Vorwort
Die inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung gilt gegenwärtig als eine wichtige Aufgabe und als eine der großen Herausforderungen im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Ratifizierung der UN- Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland sowie dem Beschluss des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister in der Bundesrepublik Deutschland (2011) zur »Inklusive[n] Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« stellen sich auf allen Ebenen des Bildungswesens Fragen nach der geeigneten Gestaltung des ›Gemeinsamen Lernens‹ von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Um ein inklusives Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland in einer erfolgreichen und vielversprechenden Weise etablieren zu können, sind neben dem Ausbau des Schulwesens in Hinblick auf die Belange der einzelnen Individuen – selbstverständlich und ohne Zweifel – sowohl Entwicklungs- als auch (grundlagenorientierte) Forschungsarbeiten vonnöten, um Bedingungen, Voraussetzungen und Möglichkeiten des Gemeinsamen Lernens in einer fundierten Weise auszuloten. Gegenwärtig ist noch immer viel zu wenig über die Bedingungen des Gemeinsamen Lernens in inklusiven Schulen, an dem Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen teilnehmen, sowie die Gestaltung inklusiver Schulen bekannt. Der vorliegende Herausgeberband setzt an dieser Stelle an und gibt einen Überblick über gegenwärtige Entwicklungsprojekte zur Realisierung und Etablierung eines inklusiven Bildungssystems, ebenso wie einen Einblick in aktuelle empirische Ergebnisse zur inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung.
Der Herausgeberband ist vor diesem Hintergrund in vier thematische Schwerpunkte untergliedert: Im ersten Teil werden Gelingensbedingungen der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung aus verschiedenen Perspektiven und unter der Berücksichtigung verschiedener theoretischer Ansätze ›unter die Lupe‹ genommen. Ulrich Heimlich präsentiert in seinem Beitrag auf der Grundlage von Überlegungen zu inklusiver Bildung eine Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung (›QU!S‹). Auf diese Weise leistet er einen Beitrag zu Qualitätskriterien für die inklusive Schulentwicklungsforschung. Ergebnisse zu der Evaluation der Qualitätsskala zur inklusiven Schulentwicklung werden von Ulrich Heimlich im zweiten Teil seines Beitrags dargestellt. Désirée Laubenstein und Christian Lindmeier berichten über die groß angelegte Studie ›GeSchwind‹ in Rheinland-Pfalz (»Gelingensbedingungen des gemeinsamen Unterrichts an Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz«). Im Rahmen der Studie werden inklusiv ausgerichtete Schulen und deren Entwicklung seit 2011 empirisch evaluiert. Die Autorin und der Autor verdeutlichen auf der Grundlage der von ihnen vorgelegten empirischen Ergebnisse Möglichkeiten der Gestaltung der inklusiven Schule und des inklusiv angelegten Unterrichts. In diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag von Tatjana Leidig und Thomas Hennemann zu verorten. Die Autorin und der Autor stellen in ihrem Beitrag ein Konzept zur Unterstützung von Grundschulen auf dem Weg zu einem inklusiven System vor und legen ihr Augenmerk dabei auf die Konzeption einer prozessbegleitenden Fortbildung für Lehrkräfte im Kontext herausfordernder Lehr-Lernsituationen. Karolina Urton, Moritz Börnert-Ringleb und Jürgen Wilbert erörtern – den ersten Teil des Herausgeberbandes abschließend – Möglichkeiten der Gestaltung eines inklusiven Schulklimas als Schulentwicklungsaufgabe. Auf der Grundlage eines theoretischen Rahmenmodells des inklusiven Schulklimas werden von der Autorin und den beiden Autoren einerseits empirische Implikationen und andererseits praktische Schlussfolgerungen in Hinblick auf die Entwicklung und Gestaltung eines inklusiven Schulklimas formuliert und zur Diskussion gestellt.
