3. Mit Imaginationen arbeiten – Fallbeispiele aus der Studie
Wir wollen nun einen ersten Einblick in die konkrete Arbeit mit Imaginationen geben und anhand einiger Beispiele aus der Studie verdeutlichen, dass es sich lohnt, mit alten Menschen auf gute Erinnerungen und heilsame Bilder zu fokussieren.
3.1 Schmerzen
Frau A. ist eine 74 Jahre alte Dame, welche unter starken rheumatischen Schmerzen leidet und auf pflegerische Unterstützung angewiesen ist. Sie macht bei den Gesprächen einen sehr orientierten Eindruck und erzählt offen und mit großer Freude von sich und ihrem Leben. Frau A. betont, sich ihrem Alter zu fügen.
Bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen hat ihr geholfen, dass sie immer daran geglaubt hat, dass es wieder bessere Zeiten geben wird. Dieser Gedanke hat ihr Kraft gegeben. In ihrem Leben hat sie sehr viele Krisen erlebt und sich immer selbst helfen müssen. Ihr Wunsch, ihre Enkel zu erleben, gibt ihr Kraft. Sie liebt Kinder, und zu sehen, wie sich diese entwickeln, ist für sie wunderbar. Für andere hat sie nur den Rat, die Jugend zu nutzen. Sie sei nicht mehr in der Lage, etwas zu unternehmen, da ihre Schmerzen so belastend seien und sie massiv einschränken würden.
Sie klagt darüber, dass nichts sie von ihren Schmerzen ablenken könne. Die Schmerzen seien immer da, auch nachts sei das furchtbar, und sie wisse nicht, wie lange sie das noch ertragen werde. Die Schmerzen ließen sie nie in Ruhe. Alt zu werden, könne sie nicht empfehlen. Das Schlimme sei jedoch für sie, im Kopf noch so klar zu sein. Sie wünsche sich oft, ganz kaputt zu sein. Dann müsste sie das alles nicht ertragen. Sie sei zudem sehr einsam. Ihre Tochter komme nur selten, da sie viel zu tun habe. Außer ihrer Tochter und ihren Enkeln habe sie jedoch niemanden mehr.
Ihre Aussage, noch klar denken zu können und orientiert zu sein, griff ich (L.-S. K.) auf und ermunterte sie, dies als eine große Ressource zu betrachten. Ich fragte, ob es etwas gebe, wobei ihr diese Fähigkeit hilfreich sei. Im Laufe des Gespräches konnten tatsächlich einige Aspekte gesammelt werden, für welche sie ihre kognitiven Fähigkeiten nutzen konnte.
Da ebenfalls deutlich geworden war, dass Frau A. nach Ablenkung suchte, erzählte ich ihr von der Möglichkeit der Imagination und fragte nach, ob sie Lust hätte, gemeinsam eine Art Fantasiereise zu machen. Hierbei könne sie sich ebenfalls ihre kognitiven Fähigkeiten zunutze machen. Sie solle einfach schauen, ob sie etwas damit anfangen könne, wenn nicht, dann solle sie sofort Bescheid geben.
Ich erläutere Frau A. sowohl die Übung des »inneren sicheren Ortes« als auch die Übung »Gepäck ablegen«. Sie wählt die Übung des »inneren sicheren Ortes«. Da ihr diese Übung gefiel und sie bereits nach dem ersten Mal äußerte, sich sehr sicher und geborgen gefühlt zu haben und auch ansonsten im Rahmen des Gesprächs sehr positive Rückmeldungen gab, führte ich die Übung noch neun weitere Male mit ihr durch. Sie brachte zum Ausdruck, die Übung jedes Mal freudig zu erwarten, und wollte zu Beginn einer Einheit nur wenig sprechen, während sie nach der Übung sehr ausführlich und lebhaft von ihrem Ort und ihren Gefühlen sprach. Jedes Mal betonte sie, dass sie nicht gedacht hätte, ihre Fantasie und ihren Kopf noch mal so nutzen zu können.
