Die Nacht ist hereingebrochen. In den Straßen von Täbris kriecht der endlose Blechstrom durch die verstaubte Stadt. Feierabendverkehr in der Millionenmetropole am Elburs-Gebirge. Die Stadt atmet Qualm.
Hier gibt es längst mehr Autos, als die Umwelt und die Infrastruktur verkraften können. Nun rollen ihre Besitzer schleichend im Stop-and-go in die Vorstadtbezirke und das an einem Berghang liegende In-Viertel Valiasr. Dort verschanzen sich reiche Iraner hinter meterhohen Mauern und Stacheldraht. Genießen in ihrer eingezäunten Privatsphäre die Freiheit vom sonst allgegenwärtigen Mullah-Regime.
Unrhythmisch branden die Wellen eines Hupkonzerts an mein Ohr – vom Wind durch die offenen Fenster getragen. Im anschwellenden Fortissimo übertönt der Verkehrslärm kurzzeitig das wabernde Stimmengewirr um mich herum. Sprachfetzen, die mir fremd sind. Worte, die bellend durch den Raum fliegen.
Wenn sie mich treffen, zucke ich zusammen. Verkrampft rutsche ich auf einer schmalen Holzbank herum. Knete meine Hände, verreibe pausenlos schweißnasse Rinnsale in den Lebens-, Kopf- und Herzlinien ihrer Innenflächen. Betäubt starre ich auf den dreckigen Betonfußboden, der sich vor mir ausbreitet. In der abgewetzten, zerbröckelten grauweißen Farbe spiegeln sich die Laufwege unzähliger Menschen wider.
»Salam, Marcus«, höre ich plötzlich.
Ich schaue überrascht auf. Grell leuchtende Neonröhren erhellen die Szenerie. Ich sitze am Kopfende eines rund 120 Quadratmeter großen Raumes, zwischen zwei Türen. An der Wand zu meiner Linken steht eine weitere Bank. Darauf hocken Sajjad Ghaderzadeh und mein Fotograf. Gefangene drängeln sich vorbei, begleitet von Wärtern. Die meisten tragen verwaschene graue Uniformen und ausgelatschte schwarze Armeestiefel. Manche mit weißen Gamaschen. Eine Handvoll Wärter ist mit weißen Kordeln, die an der Schulterlitze befestigt sind, geschmückt.
Hinter vier vergilbten Resopal-Tischen hämmern Justizbeamte unaufhörlich auf Computertastaturen ein. Unentwegt starren sie auf ihre flimmernden Flachbildschirme. Rufen hin und wieder Namen durch den Raum. Männer melden sich, werden von ihren Bewachern vorgeführt: mit und ohne Bart, im durchgeschwitzten Anzug oder in Lumpen gehüllt. Alt, jung, fast zahnlos, andere mit eingefrorenem Zahnpastalächeln, geduckt oder trotzig aufrecht gehend.
Aus einem Nebenzimmer, dessen Holztür sperrangelweit offen steht, winkt mir ein junger Mann hektisch zu.
»Salam, Marcus«, ruft er erneut.
Jetzt erkenne ich ihn wieder. Wir haben zusammen die vorhergehende Nacht im Gewahrsam der iranischen Passbehörden verbracht. Hussein1 trägt immer noch sein halb zerrissenes rotes T-Shirt mit dem Zeichen des Täbriser Fußballklubs Tractor Sazi. Mühsam hält er es an der Seite mit einer Hand zusammen. Sonst würde die Fan-Klamotte über seine knochigen Schultern rutschen.
Hussein schüttelt resigniert den Kopf. Um seine blassgrünen Augen liegen tiefschwarze Augenringe. Auch er hat in der Nacht vor Kälte gefroren. In eine stinkende Kamelhaardecke gehüllt, hat er sich neben mir auf dem Boden herumgewälzt. Jetzt wird Hussein, mit Handschellen an seinen Wärter gekettet, in die Mitte des Raums zum »Check-in« gebracht. Hier wird der nicht endende Strom der Neuankömmlinge im öffentlichen Zentralgefängnis von Täbris registriert. In dem weitläufigen, mehrere Fußballfelder großen Gebäudekomplex mitten in der Stadt sollen derzeit rund 4000 Gefangene einsitzen.
