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Individuelle Freiheit zum Wohle Aller

Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill

AutorFrauke Höntzsch
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl227 Seiten
ISBN9783531923734
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Die politische Ideengeschichte und die Beschäftigung mit ihr sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, praxisfern und mithin verzichtbar zu sein. Nicht zuletzt in Folge der Bedrängung der 'Politischen Theorie und Ideengeschichte' durch den wachsenden Anspruch anderer Bereiche der Politikwissenschaft, die eigentlich relevante, weil anwendungsbezogene (empirisch-analytische) Theoriearbeit zu leisten, wird die Ideengeschichte zunehmend marginalisiert. Das schadet dem gesamten Fach - nicht nur mit Blick auf die Leistungen der Ideengeschichte als einer historischen Disziplin, sondern jenseits dessen auch mit Blick auf ihr oft unterschätztes theoretisches Potential. Man trennt politische Theoretiker meist in solche, die über das, was IST und solche, die über das, was SEIN SOLL verh- deln (wenngleich beides kaum zu trennen ist) - die Ideengeschichte aber eröffnet einen weiteren Modus theoretischer Reflektion: Sie zeigt, was SEIN KANN. Sie weist über das hinaus, was ist, ohne Deutungshoheit zu beanspruchen über das, was sein soll - in dieser Mittlerposition liegt im wahrsten Sinne des Wortes ihr Potential. Die vorliegende Studie versteht sich in diesem Sinne als ideen- schichtliche Studie, die durchaus einen Beitrag zu aktuellen Fragen leistet, wenn auch weniger in Form konkreter Lösungsvorschläge als vielmehr in Form alt- nativer Denkmöglichkeiten gesellschaftspolitischer Ordnung. Die Grundlage der vorliegenden Publikation bildet meine 2009 an der L- wig-Maximilians-Universität München verteidigte, von der Friedrich-Naumann- Stiftung mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gef- derte Dissertation. Für die wohlwollende, das Denken nie einengende, doch stets fordernde Betreuung danke ich meinem Doktorvater Prof. Henning Ottmann.

Frauke Höntzsch promovierte bei Prof. Dr. Henning Ottmann am Lehrstuhl für politische Theorie und Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Augsburg.

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Leseprobe
III. Politische Rahmenbedingungen der Freiheit (S. 166-167)

In den Considerations on Representative Government (1861) fragt Mill nach den politischen Rahmenbedingungen der komplexen negativen Freiheit, um die individuelle und soziale Entwicklung jedes Einzelnen und damit das Wohl Aller zu ermöglichen. Regierungsformen sind für Mill Mittel zum Zweck: Ihr Ziel ist es, mittels politischer Institutionen die notwendigen Glücksbestandteile (die komplexe negative Freiheit) zu garantieren und die fakultativen Glücksbestandteile (Individualität und soziale Tugend) zu fördern.

Beides kann in einem zivilisierten Volk laut Mill umfänglich und dauerhaft nur die zu diesem Zwecke modifizierte repräsentative Demokratie leisten. Mill modifiziert das herkömmliche Verständnis der repräsentativen Demokratie, um eine Regierungsform zu entwerfen, die „promotes a better and higher form of national character, than any other polity whatsoever“ (RG: 404), d. h. die der progressiv-dualen Natur des Menschen gerecht wird. Mill ist von der Wünschbarkeit der Demokratie überzeugt, sich aber auch der hohen Anforderungen bewusst, die sie an ihre Bürger stellt. Diese Spannung, die sich durch Mills gesamtes politisches Denken zieht, wird in den Considerations besonders deutlich.

Die Considerations sind ausschweifender und wirken weniger systematisch als Utilitarianism und On Liberty, Mill bezeichnet sie als „a connected exposition of what, by the thoughts of many years, I had come to regard as the best form of a popular constitution“ (RG: 267). Die hier formulierten Forderungen enthalten, weil die Wahl der Regierungsform sich in Mills Augen an den historischen Gegebenheiten orientieren muss, manches, was heute indiskutabel erscheint.