Im zweiten Teil des Herausgeberbandes werden Einstellungen von Kindern, Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrern zum inklusiven Unterricht als zentrale Bedingungsgrößen für das Gelingen von Inklusion in Schule und Unterricht thematisiert. Susanne Schwab gibt in ihrem Beitrag auf der Basis empirischer Ergebnisse aus einer Langzeitstudie eine Bestandsaufnahme zur sozialen Partizipation von Schülerinnen und Schülern im inklusiven Unterricht. Auf diese Weise verweist Susanne Schwab auf sowohl förderliche als auch hinderliche Bedingungen für die soziale Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler im inklusiven Unterricht. Annette Lohbeck berichtet im Anschluss daran über Ergebnisse aus einer empirischen Studie. Hierbei geht sie der Frage nach, ob die Einstellungen von Eltern zur Inklusion an Schulen in einem Zusammenhang mit den verschiedenen Formen von sonderpädagogischen Förderbedarfen stehen. Die von Annette Lohbeck ermittelten Ergebnisse aus dieser Studie geben Hinweise darauf, dass die an der Studie beteiligten Eltern – insbesondere mit dem Blick auf die soziale Teilhabe aller Kinder – der Inklusion in Schule und Unterricht gegenüber positiv eingestellt sind. In Hinblick auf den Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf wird deutlich, dass sie die Förderung von Kindern mit einem Förderbedarf in der körperlich-motorischen Entwicklung befürworten. Eher negativ getönte Einstellungen haben sie gegenüber der Teilhabe von Kindern mit Förderbedarfen in den Bereichen ›geistige Entwicklung‹, ›Lernen‹ und ›sozial-emotionale Entwicklung‹. In dem darauffolgenden Beitrag von Petra Hecht wird ein Erklärungsmodell zu den Bereitschaften und Absichten von Lehrerinnen und Lehrern zur inklusiven Bildung dargeboten. Anhand dieses Erklärungsmodells strebt Petra Hecht ein besseres Verständnis der Bereitschaften und Absichten von Lehrerinnen und Lehrern an, auf deren Grundlage sie Forschungsperspektiven ableitet und praxisrelevante Schlussfolgerungen in den Blick nimmt. Frank Hellmich, Margarita Knickenberg und Gamze Görel berichten über Ergebnisse aus einer qualitativen Interviewstudie. Die Autorinnen und der Autor haben im Rahmen ihrer Untersuchung Auffassungen von inklusiver Bildung und Einstellungen zur Inklusion bei Grundschullehrkräften in den Blick genommen. Die Befunde verdeutlichen, dass die in der Studie befragten Lehrerinnen und Lehrer über sehr unterschiedliche Auffassungen verfügen, die einerseits an dem gegenwärtigen bildungspolitischen Inklusionsverständnis orientiert sind, andererseits hingegen noch immer an Vorstellungen über den Gemeinsamen Unterricht, an dem Kinder mit einem und ohne einen sonderpädagogischen Förderbedarf beteiligt sind, anknüpfen. Die Einstellungen der Grundschullehrkräfte zur Inklusion sind im Allgemeinen moderat positiv getönt. Die an der Interviewstudie beteiligten Lehrerinnen und Lehrer erklären, dass sie gegenüber dem inklusiven Unterricht noch positiver eingestellt wären, wenn sächliche und personelle Ressourcen bereitgestellt würden und sie Möglichkeiten zur Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen offeriert bekämen.
Der dritte Teil des Herausgeberbandes enthält zwei Beiträge zu Möglichkeiten des Lernens in der inklusiven Schule. Thorsten Henke, Stefanie Bosse und Nadine Spörer thematisieren in ihrem Beitrag die Binnendifferenzierung im inklusiven Unterricht und vergleichen dabei im Rahmen einer empirischen Studie Daten, die aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern sowie aus derjenigen von externen Beobachterinnen und Beobachtern gewonnen worden sind. Im Detail wurden inklusiv beschulte Kinder sowie externe Beobachterinnen und Beobachter gebeten, die Binnendifferenzierung in den Unterrichtsfächern Deutsch und Mathematik zu beurteilen. Die Befunde aus der Studie der beiden Autorinnen und des Autors geben Hinweise darauf, dass die externen Beobachterinnen und Beobachter weniger Binnendifferenzierung wahrnehmen als die an dem Unterricht beteiligten Schülerinnen und Schüler. Jana Jungjohann und Markus Gebhardt referieren in ihrem Beitrag darüber, wie die Lernverlaufsdiagnostik, die Förderplanung und die Wochenarbeit verschränkt im inklusiven Anfangsunterricht ›Lesen‹ aufeinander bezogen werden können. Die Autorin und der Autor skizzieren zunächst Stufen des basalen Leseerwerbs und schildern Beeinträchtigungen in der Leseentwicklung bei Kindern im Anfangsunterricht der Grundschule, bevor sie auf Möglichkeiten der formativen Lernverlaufsdiagnostik eingehen. Als ein Beispiel hierfür präsentieren sie die Onlineplattform ›LeVuMi‹ (Lern-Verlaufs-Monitoring). Auf der Grundlage der Lernverlaufsdaten, die mit dem Programm ›LeVuMi‹ gewonnen...