Kurz darauf zieht mich ein Wärter an meinem Arm zu einem Schreibtisch. Er fragt mich nach meinem Namen.
»Marcus Hellwig«, sagt er zu seinem Kollegen auf der anderen Seite der Tischplatte.
Routiniert greift dieser zu einem Aktenstapel, zieht zielstrebig einen blauen Karton heraus. Dann deutet er auf einen Stuhl, der verlassen an einer Wand steht. An dessen Stahlgestell ist seitlich ein geschwungenes Metallrohr festgeschweißt. Nachdem ich mich hingesetzt habe, wird es von meinem Wärter vor meinen Oberkörper geschwenkt. Kleine vergilbte Plastikkärtchen mit persischen Zahlen werden auf eine Schiene geklickt. Dann werde ich mit einer digitalen Kleinbildkamera zuerst von vorn, danach im Profil fotografiert.
»Kommen Sie«, sagt ein uniformierter Wärter freundlich und führt mich durch die Menschenmenge zu einem Stehpult. Ich soll meine Fingerkuppen in ein tellergroßes schwarzes Stempelkissen drücken. Als ich nicht sofort reagiere, greift der Wärter unwirsch nach meinem Zeigefinger, presst ihn tief in das Kissen. Dann rollt er die beinahe triefende Kuppe über ein Blatt Papier, auf dem zehn Kästchen eingezeichnet sind. Für jeden Fingerabdruck ein Feld. Als die Prozedur kurze Zeit später beendet ist, greift der Wärter mein Handgelenk. Ich soll zusätzlich noch beide Hände als Abdruck auf dem Papier hinterlassen.
»Wie soll ich diese Farbe bloß jemals wieder runterbekommen?«, denke ich. Als hätte er die Frage gehört, zeigt ein anderer Wärter auf einen offen stehenden Nebenraum. Dort sind die gekalkten Wände bis unter die Decke mit schwarzen Striemen verschmiert. Im Wasserbecken hat sich ein schmutziger See gebildet. Öl schimmert auf der Oberfläche. Aus dem Hahn tröpfelt rostbraunes Wasser. Egal. Ich reibe meine Hände angestrengt aneinander, versuche, die Farbe von meiner Haut und meinen Fingernägeln zu kratzen. Vergeblich. Trotz allem ist das Wasser erfrischend. Ich kühle meine Unterarme. Als ich mich zum Hahn hinunterbeuge, schlägt mir ein muffiger Gestank entgegen.
»Nein, nicht trinken!«, ruft mir ein Soldat energisch zu und zieht mich aus dem Waschraum heraus.
»Das hatte ich auch sicher nicht vor«, erwidere ich auf Englisch.
Als ich an meine Sitzbank zurückkehre, taucht in der Eingangstür ein stämmiger Mann auf. Er ist etwa 1,70 Meter groß, hat kurzes schwarzes, an der Seite schütteres Haar und einen leicht ergrauten, aber akkurat gestutzten Vollbart. Trotz der Hitze trägt er einen Anzug mit blauem Hemd. Darüber einen knielangen braunen Ledermantel.
Ein massiger Wärter schüttelt dem sonderbaren Neuankömmling freundlich die Hand. Die beiden Männer unterhalten sich angeregt. Sie lachen, klopfen sich gegenseitig kameradschaftlich auf die Schulter. Mit stechenden Augen sucht der Zivilist den Raum ab, zeigt dann unvermittelt auf Hutan Kian. Der iranische Menschenrechtsanwalt steht gequält von seiner Bank auf, zupft verlegen an seinem verknitterten Sakko. Dann fasst er sich, geht voller Elan auf die beiden Männer zu und reicht ihnen mit einem breiten Lächeln die Hand.
