2. Erkennen Sie Ihr Kind? – Wo LRS-Kinder auffallen
In diesem Kapitel erfahren Sie,
wodurch LRS-Schüler auffallen,
wie Probleme beim Lesen entstehen können,
wie Probleme beim Rechtschreiben entstehen können,
warum es schwer ist, die Schwierigkeiten intelligenter LRS-Schüler zu erkennen,
warum das Verstehen nötig ist, um zu helfen,
welche Strategien LRS-Schüler entwickeln, um Problemen auszuweichen,
warum Hobbys wichtig sind und
wie Verhaltensauffälligkeiten entstehen.
Es gibt keine zwei LRS-Kinder mit absolut gleichen Auffälligkeiten, selbst bei eineiigen Zwillingen nicht. Kinder mit LRS nehmen vieles anders wahr und verarbeiten diese Informationen anders als normale Schüler. Dadurch entstehen Probleme und Verhaltensmuster, die oft von den Mitmenschen nicht verstanden werden. Die folgende Zusammenstellung ist sicher nicht vollständig, gibt aber einen Eindruck, wie komplex die Auswirkungen sein können:
Auffälligkeiten beim Lesen
Beim Lesenlernen werden ähnliche Buchstabenformen verwechselt: d–b–p–q, a–e, u–n, W–M, N–Z, r–n–m, L–F–E, I–J–l, f–t.
Silben werden nicht erkannt; dadurch ist es besonders schwer, längere Wörter zu lesen.
langsames, stockendes Lesen mit Selbstkorrektur
Lesen ohne Betonung
sinnentstellendes Lesen:
Kamele leben in der Wüste. – Kamele leben auf der Wiese.
Sinnerfassung fehlt, da der Lesevorgang zu viel Aufmerksamkeit erfordert.
Sinnerfassung fehlt, obwohl der Text flüssig gelesen wird.
Kinder mit diesen Problemen drücken sich vor dem Lesen, wenn es irgendwie möglich ist.
Auffälligkeiten beim Schreiben
Verwechslung gleich oder ähnlich klingender Laute: o–u, i–ü–y, ä–e, s–z
Auslassen oder Hinzufügen von Buchstaben
Vertauschen von Buchstaben: „Knio“ statt „Kino“
lautgetreues Schreiben: „doidsch“ statt „deutsch“
keine Unterscheidung kurzer und langer Laute: „kam“ oder „Kamm“, „in“ oder „ihn“
Kein automatisiertes Schreiben, über jedes Wort wird nachgedacht: Auch Wörter wie „und“, „die“, „sie“ werden auswendig gelernt.
Wörter werden bewusst gebildet, oft nach (falschen) eigenen Regeln: „herrein“ (ich höre her-rein).
falsche Zeichensetzung, weil die Sprachmelodie fehlt
fehlerhafte Groß- und Kleinschreibung
schlechte Schrift
Auffälligkeiten bei Mathematik
falsches Abschreiben
Auslassen, Übersehen, Verdrehen von Ziffern oder Zeichen
Verwechseln ähnlich aussehender Ziffern: 1–7, 6–9, 5–3–2
Verwechseln der Bedeutung der Rechenzeichen
Vertauschen der Reihenfolge von Ziffern: „69“ statt „96“
keine Vorstellung von Größenordnungen
Probleme beim Umrechnen von Einheiten
ungenaues Lesen, z. B. „Quader“ statt „Quadrat“
ungenaues Lesen von Textaufgaben
Vergessen oder Übersehen von Teilaufgaben
Auffälligkeiten bei Raumlage, Reihenfolge, Zeit
Verwechseln von: „oben/unten“, „hinten/vorne“, „rechts/links“
Verwechseln der Linien bei Musiknoten
Vertauschen der Reihenfolge, z. B. bei Telefonnummern
kein Wiedererkennen von Formen, z. B. Länder oder Flüsse
Folgen werden als Ganzes gelernt und können nur so abgerufen werden: Abc, Wochentage, Monate, 1x1, unregelmäßige Verben usw. (Wird also z. B. nach dem Vorgänger von W gefragt, beginnt das Kind bei A.)
Probleme mit dem Zeitbewusstsein (Uhrzeit, Wochentag usw.)
Auffälligkeiten bei Sachfächern
Sachtexte werden nicht sinnerfassend gelesen.
unsaubere bis chaotische Heftführung
Auffälligkeiten bei Fremdsprachen1
Die unter „Englisch“ beschriebenen Schwierigkeiten können alle Sprachen betreffen. Große Probleme bereiten oft auch das sinnerfassende Lesen und das fehlerfreie Abschreiben.
