„Hitler, der hat ja jewettert da über die, die im Westen war’n, die Soldaten, Offiziere und Offizierskorps. … Na, weil die et da leichter hatten. Einije haben dat richtig ausjelebt. … Wir war’n ja bloß an der Küste da, wir konnten nüscht ausleben.“
Während die so genannten Mannschaftsdienstgrade vorwiegend in küstennahen Behausungen untergebracht waren, hatten Offiziere Anspruch auf ein französisches Privatquartier. Während der einfache Soldat durch schwere Schanzarbeiten und viele Wachdienste völlig übermüdet war, genossen einige Offiziere im Westen, wie auch Severloh in Bezug auf sich selbst, seinen Chef und andere verdeutlichte, manche Annehmlichkeit (s. Abschn. 7.). Auch Lützen gab an, dass der Leutnant seines Stützpunktes sich häufig bei seiner französischen Freundin aufhielt und auch in der Nacht zum 6. Juni 1944 abwesend war. Gockel berichtete dasselbe von einem Oberleutnant:
„Der [Oberleutnant C.] war am Invasionstag auch nicht da, der hatte eine französische Freundin auch, der soll nachher bei Caen gefallen sein, der hat da irgendwo im ‚Bau’ gesteckt. Er hatte nachts das WN verlassen und am anderen Tag wurde festgestellt, er war nicht da, weil er bei der Freundin war.“
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich hier um dieselbe Person handelt, von der auch Lützen sprach, denn beide befanden sich auf demselben Stützpunkt.
Der Informant Arp bezeichnete seinen Vorgesetzten als „Quartalssäufer“ (3., 3.1), der ebenfalls am D-Day nie zu sprechen war. Dasselbe berichtete Severloh von dem Major seiner Abteilung (3., 3.1), und Ritter erlebte seinen Kompaniechef als „Lebemann“, der im Ernstfall immer krank war.
Nicht nur die Lebensumstände sorgten im Westen dafür, dass deutsche Soldaten in Frankreich in ihrer dienstfreien Zeit Einkäufe tätigen, in Bars sitzen und – in größeren Städten – auch ins Theater oder ins Kino gehen konnten, sondern auch das, im Vergleich zum Osten, milde Klima. Mensch und Tier hatten diesbezüglich nicht allzu sehr zu leiden.156 Der Befragte Weiß erinnerte sich:
„Ja, wir hatten ja ooch ’n paar Pferde da, ... in Frankreich. Die gingen den ganzen Winter über wie die Kühe auf die Weide. Frankreich is keen Vergleich zu Russland. Das Äußere schon, dat Janze, is kein Vergleich. Und die Kriegführung is ja auch anders jewesen.“
Für die deutschen Soldaten bedeutete dies, dass die Pferde wenig zusätzliches Futter und auch keine aufwändigen Unterstände gegen die Kälte benötigten. Auch Lützen beobachtete aus der Perspektive des Landwirtes:
„Ja, die hatten ja die Kühe im Winter gar nicht drin. Das is ja nicht so ’ne Landwirtschaft wie hier. Es gibt ja gar keinen Winter. Die haben so’n büschen Dach über, und da laufen die Kühe rein und fertig is dat. Und die hatten ja auch nicht so ’ne Massen, die hatten vielleicht sieben Kühe hatten die.“
Uhlmann, der als Kradmelder in der gesamten Normandie umhergefahren ist, bestätigte diese Beobachtungen:
„… Da herrscht gar kein Winter. Da is das Vieh Sommer und Winter draußen, und ich kann mich gut erinnern, dass da mal ein oder zwei Grad Kälte waren, und da überwintern ja viele Vögel.“
Umso mehr stellt sich die Frage, wie deutsche Soldaten, die einige Zeit in Frankreich stationiert gewesen waren, es verkrafteten, wenn plötzlich ein Gestellungsbefehl für die Ostfront eintraf. Rothe, der ein Einviertel Jahre als Sanitäter in Frankreich eingesetzt war, beschrieb seine Gefühle so:
„Wie das war?! Wir wurden [in] Woroschilowgrad ausjeladen - und eine Kälte! Ein Schneetreiben! Und – ach! Fragen Sie nicht nach Liebe! Und denn nur, nich... dann gings nur gen Osten. Und denn... wir hatten einen Stabsarzt, der nachher als Erster auch jefallen is. … Das Wichtigste für den waren die Pferde. Und wenn wir denn im Dunkeln in einem Dorf ankamen, mussten Quartier machen, denn standen wir in der Kälte auf [der] Straße. Zuerst musste für die Pferde Quartier gemacht werden. Und wenn die Pferde Quartier hatten, denn durfte für uns Quartier gemacht werden. Und das ging - also fragen Sie nicht! Das war... tagsüber nur marschiert, marschiert. Und ein Schneetreiben, eine Kälte. Und denn kaputt, und denn stehen Sie auf der Straße und warten, dass die Tiere da erst mal in ’nen Stall kommen. Ja. Stellen Sie sich mal vor: nachher minus 41 Grad, aber da fragt doch keiner nach! Ich habs Ihnen ja schon oft gesagt: man lebte in einer... da konnt’ keiner irgendwie ’n anderen Weg gehen. ... Ja, wir haben uns abgefunden, weil die Situation das erforderte. Ja, [wir] alle! Ich will Ihnen mal was sagen: das hat auch Menschen jegeben, die nicht damit einverstanden waren, die versucht haben, sich abzusetzen. Aber hinten stand die Feldgendarmerie, die hat sie an die Wand jestellt. Das haben wir jewusst. Haben Sie schon mal den Ausdruck gehört ‚Feldgendarmerie’? … Ja. Sehen Sie, und das war... die waren brutal... Also, waren wir praktisch, Gott, ich will nicht sagen Zwangsjacke, aber wir waren doch, nich, wir haben unsere Pflicht getan. Und es kam nicht der Gedanke, auszubrechen, weil wir ja wussten, das ist unmöglich. Na, sagen Sie mal, das ist gar kein Vergleich [Frankreich und Russland]!“
