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Im Recht

Einlassungen von Deutschlands bekanntestem Strafrichter

AutorThomas Fischer
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783426439340
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Ob Germanwings-Absturz, lebenslange Freiheitsstrafe oder die Verfolgung der letzten NS-Verbrecher, Thomas Fischer hat keine Scheu, in den großen aktuellen Debatten Position zu beziehen. Er ist der Meinung, gerade als Bundesrichter muss man sich der politischen Öffentlichkeit stellen. In seinen Einlassungen rechnet er mit Politikern, seinen Kollegen in der Justiz und den in der Gesellschaft herrschenden Mehrheitsmeinungen ab. Indem er erklärt, wie um Gesetze gerungen und gefeilscht wird, zeigt er, wie der Rechtsstaat heute im Innersten funktioniert und wo er an seine Grenzen stößt. Dabei gelingt ihm eine hochspannende und brillante Rechtsphilosophie.

Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beck?schen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seinen Kolumnen für ZEIT-ONLINE und den SPIEGEL wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, zudem ist er Teil des SWR 2-Podcasts 'Sprechen wir über Mord?!'. Bei Droemer erschienen bisher seine Bücher Über das Strafen, Sex and Crime und Im Recht.

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Leseprobe

I.
Recht und Politik


Was hat der Kampf gegen den Terror mit Krieg zu tun?


Am Abend des 11. September 2001 betrat ich eine Tankstelle. Dort standen etwa zehn Bürger und betrachteten schweigend die Live-Übertragung der Angriffe auf die Türme von New York. Ein schmächtiger Mann, Mitte dreißig, Blue Jeans, schwarzes T-Shirt, lange Haare, trat schließlich aus der Gruppe und bewegte sich Richtung Ausgang. »Morgen«, sagte er in triumphierendem Ton, an niemanden speziell gewendet, »existiert Afghanistan nicht mehr.« Er sagte es stolz und erwartungsfroh. Er winkte, ging hinaus und fuhr weg. Ich weiß nicht, ob der Satz das Ende eines Gesprächs bildete, das vor meiner Ankunft stattgefunden hatte. Aber darauf kam es nicht an.

Seither habe ich oft an den Mann gedacht, für den sich so offenkundig alles vermischte: das frohe Staunen über den Eintritt von Star Wars ins wirkliche Leben, der Restbestand von Entsetzen, der auch dem abgebrühtesten Kinogänger beim Anblick wirklicher Toter bleibt, der Stolz auf die Erbarmungslosigkeit des D-Day, also die Freude an der Überwältigung, und sei es der eigenen, durch eine unbezwingbare, alles beherrschende Gewalt.

Natürlich wusste er nicht, wie viele uns überlegene Krieger in Afghanistan leben. Er träumte, wahrscheinlich, von irgendeiner unvorstellbaren Vernichtung, von Granaten aus meterdicken Rohren, von einem alles verschlingenden Racheschlag des Großen Bruders, von Arnold Schwarzenegger und Bruce Willis.

Heute wissen wir: So ist es nicht gekommen. Alles ist anders gekommen. Die sogenannten Taliban haben den Krieg gegen uns gewonnen. Den abrückenden Truppen der uneingeschränkten Solidarität werfen sie derzeit noch ein bisschen Kamelmist nach; danach werden sie sich die von uns im Stich gelassenen Hilfstruppen vorknöpfen. Bevor wir unseren lieben Freund Herrn Hamid Karzai und seine Amigos und all die Mädchen befreiten, betrug der Anteil der Opium-Produktion am Bruttosozialprodukt zwei Prozent. Heute sind es vier. Afghanistan produziert heute achtzig Prozent des weltweit hergestellten Opiums.

