Ich trage meine Sonntagskleidung, die Mama mir angezogen hat, und darüber die Jacke. Wir sitzen im Wartezimmer, und ich lese in meinem Heft. Ein intensiver und ungewohnter Geruch liegt in der Luft, beißend, süßlich und steril. Ich weiß nicht, woher dieser Geruch kommt. Vielleicht aus einem Schwimmbad?
– Jón bitte!, sagt die Frau.
Mama bedeutet mir, zu gehen. Ich stehe auf und schlendere durch einen Flur, finde dort aber niemanden. Hier riecht es genauso. Ich gehe wieder zurück und in den anderen Flur.
Ich versuche, eine Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. Als ich mich suchend umschaue, sehe ich, dass mich ein Arzt beobachtet, aber er sagt nichts. Ich sage auch nichts, gehe in sein Zimmer und setze mich auf einen Stuhl. Er schließt die Tür und setzt sich mir gegenüber.
Ich vertiefe mich in mein Heft. Es ist ein Indianer-Heft. Ich kann nicht lesen, aber ich schaue mir die Bilder an und studiere sie ausgiebig. Die Indianer spionieren die Cowboys aus. Die Indianer sind gut, und die Cowboys sind böse.
– Willst du deine Jacke nicht ausziehen?, fragt der Arzt.
Mir ist warm. Ich schlüpfe aus der Jacke, ohne von dem Heft aufzuschauen, und lasse sie auf den Boden fallen.
Der Arzt heißt Einar. Er ist nett, aber seltsam. Immer, wenn ich etwas sage, denkt er darüber nach und schreibt etwas in sein Buch. Ich weiß nicht, was er schreibt. Vielleicht eine Geschichte. Vielleicht eine Geschichte über einen Jungen wie mich, der frech zu seiner Mutter ist. Vielleicht versteht er mich ja und begreift, dass ich nicht böse bin. Oder bin ich doch böse? Manchmal ziehe ich andere Kinder an den Haaren und bin frech zu Mama oder mache beim Spielen meine Sachen kaputt. Manchmal sind die Leute auch sauer auf mich und schimpfen mit mir, aber ich weiß meistens nicht, warum. Es gibt böse Männer, die kommen und ungezogene Jungen mitnehmen.
Oben im Regal steht ein Kran.
– Was ist das?, frage ich und zeige auf den Kran.
– Das ist ein Kran.
– Der ist ja komisch.
– Er ist aus Bilofix.
Ich betrachte den Kran. Bilofix ist ein Bausatz wie Lego. Er besteht aus Holzteilen mit Löchern drin und bunten Plastikschrauben, mit denen man die Teile zusammenbauen kann. Außerdem gibt es noch Räder. Ich habe schon mal mit Bilofix gespielt.
– Den will ich haben, sage ich.
Der Arzt steht auf, holt den Kran und gibt ihn mir. Der Kran ist super. Er hat eine Schnur, die man hochkurbeln kann, wenn man an einem Rad dreht, aber einige Schrauben sind lose. Ich schraube sie ab und an anderen Stellen wieder dran. Ich würde den Kran gerne auseinander- und wieder zusammenbauen. Manchmal baue ich etwas aus Lego, zum Beispiel ein Haus, und schmeiße es dann auf den Boden, sodass es auseinanderkracht. Aber das ist nicht schlimm, weil Lego nicht zerbricht und man immer wieder etwas Neues bauen kann. Bilofix ist genauso, Meccano auch, aber Meccano ist aus Metall.
Der Kran fällt auseinander, und ich kriege ihn nicht wieder zusammengebaut. Außerdem verheddert sich die Schnur immer, aber das ist nicht schlimm. Ich habe nichts kaputt gemacht. Das weiß ich, weil Einar nicht sauer ist. Er schaut mich nur forschend an und schreibt etwas in sein Buch.
Ich wickle die Schnur um die Holzteile und werfe alles auf den Boden. Dann nehme ich das Blatt, das zu dem Bilofix gehört. Darauf sind Anleitungen und Bilder, aber das ist mir alles zu kompliziert.
– Ich kann das nicht.
Einar steht auf, nimmt die Bilofix-Teile und legt sie in eine Kiste. Dann setzt er sich wieder und schreibt in das Buch.
– Deine Mutter hat mir erzählt, dass du nicht gerne mit anderen Kindern spielst?
Das stimmt. Es macht mir keinen Spaß. Ich bin lieber alleine, weil ich nicht weiß, was andere Kinder wollen. Sie nehmen meine Spielsachen und bringen alles durcheinander. Sie sind einfach nur seltsam.
Meistens werde ich ganz konfus, wenn ich mit anderen Kindern zusammen bin, und fühle mich unwohl. Manchmal bin ich so frustriert, dass ich anfange zu weinen. Ich habe Angst vor ihnen, obwohl sie nicht böse zu mir sind. Ich verstehe sie nur nicht, und sie verstehen mich auch nicht. Es ist, als sprächen wir nicht dieselbe Sprache. Sie sind besser als ich. Sie können alles Mögliche, was ich nicht kann, und werden nie ausgeschimpft, aber ich bin stärker als sie.
Kinder überrumpeln mich immer. Eigentlich finde ich sie gar nicht blöd und möchte nicht böse zu ihnen sein, aber wenn ich Angst kriege, reiße ich an ihren Haaren. Am liebsten wäre mir, sie würden gehen und mich in Frieden lassen.
– Warum willst du nicht mit ihnen spielen?, fragt er.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
– Bist du so schüchtern, Jón?