Die von Rothe angesprochene deprimierte Verfassung, in der sich er selbst und auch andere Kameraden während der Fahrt in den Osten befanden, ist nachvollziehbar. Seine Division verlegte vom gemäßigten französischen Klima und einem relativ geregelten Leben in einem unter fast friedensmäßigen Bedingungen arbeitenden Wehrmachtkrankenhaus in die Kälte Russlands an der hart umkämpften Ostfront im Januar 1943. In der kältesten Jahreszeit, in der es in der Sowjetunion oft schon zwischen 14.00 und 15.00 Uhr dunkel wird, dorthin zu kommen und die zu erwartenden schweren Kämpfe, die im Westen erst im Juni 1944 einsetzten, stellten in jeder Hinsicht eine persönliche Verschlechterung für diese Soldaten dar. Als Angehöriger einer Sanitätskompanie hatte sich der Informant auf Schwerstverwundete einzustellen, auf improvisierte Verhältnisse mit schlechter Beleuchtung und nur bedingt für die Krankenversorgung geeignete Behausungen sowie auf Fälle mit schweren Erfrierungen. Bei diesen Erwartungen und der im Osten zu der Zeit herrschenden extremen Kälte verwundert es nicht, dass der einzelne diesen Weg nur sehr schweren Herzens angetreten war.
Von einer ähnlich gedrückten Stimmung berichtete auch Großmann, der mit seiner Einheit 1942 vom französischen Arcachon aus an die Ostfront verlegt wurde:
„Eine Fahrt des Schweigens. Kein Lied, kein geöffnetes Fenster, kein Winken, keine zerschellenden Bierflaschen, nur dieses verdammte Schweigen, das in den Abteilen hockt und nicht zu vertreiben ist. … Die Abteile sind vollgepfercht mit Menschen, aber jeder ist sehr mit sich selber beschäftigt. Einige fahren die Strecke zum zweiten Male; sie haben den ersten Kriegswinter in Russland hinter sich. … Jeder spürt es; wir haben noch einen Fahrgast bei uns. Unsichtbar sitzt er zwischen uns, hockt unter den Holzbänken, hängt im Gepäcknetz, obzwar nirgends mehr Platz für ihn zu sein scheint. Ein seltsamer Fahrgast, der sogar eine Sprache hat, … die man besser fühlen als hören kann. Es ist jenes unbeschreibbare Grauen, das uns auf der Fahrt an die Ostfront begleitet.“157
Zu Beginn dieses Abschnitts hatte der Interviewpartner Rothe bereits die Unterschiede zwischen der Arbeitsweise von Ärzten und Sanitätern in Frankreich und der Sowjetunion dargestellt. In seiner letzten Aussage machte er klar, dass er und seine Kameraden als Soldaten im Krieg in dieser Phase keine Möglichkeit sahen, Einfluss auf ihr Schicksal zu nehmen. In der Tat stellte die Feldgendarmerie einen ernst zu nehmenden Faktor dar. Wehrmachtsangehörige, die mit dem Gedanken spielten, sich abzusetzen, konnten in diesem Fall nicht mit nachsichtigem Verhalten seitens der Feldgendarmen rechnen. Wer keinen entsprechenden Einsatzbefehl, Urlaubsschein oder Verwundetenzettel besaß, musste bei seiner Truppe bleiben. Ansonsten drohte eine Anklage wegen Desertion, die in der Regel einem Todesurteil gleichkam. Einige Soldaten, wie Dietrich und Schlotmann, nutzten einen geringen Spielraum, um sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen bzw. zu einer anderen Division versetzen zu lassen. In Dietrichs Fall handelte es sich jedoch um eine ohnehin schwierige Situation in der Nähe von Stalingrad. Viele Einheiten wurden dort, angesichts der chaotischen Zustände während der Kesselschließung, versprengt oder flüchteten vor den angreifenden Rotarmisten. Auch Lützen machte, wie Schlotmann, einfach falsche Angaben, um in die Heimat zu gelangen.158 Versprengte Soldaten hatten sich jedoch in so genannten Auffangstellungen zu melden. Ihre Angaben wurden – im Rahmen der Möglichkeiten – überprüft. Außerdem gehörte eine gehörige Portion Mut dazu, in einem diktatorisch angelegten System, diese kleinen Spielräume auch zu nutzen. Bei den erfahreneren Soldaten, zu denen alle drei Informanten gehörten,...