3 Lebensassistenz: Stand und Ausblick
Entwicklung und noch vielmehr Forschung darf nicht nur vom Istzustand ausgehen, sondern muss die künftige Umgebung einbeziehen, in der ihre Ergebnisse wirksam werden sollen. Deswegen entwerfen wir hier zunächst ein Bild der digitalen Dienste für die Konsumenten, also der Menschen im Privatleben, und wagen eine Vorhersage der wichtigsten Technologien. Auf dieser Basis entwickeln wir eine Vorstellung, wie ein digitaler Seniorenassistent in zehn Jahren ausschauen könnte.
Die Menschheit steht vor einem Entwicklungssprung. Bis vor kurzem brauchte der Mensch jede Form der Technologie vorwiegend zur Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Ernährung, Gesundheit und Sicherheit. Der technisch und wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittene Teil der Menschheit hat diesbezüglich so viel erreicht, dass andere Bedürfnisse wie beispielsweise Statussymbole (von Gucci über Porsche bis Semperoper), Bequemlichkeit (vom Mobiltelefon bis zum autonomen Fahren) oder Unterhaltung (von Facebook bis Nintendo) in den Vordergrund rücken. Für den Überfluss an Produkten und Dienstleistungen zahlen die Menschen den Preis von Komplexität, Abhängigkeit, hoher psychischer Belastung und gesellschaftlichen Verwerfungen. Das ist ein besonderes Thema für Menschen im sog. dritten Lebensabschnitt: Sie haben noch viele Jahre des Lebens vor sich, haben die beruflichen Aufgaben verloren, wollen das Leben geniessen und später nicht anderen zur Last fallen.
Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker erheben in unzähligen Initiativen die Forderung, die Technologie zum Wohle der Menschheit („for a better world“) einzusetzen. Sie sagen aber nicht, was das Wohl der Menschen ausmacht und was diesem Wohle dient. Viele setzen die Befriedigung von Konsumwünschen mit Lebensqualität gleich.
Utopisten sehen uns am Beginn des glücklichsten Zeitalters. Dystopisten betonen die Gefahren wie Sinnentleerung, Überforderung und gesellschaftliche Verwerfungen, wenn wir immer mehr Aufgaben unseren technischen Helferlein überlassen.
3.1 Digitale Dienste in allen Lebensbereichen
Das CC IL schlägt vor, aufbauend auf bewährten digitalen Diensten einen Lebensassistenten zu schaffen, der insbesondere für alte Menschen hohe Lebensqualität und bezahlbare Leistungen bringt. Digitale Dienste begleiten uns den ganzen Tag und in allen Lebensbereichen. 98% der Schweizer im Alter zw. 14 und 39 Jahren nutzen das Internet mehrmals wöchentlich (BFS, Internetnutzung in der Schweiz, 2016). Im Jahre 2015 besassen 68% aller US-amerikanischen Erwachsenen ein Smartphone. 77% davon haben Apps heruntergeladen, 62% bis zu 20 geladen, 7% mehr als 50 (Olmstead & Atkinson, 2015), aus einem Angebot von ca. 5 Mio. Apps (statista, Anzahl der angebotenen Apps in den Top App-Stores im August 2016, 2016). Die Hälfte der Benutzer verwendet 6 - 10 Apps pro Woche (eMarketer, 2015). Dazu kommen die Dienste, die wir über PC oder als Bestandteil von Geräten nutzen. Damit wird ein hoher und wachsender Prozentsatz der Alten mit digitalen Diensten aller Art vertraut sein.
Wie bereits betont, müssen gestaltungsorientierte Forschung und unternehmerische Entwicklung ihre Vision nicht an der Gegenwart, sondern an der Zeit ausrichten, zu der ihre Lösung marktfähig werden könnte. Für die Vision eines Lebensassistenten benötigen wir ein Bild der Welt, wie sie sich für die Menschen, insbes. Senioren, im Jahre 2025 präsentieren könnte. Im Bewusstsein, dass eine umfassende Bestandsaufnahme oder gar eine Technologievorhersage äusserst unsicher ist, formulieren wir anhand vorhandener Produkte und Dienstleistungen sowie erkennbarer Forschungs- und Entwicklungsrichtungen eine Vorstellung, wie die Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen digitale Dienste, also Geräte, Funktionen und Daten, nutzen werden. Entscheidend ist dabei der Versuch, die Möglichkeiten der Informationstechnik aus der Sicht des Menschen zu sehen, anstatt über neue Vertriebskanäle für bestehende Leistungen nachzudenken.
3.1.1 Information und Kommunikation
Am offensichtlichsten wird die Digitalisierung in der Information und Kommunikation. Mobiltelefon, Videotelefonie, E-Mail, Instant Messaging und Soziale Netze haben die private und geschäftliche Kommunikation bereits massiv intensiviert und beschleunigt. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Kommunikation im Jahre 2025 nochmal wesentlich anders aussehen wird.
44% der erwachsenen Amerikaner lesen ihre Nachrichten auf Facebook (Gottfried & Shearer, 2016), teilweise von klassischen Anbietern, teilweise von speziellen Facebook-Nachrichtenseiten. Der Computational Journalism nutzt alle Möglichkeiten der IT, um aus beliebigen Quellen personalisierte Nachrichten zu erzeugen und zu verteilen (Cohen, Hamilton, & Turner, 2011).