 

Im Dezember 2008 wurden in einer Kirche in Uganda 45 Menschen mit Macheten zerhackt. Bei Überfällen auf weitere Kirchen starben im selben Zeitraum weitere 200 bis 500 Menschen. Im Dezember 2009 und Januar 2010 töteten die Täter etwa 600 Menschen und entführten mindestens 160 Kinder. Zwischen Weihnachten und Neujahr 2010 töteten sie mehr als 1000 Menschen. Das Vorgehen ist meist ähnlich: Bei Überfällen auf Bauerndörfer und Kirchen werden die Opfer zusammengetrieben und gefesselt. Erwachsene Männer und ältere Frauen werden mit Äxten und Macheten in Stücke gehackt. Jüngere Frauen und Mädchen werden vergewaltigt und als Sklavinnen verkauft, minderjährige Jungen als Kindersoldaten rekrutiert oder getötet. Seit 1987 soll die für diese Verbrechen verantwortliche Miliz in Uganda, der Zentralafrikanischen Republik, dem Südsudan und Kongo etwa 100000 Menschen ermordet, mehr als eine Million Menschen vertrieben, Zehntausende Frauen versklavt und Zehntausende Kinder entführt und unter Einsatz von Drogen und unvorstellbarerer Gewalt zu sogenannten Kindersoldaten abgerichtet haben. Der Stellvertretende Generalsekretär der OCHA, der Unterorganisation der UNO für humanitäre Angelegenheiten, hat sie als »die wohl brutalste Rebellengruppe der Welt« bezeichnet.

Die Organisation, von der die Rede ist, heißt »Lord’s Resistance Army« (LRA) und verfolgt das Ziel, einen christlichen Gottesstaat unter der Herrschaft der Zehn Gebote zu errichten: zunächst in Zentralafrika, später in der ganzen Welt. Ihr Gründer und Anführer heißt Joseph Kony. Er wird vom Internationalen Strafgerichtshof in den Haag per Haftbefehl gesucht – seit zehn Jahren leider vergebens.

Aufmärsche von Repräsentanten und Mitgliedern des Christentums gegen die Gräuel der LRA sind nicht bekannt. Ein Einmarsch der Bundeswehr zur Verteidigung Deutschlands am Kongo wurde nicht erwogen. Die Bundeskanzlerin hat nicht mitgeteilt, sie würde sich sehr freuen, wenn es gelingen würde, nach Herrn Osama bin Laden möglichst bald auch Herrn Joseph Kony zu töten.

Es gibt Milizen, Armeen, Verbrecherbanden auf dieser Welt, die im Namen jener »christlichen« Kultur, der sich in Deutschland ein jeder verpflichtet fühlt, grauenhafte Verbrechen begehen. Es gibt auch solche, die den wahren Hinduismus oder den wahren Islam oder irgendwelche anderen angeblich allerhöchsten Werte verwirklichen wollen. In Amerika, dem Land der besonders Freien, gibt es aggressive Sekten, die dem intellektuellen Niveau afghanischer Bauern deutlich unterlegen sind. Sie wollen das Reich irgendeines Herrn errichten. Sie haben Feuer und Schwert dazu, ganze Lagerhallen voll von Pumpguns und Schnellfeuergewehren. Ihre jungen Männer und Frauen trainieren wöchentlich. Wenn der Feind kommt, führt sie ihr Gott persönlich in den Kampf.

 

In den letzten zwanzig Jahren hat der Bonner Strafrechtsprofessor Günther Jakobs, einer der scharfsinnigsten, gnadenlosesten und gründlichsten Denker seiner Zunft in der europäischen Nachkriegszeit, das Bild eines sogenannten Feindstrafrechts entworfen – zunächst vorsichtig, kritisch, distanziert; später auf irritierende Weise bestätigend und fordernd.

Jakobs geht davon aus, dass es zunächst ein Bürgerstrafrecht gibt (und geben muss), also ein Strafrecht des Staates, das für all diejenigen gemacht und auf diejenigen angewandt wird, die innerhalb der (jeweiligen) staatlichen Gemeinschaft – im Sinne einer gemeinsamen Kultur – leben, leben wollen und als solche anerkannt werden. So ein Strafrecht für seine Bürger entwickelt jede staatlich verfasste Gemeinschaft zur Regulation und Verfolgung von abweichendem Verhalten in ihrem Inneren.