Bei Frau A. kamen viele Ressourcen über die Übung zum Vorschein, die sie in den Gesprächen nur beiläufig erwähnte hatte. Nachdem ich sie jedoch als Ressourcen thematisiert und hervorgehoben hatte, schien sie selbst zu sehen, wie viele wertvolle Stärken in ihr verborgen waren. Als ihren sicheren Ort beschrieb sie ein »kleines Häuschen, direkt an einem Bach, drum herum Wiesen und Wälder, im Bach Frösche und kleine Fische, Kinder spielen am Bach, ein Hund liegt im Schatten«. Sie selbst koche und beobachte das Geschehen aus dem Küchenfenster. Da sie danach sehr detailliert beschrieb, welche Gerüche, Geräusche und Temperaturen sie wahrnahm, hob ich diese Elemente in der Übung besonders hervor. Ebenso thematisierte ich in den Gesprächen danach ihre Ressource als Kind und dass sie auch jetzt noch immer über so viel Fantasie verfüge. Es stellte sich heraus, dass sie sehr begabt schien, sich in die Sichtweise von Kindern hineinzuversetzen. Ich brachte ihr deutlich meine Bewunderung zum Ausdruck und betonte, dass diese Fähigkeit etwas Besonderes sei. Sie wirke sehr empathisch und scheine ihre Umgebung sehr fein wahrnehmen zu können. Sie freute sich sichtlich über diese Aussagen und wirkte danach tief in sich zufrieden. Sie zeigte ein zaghaftes Lächeln und sagte, »ja das mag sein, das hab ich schon immer gern getan«.
Bei meinem letzten Besuch fragte sie, wie mir die Idee gefalle, eine Geschichte für ihre Enkel zu schreiben. Das habe sie sich nach unseren gemeinsamen Gesprächen überlegt. Ich war von der Idee sehr begeistert und bestärkte sie darin, dieses Vorhaben umzusetzen. Ich sprach ihr zu, dass es bestimmt wunderbare Geschichten werden würden. Ihre Stärke solle sie unbedingt nutzen und weitergeben.
Bei Frau A. zeigte sich eindrucksvoll, welche Wirkung imaginative Übungen auf das Schmerzerleben haben können. Ihre Schmerzen, welche sie anfangs als sehr belastend und quälend beschrieben hatte, erwähnte sie in den späteren Gesprächen kaum noch. Im Rahmen der Vorher-Nachher-Erhebungen des Schmerzerlebens gab sie eine deutliche Minderung der Schmerzen an, ansonsten sprach sie jedoch kaum darüber. Im Vergleich zum ersten Gespräch, in welchem sie hauptsächlich darüber berichtet hatte, erschien diese Veränderung erstaunlich. Frau A. wurde sich ihrer Fantasie, Kreativität, großer Vorstellungsgabe, Warmherzigkeit und ihres Einfühlungsvermögens, ihres Gefühls für Natur und Tiere, der feinen Sinneswahrnehmungen, feinen Beobachtungsgabe als ihrer Ressourcen bewusst und konnte dadurch ihre Selbstwirksamkeit im Umgang mit ihren Schmerzen erhöhen. Und sie konnte aufgrund ihrer Erfahrungen in der Imaginationsarbeit erkennen, wie viele Möglichkeiten sie hatte, um sich zumindest von ihren Schmerzen abzulenken.
