Der Weg ins Unterland führt durch den gespaltenen Stamm einer alten Esche.
Spätsommerliche Hitzewelle, schwere Luft. Bienen brummen behäbig über Graswiesen. Gold reifen Getreides, Grün frischer Heureihen, Schwarz der Krähen auf Stoppelfeldern. Irgendwo unten, wo der Boden sich absenkt, brennt ungesehen ein Feuer, eine Säule aus Rauch. Ein Kind wirft Steine in einen Metalleimer, Stein für Stein, klong, klong, klong.
Den Feldweg entlang, vorbei an einem Hügel im Osten, gezeichnet von neun runden Hügelgräbern, wie Wirbel eines Rückgrats. In einer Wolke schimmernder Fliegen drei Pferde, stockstill bis auf das Schweifschlagen, Kopfschütteln.
Über den Tritt in der Kalksteinmauer, am Bach entlang zur überwucherten Senke, aus der sich die alte Esche erhebt. Die Krone schwingt sich himmelwärts ins Wetter. Die moosigen Äste hängen tief. Die Wurzeln reichen weit nach unten.
Rauchschwalben jagen flatterfähnchenhaft über Wiesen. Auf halber Höhe kreuzen die Mehlschwalben. Ein Schwan fliegt weit oben auf knarrenden Flügeln nach Süden. Diese Oberwelt ist wunderschön.
Wo der Eschenstamm ins Erdreich übergeht, teilt sich die Borke zu einem schrundigen Spalt, gerade groß genug, dass man ins Innere des Baumes steigen kann – und hinab ins hohle Dunkel darunter fällt. Die Ränder glatt gerieben von den Menschen, die schon hier hineingekrochen und durch die alte Esche ins Unterland gelangt sind.
Unterhalb der Esche entfaltet sich ein Labyrinth.
Hinab durchs Wurzelwerk in einen steinernen Gang, weiter steil nach unten. Die Farben verdämmern ins Graue, Braune, Schwarz. Kalte Luft drängt vorbei. Die Decke ist fester Fels, massive Materie. Die Oberwelt kaum vorstellbar.
Der Gang fächert aus; ein Irrgarten. Seitengänge kriechen davon. Die Richtung ist schwer zu halten. Der Raum benimmt sich sonderbar – ebenso die Zeit. Im Unterland verhält sie sich anders. Verdickt sich, staut sich, fließt, rauscht, verlangsamt sich.
Der Gang macht eine Biegung, eine zweite, verjüngt sich – und weitet sich dann überraschend. Eintritt in eine Kammer. Dröhnen, das widerhallt. Die Wände scheinen auf den ersten Blick nackt, doch dann geschieht etwas Erstaunliches. Szenen aus dem Unterland steigen auf, aus unterschiedlichen Zeiten, erscheinen auf dem glatten Fels, fern, doch in ihrem Echo verbunden.
Und in einer Höhle in einer verkarsteten Felswand atmet eine Gestalt einen Mundvoll Ockerpulver ein, hält die Luft an, legt die linke Hand an die Höhlenwand – mit gespreizten Fingern, die Innenfläche am kalten Stein – und bläst das Rot gegen den Handrücken. Das Pulver zerstiebt, die Hand löst sich vom Fels, es bleibt ein gespenstischer Abdruck: Der Stein hat die Farbe des Pulvers angenommen. Die Hand wird verschoben, mehr Pulver geblasen, ein weiterer Umriss. Kalkspat wächst über die Abdrücke und versiegelt sie. Sie überdauern 35 000 Jahre. Wofür stehen sie? Freude? Gefahr? Kunst? Das Leben in Dunkelheit?
In Nordeuropa wird vor sechstausend Jahren eine junge Frau – die bei der Geburt mit ihrem Kind verstarb – behutsam in ein flaches Sandgrab gelegt. Neben ihr ein weißer Schwanenflügel. In dessen Federmulde ruht der Leichnam ihres Sohnes, der im Tod zweifach gehalten wird – von Schwanenfedern und Mutterarm. Ein Erdhügel wird über den dreien aufgeschüttet: über der Frau, dem Baby, dem zarten weißen Flügel.