Sie kennen sich offenbar, scheinen sich gut zu verstehen, denke ich. Hutan redet leise auf den Mann ein, flüstert ihm etwas ins Ohr. Der lacht heiser, schlägt sich prustend auf die Brust. »Oder will Hutan hier nur gute Miene zum bösen Spiel machen?«, frage ich mich. Ich versuche, anhand der Lautstärke der Unterhaltung, der Mimik und Gestik die Stimmung der Männer zu interpretieren. Hutan fasst sein Gegenüber immer wieder an den Oberarm, der Stämmige zeigt sich nicht abweisend. Im Gegenteil. Auch er legt seine Hand freundschaftlich auf die Schulter des Anwalts. Hutan Kian sieht meine Blicke. In seinen blauen Augen meine ich Zuversicht aufblitzen zu sehen. Hutan Kian grinst. Winkt mich zu sich heran. Auch Sajjad und meinem Fotografen bedeutet der Anwalt aufzustehen. »Ist das ein gutes Zeichen?«, schießt es mir durch den Kopf. Erst vor zwei Stunden hatte mir ein Beamter der Passbehörden großen Anlass zur Hoffnung gegeben: »Sie haben Glück gehabt. Sie werden noch heute Abend nach Hause fliegen.«
Jetzt keimt der Gedanke an die Freiheit erneut in mir auf. Sofort bilden sich in meinen Augen Tränen der Erleichterung. »Hannah, ich werde bald wieder bei dir sein«, denke ich. »Wir werden wie vereinbart zusammen nach Ägypten in den Herbsturlaub fliegen. Wir werden schnorcheln, schwimmen, spielen. So, als wäre nichts geschehen.«
Hutan dreht sich um, läuft dem Ledermantel-Typ hinterher. Schnell gehen wir auf den Ausgang zu. Niemand hält uns auf, als wir durch die Tür hinaus ins Freie treten. Ich atme tief ein. Sauge den Sauerstoff bis in den letzten Winkel meiner Lungen. Ganz so, als hätte ich zuvor im Check-in die ganze Zeit die Luft anhalten müssen. Die Abendluft streicht mir sanft über die Arme. Es ist kühl geworden. Am Himmel haben sich bereits einige Sterne gegen das Stadtlicht durchsetzen können. Ich genieße den endlosen Blick hinauf zu den glitzernden Punkten, bleibe stehen.
In dem geräumigen Gefängnisvorhof ist ein hölzernes Podest aufgebaut worden. Daneben befindet sich eine gemauerte, überdachte Tribüne, in der Mitte ragt ein Mikrofonständer in die Höhe, an den Seiten hängen zwei schwarze Lautsprecherboxen. Davor ist ein Fahnenmast aufgebaut, dessen Seilzug müde in einer Windböe klappert. Ich schließe die Augen und sehe einen Hafen vor mir. Türkisblaues Wasser, Segelschiffe, eine strahlend weiße Marina. Ein Großfall, die Leine, an der das Großsegel hochgezogen wird, klopft unermüdlich gegen einen Mast. Sehnsucht erfüllt mich nach dem Meer, seinem Farbenspiel, dem Geruch, der unendlichen Weite.
Im Gänsemarsch laufen wir an einer Hauswand entlang geradewegs auf eine offen stehende Holztür zu. In Brusthöhe baumelt ein faustgroßes Vorhängeschloss in einer Krampe. Gelangweilt steht neben dem Eingang ein Soldat und raucht. Als er unsere Gruppe sieht, salutiert er energisch vor unserem Begleiter. Der grüßt ihn beiläufig zurück und geht schnell in das Gebäude hinein.
In einem schmalen Zimmer, das nach wenigen Metern von dem gefliesten Eingangsbereich abzweigt, sitzen mehrere Wachen um einen Tisch versammelt. Vor ihnen eine Schüssel, in der ein überdimensionierter Reisberg dampft. Nach kurzer...