen sind Dichtung und Wahrheit nur schwer auseinander zu halten.[6]
Fantasievolle Rekonstruktionen des antiken »eculeus«: Die Technik des Quälens faszinierte schon immer (Darstellung aus dem 17. Jahrhundert).
Der Nutzen der Folter war trotz ihrer regen Anwendung auch in der Antike schon umstritten. Selbst Kaiser Augustus hatte im ersten Jahrhundert nach Christus zur Vorsicht bei der Anwendung dieses Mittels gemahnt: »Ich meine, dass die Folter nicht in jedem Falle und nicht bei jeder Person eingesetzt werden sollte.«[7]
Der römische Jurist Ulpian betonte später, »dass man nicht immer (aber auch nicht niemals) Vertrauen in die Folter setzen soll, weil es sich um eine unsichere und gefährliche Angelegenheit handelt, die über die Wahrheit täuscht. Denn sehr viele Menschen verachten – sei es aufgrund ihrer Unempfindlichkeit, sei es aufgrund ihrer Abhärtung gegenüber Folterungen – das Leiden so sehr, dass es gänzlich unmöglich ist, ihnen die Wahrheit abzupressen. Andere wiederum sind so wenig in der Lage, Schmerzen zu ertragen, dass sie lieber lügen als sich der Folter auszusetzen; daher legen sie dann Geständnisse verschiedener Art ab und beschuldigen nicht nur sich selbst, sondern auch andere.«[8]
Das römische Recht – und mit ihm die römische Folterdoktrin – beeinflusste die Entwicklung in Europa auf zweierlei Weise: Zum einen ging es direkt in einige germanische Volksrechte über. Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, wie die Germanen die römischen Rechtsbräuche auf ganz eigene Art und Weise übernahmen. Langfristig noch bedeutsamer war es aber, dass Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert nach Christus die wichtigsten Erlasse, Gerichtsurteile und Rechtskommentare aus allen Epochen der römischen Geschichte zusammenstellen ließ: Das dabei entstandene Corpus Iuris Civilis (Sammlung des Bürgerlichen Rechts) wäre zwar beinahe in den Wirren des frühen Mittelalters verloren gegangen und vergessen worden, aber ein einzelnes Exemplar blieb erhalten, und zwar in Bologna. Dort stieß dann um das Jahr 1100 der Rechtsprofessor Irnerius auf die verstaubten Pergamentrollen. Er begann, ihren Inhalt zu studieren, und scharte bald eine ganze Schule von weiteren antikenbegeisterten Juristen um sich, die damit begannen, die umfangreiche Rechtssammlung zu vervielfältigen und zu kommentieren. Allmählich wurde sie in ganz Europa bekannt, und sobald irgendwo darangegangen wurde, das mittelalterliche Gewohnheitsrecht aufzuschreiben und sachlich zu ordnen, bediente man sich bei den Vorarbeiten der alten Römer.
Das Corpus Iuris Civilis ist bis heute das berühmteste Denkmal antiker Rechtskultur. In Deutschland waren seine Bestimmungen bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 noch geltendes Recht; natürlich nur, soweit ihnen kein jüngeres Gesetz entgegenstand, keineswegs also im Hinblick auf die Folter. Die war in dieser gigantischen Stoffsammlung ohnehin nicht der wichtigste Gegenstand. Dennoch blieb die spätere Theorie der Folter nicht unbeeinflusst von der Antikenrezeption, die im Hochmittelalter mit der Wühlarbeit des Irnerius und seiner Schüler begonnen hatte. Im zweiten Buch des Corpus Iuris, den Digesten (einem »Reader’s Digest« der antiken Rechtsliteratur), findet sich auch eine erste Definition, die für Jahrhunderte gültig bleiben sollte: Unter Folter verstand man »körperliches Leiden und Schmerzen, die eingesetzt werden, um die Wahrheit herauszubekommen«.[9]
Fehde, Buße, Rutenschläge: Das Strafrecht der Germanen
Das römische Reich erlag im späten 5. Jahrhundert dem Ansturm der germanischen Stämme, die von den Hunnen über den Rhein und zum Teil auch über Alpen und Pyrenäen getrieben worden waren. In dieser Zeit vermischten sich auf vielen Gebieten die römische und die germanische Kultur. Ob die Germanen erst in dieser Zeit die Folter kennen lernten, oder ob sie sie schon vorher ausgeübt hatten, das ist eine Frage, die seit über hundert Jahren die Rechtswissenschaft beschäftigt. Die meisten Gelehrten sind überzeugt, dass die Folter dem »germanischen Rechtsdenken« ursprünglich völlig fremd gewesen sei. Das galt schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als gesicherte Tatsache, als man die Germanen – nicht nur in Deutschland – geradezu vergötterte, weil ihre Freiheitsliebe und Geradlinigkeit sich so wohltuend von der Dekadenz der spätrömischen Sklavenhaltergesellschaft abzuheben schien. Symptomatisch ist die Aussage von Rudolf Quanter, dem Autor eines im Jahr 1900 erschienenen Buches über die Folter: »Die kerndeutschen Begriffe von Treue und Glauben, das poetischer und sinniger veranlagte deutsche Gemüt«, so stellte er fest, »ließen ein Verfahren, das durch brutale Gewalt, durch körperlichen Zwang das herbeiführen will, was Ehre und Wahrheitsliebe der Deutschen schon ohne Zwangsmittel lieferten, nicht dauerhaft aufkommen.«[10] Der Glaube an »kerndeutsche« Tugenden hat heute allerdings einiges an Überzeugungskraft verloren, so dass man doch...