Dreihundert Jahre vor der Gründung des Römischen Reiches vollendet ein Kunstschmied auf einer Insel im Mittelmeer die Arbeit an einer kleinen runden Münze. Darauf zu sehen ein rechteckiges Labyrinth mit einem Eingang am oberen Rand und einem verschlungenen Weg zu seiner Mitte. Die Wände sind wie der Rand der Münze leicht erhöht und blank gerieben. In die Mitte des Labyrinths eingeprägt ist ein winziges Wesen mit Stierkopf und Menschenbeinen: der Minotaurus, der im Dunkeln erwartet, was kommen mag.
Sechshundert Jahre später sitzt eine junge Frau in Ägypten Porträt für einen Maler. Für die Sitzung hat sie sich in feine Kleider gehüllt. Sie hat breite dunkle Augenbrauen, große dunkle, fast schwarze Augen. Ihre schwarzen Haare werden von einem geschwungenen Metallreif gehalten, den eine Goldperle ziert. Am Hals ein goldener Schal, an der Brust eine goldene Brosche. Der Maler vermischt heißes Bienenwachs mit Farbpigmenten und Blattgold, das er auf eine Holzplatte aufträgt. Er malt das Totenbild der jungen Frau. Nach ihrem Tod wird es in die Tuchbahnen der balsamierten Leiche gewickelt, um das tatsächliche Gesicht der Mumie zu ersetzen. Mag auch ihr Körper vergehen, ihr Porträt bleibt von den Jahren unberührt. Es ist gut, derlei Dinge frühzeitig zu tun, in noch strahlender Blüte. Der Leichnam wird in die am Rand einer tiefen Wüstensenke angelegte Totenstadt gebracht und unweit eines Gewölbes mit den mumifizierten Überresten von über einer Million Ibissen in eine unterirdische Kammer mit kalksteinverkleideten Wänden, ziegelbedecktem Boden sowie – zur Abwehr gegen Grabräuber – einer Decke aus Platten festen Quarzits gebettet.
Im späten 19. Jahrhundert kriechen unter einem Hochplateau in Südafrika Bergleute durch kilometerlange enge Tunnel, die tiefer in den Untergrund reichen als an irgendeiner anderen Stelle des Planeten, um in Körben das Erz aus einer verborgenen Goldmine zu fördern. Manche dieser Männer, zu Tausenden zum Arbeiten hergekommen, werden bald bei Steinschlägen und Unfällen ihr Leben lassen. Viele mehr werden an Staublunge sterben, da sie Jahr um Jahr in der tödlichen Dunkelheit der Mine den Steinstaub einatmen. Für die Unternehmen, denen die Mine gehört, und die Märkte, die sie beliefert, sind menschliche Körper leicht ersetzbar: nichts als kleine, ungelernte Förderwerkzeuge, schnell ausgetauscht, wenn sie nicht mehr funktionieren. Das geförderte Erz wird gebrochen und das Gold in Schmelzverfahren extrahiert, bevor sich die Gesellschafter in fernen Ländern die Taschen damit füllen.
In einer Hanghöhle in den Ausläufern des indischen Himalajas kurz nach der Teilung Indiens meditiert eine junge Frau sechzehn Stunden am Tag, fünfundsiebzig Tage lang, in fast völliger Dunkelheit. Sie sitzt still, nur ihr Mund bewegt sich beim Murmeln der Mantras. Sie verlässt die Höhle meist nur bei Nacht und sieht, wenn keine Wolken da sind, über den Himmel verschüttet die Milchstraße. Sie lebt von Wasser, das sie mit den Händen aus dem heiligen Fluss schöpft, von wilden Beeren und Früchten aus der umliegenden Gegend. Mantras, Einsamkeit und Dunkelheit schenken ihr Erlebnisse und Empfindungen, die ihr neu sind, und sie merkt, dass ihre Wahrnehmung sich wandelt. Nach diesem Aufenthalt in ihrem unterirdischen Rückzugsraum fühlt sie sich weit wie der Himmel, alt wie die Berge, gestaltlos wie das Sternenlicht.
