Die Erneuerung als Revolutionsoper
Am 24. Januar 1984 trat ein gerade mal 28-jähriger Mann vor die Aktionäre des Unternehmens, das er gemeinsam mit Freunden acht Jahre zuvor in einer Garage im Silicon Valley gegründet hatte. Steve Jobs galt stets als äußerst selbstbewusster Macher. Doch an diesem Tag war er nervös. Es ging für ihn um alles, nicht nur im ökonomischen Sinn. Als Steve Jobs sein Modell »Macintosh« präsentierte, gewährte er der Welt Einblick in sein Inneres – und hielt auch uns einen Spiegel vor. Hier wurde nicht nur ein Computer präsentiert, sondern ein Archetyp einer Vorstellung von Innovation, die die unsere heute wesentlich prägt.
Technische Details, Geschwindigkeit, Speichervermögen, Benchmarks – darum ging es nur vordergründig. Alles, was Jobs in diesem Jahr 1984 rund um die Einführung des Macintosh auf die Beine stellte, brachte eine Lebenseinstellung zum Ausdruck – eine Innovationskultur.
Ihr Kern ist uralt: Das Junge ist gut. Das Alte ist böse. Am deutlichsten wird das im berühmten Superbowl-Werbespot für den Macintosh, den der Starregisseur Ridley Scott im Auftrag von Steve Jobs gedreht hat. Das Alte und Böse ist damals der Technologiekonzern IBM, dessen Personal Computer die Marktführerschaft Apples bei Mikrocomputersystemen angegriffen hat. Apple ist das Revolutionäre, Junge, Gute. Scott verleiht dem Konkurrenten das Antlitz von Big Brother aus George Orwells »1984«. Dieser bellt von einer Leinwand in einem düsteren, grau-bläulichen Saal eine willenlose Masse an. Doch dann sprintet eine junge Athletin los, schwingt ihren Hammer, zielt auf die Leinwand – und trifft. Peng. Das Symbol der Niedertracht geht in einem gewaltigen Blitz unter, ein Urknall. Dann lesen wir: Apple Macintosh. Damit 1984 nicht 1984 wird.
Schließlich betritt Steve Jobs die Bühne und rezitiert einen lyrischen Text:
Come writers and critics
Who prophesize with your pen
And keep your eyes wide
The chance won’t come again
And don’t speak too soon
For the wheel’s still in spin
And there’s no tellin’ who that it’s namin’
For the loser now will be later to win
For the times they are a-changin’10
Bob Dylan schrieb diese Zeilen, sie stammen aus dem Titelsong seines dritten Studioalbums »The Times They Are a-Changin’«, der Marseillaise der 1960er Jahre, die fast auf den Tag genau 20 Jahre vor dem Apple-Event in San Francisco erschien. Ein Innovator zitiert einen Innovator.
Dylan wie Jobs haben eine neue Innovationskultur geschaffen. Heute ist ihr Werk allgegenwärtig, selbst dort, wo es nur unbewusst zitiert wird, wie in der Kultur der Startups, aber auch der jungen Rebellen. Es geht nicht um Computer, es geht nicht um Songs, es geht nicht um Software. Eine Kultur macht keine Gefangenen. Sie verschlingt alles, sie durchdringt und verändert das Bewusstsein. Das klingt so großartig wie erschreckend. Das eigentliche Ziel jeder Kultur aber ist ebenso banal wie größenwahnsinnig: Sie will sich so verbreiten, dass niemand mehr ihre so selbstverständliche Existenz wahrnimmt, geschweige denn hinterfragt.
So sind auch Jobs’ Innovationen weder als Erfindungen noch als Novitäten gedacht. Er hat begriffen, dass Technik, Produkte und auch Ideen nicht genügen, wenn man das Neue wirklich in die Welt bringen will. Eine echte Innovation verändert das Denken ihrer Benutzer. Sie löst ein ganzes System von Folgen aus, wird Vorbild, kopiert, mutiert zu wieder Neuem und schafft auf diese Weise unaufhörlich weitere Innovationen. Sie ist ein Weltbild, ein Universum. Der »persönliche Computer« ist damit keine technische Errungenschaft, sondern vor allem eine kulturelle. Das gilt natürlich auch für die mit ihm verbundenen Innovationen, die längst als selbstständige Größen gesehen werden: das Internet, die sozialen Medien, die digitalen Technologien – samt all ihren unzähligen Vorgängern in der Menschheitsgeschichte. Nichts von dem, was Jobs schuf, war ein Zufall, es war ihm vielmehr bewusst, wie Kulturen funktionieren und wie man sie erschafft. Das macht ihn und sein Innovationsbild, wie der Autor Reinhard K. Sprenger es nennt, zum »gegenwärtig Lebendigsten unter den Toten«.11 Seinem Vorbild und Muster folgen viele.
An diesem Januartag des Jahres 1984 hat Steve Jobs eine Kultur begründet, in der sich die Menschen der späten Konsumgesellschaft wiederfinden können. Jobs’ Produkte werden »Kult«, sakrale Gegenstände. Sie gehören zu einer Glaubensgemeinschaft, in der sich die fortschreitende Individualisierung und Personalisierung unseres sozialen und kulturellen Systems zeigt. Jobs hat verstanden, was die Erneuerung des 21. Jahrhunderts im Innersten zusammenhält: der Abschied von der Massengesellschaft, dem Kollektiv, hin zum Selbst und zur Person.