Daneben aber gibt es (oder sollte es nach Jakobs geben) ein Strafrecht für Feinde, also für Personen, die nicht bloß einzelne Gesetze übertreten, deren Geltung sie im Grunde anerkennen (auch der Dieb möchte durch das Bürgerstrafrecht geschützt und nicht bestohlen, der Vergewaltiger nicht vergewaltigt werden), und die daher auch wir als Mitbürger anerkennen. Sondern für Personen, die die jeweilige Rechtsordnung als solche im Grunde und im Ganzen verwerfen und deshalb zerstören wollen. Nach Ansicht von Jakobs muss der Rechtsstaat, will er sich nicht in pure Vernichtung flüchten, rechtzeitig Prinzipien und Grenzen des Umgangs mit solchen Feinden entwickeln, um sich selbst nicht aufzugeben. Denn: Einerseits darf er die Rechtsgüter gegenüber einem zerstörerischen Angriff nicht preisgeben, den er mit den Mitteln der »Bürgerstrafrechts« nicht aufhalten kann; andererseits darf er Prinzipien einer zivilisierten Gesellschaft nicht opfern, welche für seine eigene Legitimität unabdingbar sind.

Man hat Herrn Jakobs viele Vorwürfe gemacht wegen der »Erfindung« des Feindstrafrechts – obgleich er es nicht erfunden, sondern nur beschrieben hat. Viele halten ihn für eine Wiedergeburt des Staatsrechtlers und politischen Philosophen Carl Schmitt – eines erbarmungslosen Zu-Ende-Denkers von Ideen, die in den 1930er Jahren zur Affirmation der schrecklichsten Gewalt des NS-Staates führte und keine Grenzen mehr anerkannte hinter der bloßen Funktionalität von Legitimation: Recht als willkürliches Instrument von Gewalt.

Anders gesagt: Wenn soziale und politische Herrschaft keine inhaltliche, materielle Grenze und Bestimmung hat, sondern allein aus den Funktionen ihrer eigenen Bestätigung besteht, die Aufgabe des Rechts also nicht mehr die tatsächliche Verwirklichung von Gerechtigkeit und Glück ist, sondern nur mehr die Erzeugung von Imaginationen solcher Zustände, dann gibt es nichts mehr, was unsere moderne Gesellschaft noch zusammenhält. Die Angst davor nimmt man denen übel, die sie beschreiben.

Was bedeutet das? Was hat die verschreckte Rechtswissenschaft dem Jakobs’schen Gedanken entgegenzuhalten? Nicht viel, muss man leider sagen. Nach allem, was wir wissen, hat sich unser Staat im »Krieg gegen den Terror« wissentlich an Aktivitäten beteiligt, die in unserem Recht nur schwerlich eine Rechtfertigung finden: an Entführungen, an Folterungen, an Ermordungen. Wir, die wir doch vor siebzig Jahren geschworen haben, dass niemals mehr Schweigen herrschen dürfe über staatliches Unrecht: Was sagen wir nun, nachdem wir die verflossene DDR empörungsmäßig abgearbeitet haben, zu unserem eigenen Unrecht? »Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.« Ein großer Satz, ein Satz für die Ewigkeit und die Geschichtsbücher. Die deutsche Bundeskanzlerin sagte ihn über das Recht und die Gerechtigkeit.

 

Deutschland führt seit dreizehn Jahren »Krieg«. Die öffentliche Meinung über all die Jahre war schwankend, die Helden der Meinungsfreiheit rätselten mit zitternden Händen über der Tastatur: Darf man das Wort verwenden? Was wird der Chefredakteur sagen? Wird mein Vertrag verlängert? Hat schon eine Partei angerufen? Welche Worte sind zurzeit erlaubt, welche üblich und erwünscht, und welche wären, unter Freunden, ganz unklug? Die Kriegsberichterstattung der deutschen Presse seit 2001 ist ein Thema für sich.

Und: Was bedeutete uns dieser »Krieg« überhaupt? Handelte es sich nicht vielleicht doch eher um ein »Phänomen«? Irgendetwas in den entfernten Formen des Krieges, aber ohne dessen Folgen? Eine Art von Kolonialkrieg vielleicht? Auch vor 120 Jahren freilich wollte man wenig wissen in Potsdam und Tübingen vom schwarzen Mann und vom Muselmann und vom Schlitzäugigen und seinem Leid. Man sprach über Gold, Rohstoffe, Holz, Kaffee.

Der Grund für das Schwanken der herrschenden veröffentlichten Meinung war kein intellektueller: Mir ist...

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