Ich bin nicht schüchtern, aber ich habe Angst. Ich habe Angst vor Leuten, auch vor Einar, aber das sieht man mir nicht an. Ich will, dass er aufhört mit mir zu reden und mich anzuschauen. Ich will nach Hause in mein Zimmer. Ich will nicht ich sein, und ich will nicht hier sein. Am liebsten würde ich in mich hineinkriechen, immer weiter, ganz tief in mich hinein, wo mich niemand stört und niemand sauer auf mich ist.
Manchmal kurz vorm Einschlafen fühle ich mich ganz seltsam. Dann wird mein Daumen riesengroß, und ich krieche in ihn rein. In dem Daumen sind zwei Männer, die sich unterhalten. Sie sprechen leise, und ich höre nicht, was sie sagen. Sie bemerken mich nicht. Ich gehe an ihnen vorbei in einen langen Gang, die Treppe hinunter und dann über eine lange Leiter weiter nach unten. Nachdem ich durch einen anderen langen Gang gelaufen bin, komme ich am Ende zu einem Raum, der wie eine weiche Baumwollkugel ist. Ich schlinge die Arme um meinen Körper und lege mich auf den Fußboden. Und dann schlafe ich ein.
– Jón?
Plötzlich fängt es vor dem Haus an zu dröhnen, und der Boden vibriert.
– Was ist das?, frage ich.
– Was glaubst du denn, was es ist?, entgegnet der Arzt.
Ich weiß es nicht, vielleicht ärgert uns jemand. Vielleicht ist es ja der Teufel, der mich holen kommt. Der Teufel weiß über mich Bescheid. Er ist böse.
Einmal hat Mama mich ins Telefonzimmer gerufen. Sie gab mir den Hörer und sagte, da wolle eine Frau mit mir sprechen. Ich bekam Angst. Die Frau fragte mich, ob ich ungezogen sei. Ich verneinte, doch sie sagte, sie wisse alles über mich. Dann fragte sie mich, ob ich wisse, was mit bösen Jungen gemacht werde. Als ich darauf nichts sagte, meinte sie, der Teufel würde ungezogene Jungen wie mich holen und in einen schwarzen Sack stecken. Dann fragte sie, ob ich es darauf anlegen würde, dass der Teufel mich holen käme. Ich sagte Nein.
Nach dem Telefongespräch ging ich in mein Zimmer, konnte kaum mehr atmen und bekam nur noch Luft, indem ich gähnte. Ich wurde furchtbar müde und wollte in meinen Daumen kriechen.
Das Dröhnen geht weiter. Einar schaut mich abwechselnd an und schreibt in sein Buch.
– Das kommt aus der Ecke, sage ich.
Ich bin böse und hässlich. Vielleicht ist der Teufel gekommen, um mich zu holen. Vielleicht kommt er aus der Erde, und Einar ist ein Freund des Teufels. Vielleicht ist es Mama egal, wenn der Teufel mich holt. Vielleicht ist sie schon gegangen, und ich darf nie wieder zurück nach Hause. Ein schwerer Stein legt sich auf meine Brust. Ich bin schutzlos, ich habe mein Messer nicht dabei.
Jäh springe ich auf und lausche. Das Geräusch kommt aus der Heizung. Aus der Heizung in meinem Zimmer kommen manchmal auch Geräusche, aber eher ein leises Blubbern und nicht solcher Lärm. Dann begreife ich, was es ist. Jemand bohrt. Ich atme erleichtert auf und setze mich wieder.
– Hattest du Angst, Jón? Hattest du Angst vor dem Geräusch?
– Nee.
– Weißt du, wie alt du bist?
– Sechs.
– In welcher Schule bist du?
– Foxvox!
– Fossvogur?
– Ja, hab ich doch gesagt.
– Ist es schön in der Schule?
– Ja.
– Wie heißt deine Lehrerin?
– Kristín. Ich hab auch einen Schulranzen. Der ist rot, und vorne drauf ist ein Bild von einem Jungen, der steht vor einem Baum und gibt einem Mädchen einen Apfel.
– Ist das ein schöner Ranzen?
– Stebbi sagt, es ist ein Mädchenranzen.
– Wer ist Stebbi?
– Mein Freund.
– Du hast also doch Freunde?
Ich möchte nicht über dieses Thema reden, das finde ich doof. Lieber denke ich an den Geruch meines Schulranzens.
Ledergeruch ist mein Lieblingsgeruch. Ich mag meinen Schulranzen, weil man darin gut atmen kann. Manchmal stecke ich den Kopf rein und atme den Geruch ein, und dann geht es mir gut, aber manchmal riecht es auch nach dem Pausenbrot, das in dem Ranzen war.
Gerüche sind wichtig. Meine Schwester Eyrún ärgert mich manchmal, indem sie mich an Hirschhornsalz riechen lässt. Das riecht übel. Ich mag fast alle Gerüche, außer Kacke- und Pissegeruch von anderen und Gurken.
Gurkengeruch ist am allerschlimmsten. Davon wird mir schwindelig. Einmal wollte Mama mir ein Brot geben, auf dem Gurkenscheiben waren. Sie warf die Scheiben einfach weg und schmierte stattdessen Pastete auf das Brot. Aber ich roch es trotzdem. Gurken riechen so stark. Irgendwie grün und stachelig.
Auf dem Tisch liegen Papier und Filzstifte. Filzstifte riechen gut. Ich schnuppere gerne an ihnen. Aber man muss aufpassen, dass man sich dabei nicht anmalt. Rote Filzstifte riechen nach Apfelsinen.
Ich nehme ein...