Vor dreißig Jahren lösen ein Junge und sein Vater im Fußboden des Hauses, das sie bald verlassen müssen, mit der spitzen Seite ihres Hammers eine Diele. Sie haben aus einem Marmeladenglas eine Zeitkapsel gebaut. Dorthinein hat der Junge Gegenstände und Mitteilungen gelegt. Das Druckgussmodell eines Bombenfliegers. Den Umriss seiner linken Hand, in roter Tinte auf weißem Papier. Eine Beschreibung von sich selbst, für den etwaigen Finder – Ziemlich groß für mein Alter, sehr blond, fast weißhaarig. Größte Angst: Atomkrieg –, mit Bleistift auf eine herausgerissene Notizbuchseite geschrieben. Eine stehengebliebene Uhr mit leuchtendem Ziffernblatt und Leuchtzeigern, die er gern mit den Händen umschließt, um die Zahlen schimmern zu sehen. Er streut eine Handvoll Reis ins Glasgefäß, der die Feuchtigkeit aufnehmen soll, dann verschraubt er den Blechdeckel so fest er kann, legt die Kapsel in ihr Versteck und nagelt die Diele wieder an.
Tief in einem erloschenen Vulkan wird ein Tunnelnetz gebohrt, durch das die Ghost Dance, eine tektonische Verwerfung, verläuft. Zugangsstollen neigen sich durch schräge Schichten Tuffstein in die ebenerdige Endlagerzone, die in Deponiestollen aufgeteilt ist. Diese Korridore sind die letzte Ruhestätte für hochradioaktive Abfälle: strahlende Uranoxid-Tabletten in Behältern aus Stahl, die wiederum in Behältern aus Kupfer stecken und über der »Geistertanz«-Bruchlinie die nächsten Millionen Jahre ihre Halbwertszeiten aushauchen. Bei so langfristiger Toxizität müssen die Menschen zur Planung eines sicheren Endlagers überlegen, wie sie den Verwahrort und die Gefährlichkeit des radioaktiven Mülls der fernen Zukunft mitteilen können. Der Risikostoff wird nicht nur die Verursacher überleben, sondern vielleicht die ganze Verursacherspezies. Wie kann man diesen Ort markieren? Wie den zukünftigen Besuchern dieser steinernen Sarkophage mitteilen, dass darin nichts Kostbares liegt, sondern etwas furchtbar Schädliches, das niemals aufgestört werden darf?
Und dann sitzen auf einem schlammigen Felsvorsprung in einer verzweigten Tropfsteinhöhle, vier Kilometer tief im Berg, in völliger Dunkelheit, von einer Sturzflut eingesperrt zwölf Jungen mit ihrem Fußballtrainer und warten, Tag um Tag, versuchen, ihre Akkus zu schonen, und beobachten, ob das Wasser steigt oder sinkt – und ob jemand sie durch irgendein Wunder retten kommt. Stunde um Stunde atmen sie den Sauerstoff in der Höhle, sodass das Kohlendioxid in ihrer Atemluft immer mehr wird. Über dem Berg ziehen weitere Monsunwolken auf, drohen mit noch mehr Regen. Vor dem Berg versammeln sich Tausende Retter aus insgesamt sechs Ländern. Anfangs wissen sie nicht, ob die Jungen überhaupt noch leben. Dann finden sie Handabdrücke aus Schlamm, an Felswänden drei Kilometer tief im Berg. Es besteht Hoffnung. Taucher arbeiten sich durch die...