Das Internet ermöglicht es allen Menschen, Inhalte für andere sichtbar ins Netz zu stellen, ob das über eigene Websites, über Blogs (z.B. auf WordPress), Mikroblogs wie Twitter oder soziale Netze wie Facebook geschieht. Es ist zu erwarten, dass mehr und mehr automatisch generierte Inhalte wie Fotos einer Reise für die Familie, Daten einer Bergtour innerhalb eines Alpenvereins oder konsumierte Filme für Freunde ohne Zutun des Konsumenten verfügbar gemacht werden, dass ein Tagebuch also automatisch entsteht. Apple oder Google wären aufgrund der Informationen in Android oder iOS dazu bereits in der Lage, Services wie Komoot, Outdooractive und Viewranger sind erste Schritte schon gegangen. Sie verbinden die Aufzeichnung von Wandertouren mit unterwegs geschossenen Fotos.
Digitale Zertifikate und andere Authentifizierungsmechanismen sowie Verschlüsselung der Nachrichten machen die Kommunikation sicherer gegen Missbrauch (Mithören und Verfälschung). Das erlaubt eine zunehmende Verbindung von Kommunikation und Transaktionen. Ein Beispiel ist die Bezahlfunktion im Message-Dienst WeChat von Tencent. Messenger-basierte Transaktionen können die Kommunikation von Bürgern mit der öffentlichen Verwaltung, von Individuen mit Banken und Versicherungen oder mit Online-Händlern bis 2025 vereinheitlichen und damit vereinfachen.
Derzeit sind Bestrebungen von Anbietern wie Apple zu beobachten, verschiedene Arten der Kommunikation, von der Telefonie über das Instant Messaging, das E-Mail, virtuelle Konferenzen bis zu sozialen Netzen und Multiplayer-Spielen in einer einzigen durchgängigen Benutzeroberfläche zu integrieren, also für die Konsumenten das zu machen, was Unternehmen mit „Unified Communication“ (UCStrategies, 2014) versuchen. Das vereinfacht die Bedienung und Abrechnung. Der Konsument wird künftig wahrscheinlich eine Pauschalgebühr für sämtliche Kommunikationsdienste, möglicherweise jedoch nicht mehr bei den klassischen Telekomunternehmen, bezahlen. Wenn sich ein Standard oder ein monopolistischer Anbieter durchsetzt, fallen auch noch die derzeitigen Barrieren wie Unverträglichkeiten der Formate zwischen Services oder unterschiedliche Begriffe und Bedienungslogiken weg.
Virtuelle oder erweiterte (augmented) Realität dürfte bis zum Jahre 2025 den Durchbruch weit über die Spielewelt hinaus schaffen, beispielsweise wenn eine VR-Brille mit einer WebCam einer potentiellen Urlaubsdestination verbunden wird, so dass sich der Konsument selbst im Urlaubsort "umschauen" kann. Man stelle sich vor, die Kameras von Millionen selbstfahrender Autos stünden dann als WebCams mit exakter Lokalisierung zur Verfügung und könnten nicht nur mit der Kopfbewegung des Trägers der VR-Brille ausgerichtet, sondern sogar gegen Bezahlung zu bestimmten Orten geschickt werden. Technisch ist das teilweise schon heute, wirtschaftlich spätestens 2025 möglich. Alternativ könnten Drohnen mit Kameras oder Roboter wie der Knightscope K5 diesen Service anbieten.
Die Digitalisierung traditioneller Medien, von der Zeitung bis zum Fernsehen, wirken dagegen bereits recht bieder und weitgehend umgesetzt. Doch auch hier sind Durchbrüche zu erwarten. Dazu zählen die automatische Übersetzung, die für mehr und mehr Einsatzbereiche qualitativ ausreicht, oder die linguistische Transkription, also die Übertragung von gesprochenem Wort in Text. Die Maschinen werden mehr und mehr von den Texten, Fotos und Videos verstehen. Google arbeitet mit einem sog. Knowledge Graph an einem Modell der Welt, das Beziehungen zwischen Informationen herstellt. So könnte Google dereinst auf die Frage "Welches Konzert könnte ich am kommenden Wochenende besuchen" die räumliche Distanz aufgrund meiner Reisepläne, die Art des Konzertes aufgrund meiner musikalischen Präferenzen und Konzertkritiken sowie der Verfügbarkeit von Tickets zu einem Vorschlag verbinden (Schulz, 2015, S. 175ff.).
Algorithmen werden dem Menschen helfen, Muster in Texten oder Videos zu erkennen. So könnte ein Informationsdienst Ärzte darüber informieren, dass bestimmte Krankheitssymptome in einer Region zunehmen und möglicherweise mit Hygieneproblemen bei lokalen Versorgern zusammenhängen. Ein digitaler Investmentberater kann durch die Analyse von allen verfügbaren Texten und ökonomischen Daten sowie den Kursentwicklungen von Aktien Muster erkennen und dem Anleger präsentieren. Der Privatanleger kann die Vermögensverwaltung aber auch komplett an einen Algorithmus abgeben, was professionelle Anleger für schmale Anlagesegmente bereits getan haben.
Hohe Aufmerksamkeit widmen Unternehmen wie Alibaba der maschinellen Bilderkennung und in der Folge der Bildsuche in Dokumenten, Katalogen, Fotobibliotheken oder Filmarchiven, die eine bedeutende Ergänzung zur heute üblichen textlichen Suche bringen wird. Was davon zu erwarten ist, lässt sich bereits in Google Photo erkennen, wenn jemand dort seine Fotos abgelegt hat und dann...