3.2 Vereinsamung und daraus resultierend: Kein Interesse, starke Ablehnung
Frau P. ist 80 Jahre alt und lebt in einer stationären Pflegeeinrichtung. Sie wirkte beim ersten Besuch sehr reserviert und schien kein Interesse an einer Kontaktaufnahme zu haben. Sie betonte, dass sie für nichts mehr gut sei und nur noch auf den Tod warte. Es gebe ja nichts mehr. Auch an einem Gespräch schien Frau P. kein Interesse zu haben. Aufgrund der Aussagen »Sie wissen eh nicht, was es bedeutet alt zu sein, da mag man auch nicht mehr unter Leute, es reicht dann einfach, wissen Sie …« und auch aufgrund ihrer verschlossenen Körperhaltung entstand bei mir der Eindruck, dass sie keine Beziehung eingehen wollte. Da ich ihr auf keinen Fall etwas aufdrängen wollte und ihre Gründe jeglicher Art nicht hinterfragte, sondern respektierte, verabschiedete ich mich und bedankte mich für das Gespräch.
Drei Tage später traf ich sie auf dem Flur und half ihr ins Zimmer zurück. Ausgelöst durch das Schimpfen über den engen Flur, den alten Rollstuhl und den wässrigen Kaffee, den sie gerade habe trinken müssen, ergab sich ein Gespräch. Sie sei Büroangestellte gewesen, da sei sie dann in die Stadt gezogen, aber sie komme eigentlich vom Land. Davon blieben ihr jedoch jetzt nur noch Träume. Diese Aussage griff ich auf und hob das Träumen als Ressource hervor. Auf die Frage, ob sie einen Traum habe, an den sie besonders gerne denke, erzählte sie von ihrem Pferd. Schon als Kind habe sie dieses Pferd geliebt. Am Ende des Gesprächs war, ausgelöst durch weitere Fragen, ein anschauliches Bild von ihrem Pferd und ihrer Verbindung zu ihm entstanden. Ich spürte eine große Zufriedenheit in ihr. »Schön, schön, schön, kommen Sie ruhig mal wieder«, sagte sie immer wieder. Die Augen blieben auch bei der Verabschiedung geschlossen. In den nächsten zwei Gesprächen sprachen wir dann nochmals über ihre Träume. Sie beklagte sich, dass ihre Träume, die das einzig Schöne seien, kaum noch kämen. Früher habe sie leichter träumen können. Ich fragte sie, was ihr an ihren Träumen guttue, ob es Bilder in ihrem Traum gebe, die für sie besonders wohltuend seien. Es kristallisierte sich bruchstückhaft heraus, dass ihr Pferd, die Ausritte, die anderen Tiere, das frische Heu, die Felder, die Wiesen, der Wald eine große Bedeutung hatten. Denn hiervon erzählte sie immer wieder:
»Ja, mein Pferd, dann bin ich ja viel geritten, nur geritten, in den Träumen reite ich auch, mit meinem Pferd, so ein schönes Pferd, wissen Sie, alle waren neidisch auf mein Pferd, ja und die Wiesen und Felder, die gehörten dann mir, kennen Sie frisches Heu? Wie das riecht? Kennen Sie das, das ist was Wunderbares, wie das duftet, also so frisches Heu […]«
Beim nächsten Mal leitete ich sie auf ihren Wunsch hin über eine imaginative Übung, die die zentralen Elemente ihrer Träume beinhaltete, an, sich in ihren Vorstellungen fallen zu lassen. Ich formulierte die imaginative Übung nicht als solche, sondern integrierte die Anregungen in das Gespräch. Ich erachtete es zudem als besonders wichtig, Frau P. in den Übungen nur wenig vorzugeben, sondern lediglich über imaginative Anregungen den Zugang zu ihren Bildern und Vorstellungen zu bahnen. Was sie von der Übung aufnehmen, für sich nutzen und umsetzen konnte, lässt sich nur vermuten. In den Fragen danach, die ich ebenfalls in das Gespräch integrierte, äußerte sie sich jedoch sehr positiv. Durch die imaginativen Anregungen im Rahmen der Übung schien sie einen Zugang zu ihren Traumgedanken zu bekommen. Um diesen Zugang weiter zu bahnen und ihre Ressource weiter zu stärken,...