Innovation heißt Differenz, Unterscheidung.
Innovation ist das Andere, das Individuelle, das der Norm und der Masse, der Routine und der Regel widerstrebt, bis es selbst der Norm und der Masse anheimfällt und selbst zur Routine und Regel wird. Innovation ist die Störung der herrschenden Verhältnisse zugunsten einer neuen Idee. Und Ideen können die Welt retten, nun ja, wenigstens Unternehmen. Gut 13 Jahre nach der Macintosh-Präsentation entwickelt die Werbeagentur TBWA eine von Steve Jobs angeregte Kampagne mit dem Titel »Think Different« – »Denke das Andere«. Es ist die Einführungskampagne für den iMac, von dessen Erfolg die Existenz der Firma abhängt. Das »i« steht nicht allein fürs populäre Internet.
Es ist Jobs’ ewiges Mantra: Die Technik soll das Individuum befreien. Jobs schickt Dylans Schlachtgesängen ein ganzes Evangelium hinterher. Die Evangelisten waren Bekehrer. Evangelisten heißen bei Apple auch die, die für das Unternehmen in der Öffentlichkeit »Zeugnis ablegen«. Die Heiligen in der Kampagne sind bekannte Gesichter, die die alten und neuen Innovationsmythen in sich tragen: Helden, Genies, außergewöhnliche Persönlichkeiten – die großen Innovatoren Albert Einstein, Bob Dylan, Martin Luther King jr., Thomas Edison, Pablo Picasso. Ein Produktmanager für ganz normale Computer oder Autos hätte wohl Ingenieure oder Erfinder gewählt. Jobs hingegen weiß, dass es eben darum geht, das alte Innovationsbild der Industriegesellschaft – das vom Erfinder, Tüftler, Techniker – ad acta zu legen. Die Maschine ist der Erfüllungsgehilfe des Geistes. Das ist ein der Wissensgesellschaft würdiger Glaube, nicht die Botschaft der alten Industrie, der die Kultur bestenfalls als Erfüllungsgehilfe für die Mechanik dient – ein Ungeist, der sich in der alten Fabrik und dem vermeintlich neuen Digitalismus gleichermaßen findet. Genau auf die haben es Jobs und seine Agenturleute abgesehen, sie adressieren ihren Kampagnentext »An alle, die anders denken«:
Die Rebellen,
die Idealisten,
die Visionäre,
die Querdenker,
die, die sich in kein Schema pressen lassen,
die, die Dinge anders sehen.
Sie beugen sich keinen Regeln,
und sie haben keinen Respekt vor dem Status quo.
Wir können sie zitieren, ihnen widersprechen,
sie bewundern oder ablehnen.
Das einzige, was wir nicht können,
ist sie zu ignorieren,
weil sie Dinge verändern,
weil sie die Menschheit weiterbringen.
Und während einige sie für verrückt halten,
sehen wir in ihnen Genies.
Denn die, die verrückt genug sind zu denken,
sie könnten die Welt verändern,
sind die, die es tun.12
Das ist, zweifelsohne, große Revolutionsoper. Und sie begeistert all jene, die in der alten, starren Welt der industriellen Organisation nach Alternativen, also Innovationen, und gleichsam sich selbst suchen. Eine Werbekampagne als Nabucco der aufkommenden Wissensgesellschaft. Und in jeder Oper ist die Inszenierung spielentscheidend.
Man kann sich daran berauschen, man soll es auch, das wäre ganz im Geiste des Erfinders.
Vorsicht.
Denn auch Jobs’ Macintosh-Inszenierung – und die seiner zahlreichen Kopisten und Epigonen – steht einem neuen Bild von Innovation im Weg. Jobs’ Richtung ist konsequent. Individuum, Wissensgesellschaft, Automation der Arbeit und Entwertung des Massenhaften und Industriellen sind naheliegende Erscheinungen einer Welt, die so wohlhabend und satt geworden ist, dass sie fortan nach sich selbst suchen kann, ein Projekt, das lange Jahre nur den Eliten erlaubt war – und auch denen nur unter großen Vorbehalten. Jobs’ Problem ist, dass er auf das Personal setzt, mit dem schon alle vorhergehenden Revolutionen gescheitert sind.
Ist Innovation zwangsläufig nur etwas für »Rebellen«, »Idealisten«, »Visionäre« und »Querdenker«? Und was heißt es denn, wenn die Eigenschaft zur Veränderung nur einer kleinen Gruppe von Außenseitern zugeschrieben wird? Es ist offensichtlich. Sie tickt anders als der überwiegende Teil der Welt, ihrer Organisationen, Kulturen und Menschen.
Die Innovation ist der Gegensatz zur Normalität. Die Innovation macht einen Unterschied. Die Innovation ist die Alternative zur Regel. Die Innovation ist das Andere. Das alles klingt angenehm – zumindest in den Ohren der Innovatoren. Die statische Wohlstandswelt, in der wir leben, besteht hauptsächlich aus Besitzstandswahrern und Verteidigern der Normalität ihrer Machtbereiche und Regeln. Damit ist jeder, der ernsthafte Innovation betreibt, ein Außenseiter, jemand, den man nicht...