Geleitet von der Furcht vor einer Tyrannei der ungebildeten Mehrheit, vertraut Mill in seinen politischen Forderungen nahezu uneingeschränkt und aus heutiger Sicht naiv auf die moralische Integrität und intellektuelle Urteilsüberlegenheit einer gebildeten Minderheit, die die politische Umsetzung der freien Gesellschaft garantieren soll. Die Kritik an dieser Grundannahme tritt im Folgenden bisweilen in den Hintergrund. Die Behandlung der Considerations hat im Rahmen dieser Studie in erster Linie eine ergänzende Funktion: Ziel ist es, zu zeigen, dass Mills politische Forderungen die im Rahmen dieser Abhandlung herausgearbeitete soziale Konzeption der Freiheit bestätigen. Mills repräsentative Demokratie zielt darauf, nicht nur die individuelle, sondern auch die soziale Freiheit zu sichern, um so Individualität und soziale Tugend zu ermöglichen.

1. ‘The improvement of the people’

Qualität und Legitimität politischer Institutionen bemessen sich für Mill an ihrer Fähigkeit, dem Wohl Aller zu dienen, das sich durch die Ausbildung der höheren Fähigkeiten realisiert. Das Hauptziel einer guten Regierung ist „the improvement of the people themselves“ (RG: 403). Mill begründet auch die Demokratie durch seinen auf Grundlage des progressiv-dualen Menschenbilds modifizierten Utilitarismus, nicht, wie etwa Locke (vgl. Brocker 1995), in der Naturrechtslehre.

Alle Modifikationen, die Mills politisches Denken und sein Verständnis der Demokratie im Laufe seines Lebens erfuhren, sind Modifikationen der geeigneten Mittel, die utilitaristische Legitimation dagegen kann als Konstante seines politischen Denkens gelten, der er Zeit seines Lebens treu bleibt, bereits 1823 schreibt er: „Good government is not the end of all human actions. Though a highly important means, it is still only a means, to an end: and that end is happiness“ (XXII: 82). Regierungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem Volk das zu geben vermögen, ohne was es sich gar nicht oder nur langsam und einseitig entwickeln könnte, sprich, wenn sie für Verbesserung sorgen, ohne Bestehendem Abbruch zu tun oder zukünftige Weiterentwicklung unmöglich zu machen (vgl. RG: 396).
Inhaltsverzeichnis
Vorwort6
Inhalt7
Abkürzungsverzeichnis9
Einleitung10
I. Soziale Begründung der Freiheit18
1. ‘What Utilitarianism is’18
1.1 Mills progressiv-duales Menschenbild21
2. ‘A moral necessity’55
2.1 Über die Verbindung von Gerechtigkeit und Nützlichkeit56
2.2 Freiheit als notwendiger Bestandteil des Glücks68
II. Soziale Konzeption der Freiheit72
II.1. Soziale Konzeption des Freiheitsprinzips72
1.1. ‘The absolute and essential importance of human development’73
1.1.1 Freiheit und Entwicklung75
1.1.2 Komplexe negative Freiheit86
1.2 ‘The fitting adjustment between individual independence and social control’96
1.2.1 Eine Doktrin, zwei Maximen99
1.2.2 Wenn Freiheit schadet102
1.2.3 Privat vs. öffentlich?113
II.2. Soziale Konzeption der Individualität124
2.1 ‘The appropriate region of human liberty124
2.1.1 Das Beispiel der Meinungsfreiheit127
2.1.2 Selbstbestimmung?136
2.2 ‘The ideal perfection of human nature’141
2.2.1 Der individuell und sozial gebildete Mensch144
2.2.2 Individualität = Entwicklung155
III. Politische Rahmenbedingungen der Freiheit166
1. ‘The improvement of the people’167
1.1 Mehrung und Nutzung der guten Eigenschaften169
1.2 Wahre und falsche Demokratie173
2. ‘The ideally best form of government’184
2.1 Partizipation188
2.2 Kompetenz203
Abschließende Bemerkungen212
Literatur217

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