Englisch
Aussprache unklar: „food“ oder „foot“, „fog“ oder „fork“
lautgetreues Schreiben: „it“ statt „eat“
Verwechseln gleich oder ähnlich klingender Wörter: „two“ oder „too“ oder „to“, „bag“ oder „back“, „there“ oder „their“ oder „they’re“
falsches Übertragen erlernter Regeln, z. B.: langes i schreibt man ee wie in „to see“: „mee“ statt „me“, „dreem“ statt „dream“, „peeple“ statt „people“
Unregelmäßige Verben werden als Ganzes gelernt, können aber nicht übertragen oder im Text erkannt werden.
Verwirrung durch unbekannte Wörter führt zur Blockade.
Französisch
Hauptschwierigkeiten durch:
Akzente
stumme Endungen
Geschlecht der Substantive
Latein
Hauptschwierigkeiten durch:
ungenaues Lesen
Verwechseln ähnlicher Vokabeln
Spanisch
Spanisch ist die Fremdsprache, die LRS-Schülern erfahrungsgemäß am wenigsten Extraschwierigkeiten bereitet.2 Das liegt wohl daran, dass Spanisch im Vergleich zu anderen alphabetischen Schriftsprachen sehr lauttreu ist.
Erkennen Sie Ihr Kind? Einiges war vielleicht bis zur 2. Klasse so, einiges entwickelt sich erst jetzt. Vieles trifft gar nicht zu, jedes Kind hat sein eigenes Muster.
Gymnasiasten, bei denen der Verdacht auf LRS erst ab der 5. Klasse entsteht, haben die Grundschule gut absolviert. Sie haben Lieblingsfächer und andere, die sie nicht so mögen. Jetzt sind sie wegen ihrer schlechten Rechtschreibung aufgefallen. Um aus dem Rechtschreib-Teufelskreis herauszuhelfen, ist es notwendig zu verstehen, wie Ihr Kind hineingeraten ist.
2.1. So genial kann Lesen sein
Wer gar nicht lesen kann, fällt schon vor der 5. Klasse so sehr auf, dass die Eltern informiert werden. Kein Kind, das nicht lesen kann, wird auf das Gymnasium oder die Realschule versetzt. Es gibt aber viele, die nicht lesen wollen. Der Grund ist meistens, dass diese Kinder Angst haben, sich zu blamieren. Sie wissen, dass sie keine guten Vorleser sind, aber zum Verstehen von Anweisungen und kurzen vorgegebenen Texten reicht es schon.
Um das Vorlesen zu vermeiden, gibt es viele, z. T. unbewusst verwendete, Taktiken, die Lehrer aus dem Unterricht besser kennen als Eltern.
Vermeidungsstrategien beim Vorlesen
einen Hustenanfall bekommen (So kann man unmöglich lesen!)
etwas fallen lassen und suchen (Wer unter dem Tisch herumkrabbelt, kann nicht lesen und so viel Geduld zu warten, bis man wieder richtig sitzt, hat der Lehrer hoffentlich nicht.)
fast anfangen zu weinen (Das verschreckt den Lehrer.)
gerade jetzt ganz wichtig etwas anderes tun (Das gibt Ärger, ist aber besser als vorlesen müssen.)
zerstreut sein und nicht wissen, wo man im Buch gerade ist (Das gibt auch Ärger, ist aber auch besser als vorlesen müssen.)
beim Lesen nicht mehr atmen (Das erzeugt schnell Mitleid.)
Wie die Probleme beim Lesen entstehen können, verdeutlicht das Beispiel von q, p, b und d. Losgelöst vom Papier, also sozusagen als Gegenstände, gibt es nicht den geringsten Unterschied. Es ist immer der gleiche Buchstabe, nur aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Ein Auto von rechts oder links angeschaut ist doch schließlich immer noch ein Auto, oder?
Die Leistung eines Sechs- oder Siebenjährigen, der das so sieht, ist doch großartig. Später nennt man das bedeutungsvoll „Transferleistung“ und „räumliches Vorstellungsvermögen“. Leider behindert es aber das Lesenlernen, ohne dass jemand es bemerkt. Es sei denn, dieses Phänomen ist ihm vertraut.
Lesetexte, deren Inhalt es kennt, kann ein solch kleines Genie anhand von Hilfsstrukturen trotzdem nachlesen:
Japas Kiup kauu lasau laruau.
Hier gehe ich nur davon aus, dass q, p, b und d nicht unterschieden werden können, genau wie e und a sowie u und n.
Jedes Kind kann lesen lernen.
Japas Kiup kauu lasau laruau.
Ist das Kind, das diese Leseleistung vollbringt, nicht genial? Wenn man wüsste, warum es sich mit ungeübten Texten so schwertut, könnte man mit Moosgummi- oder Knetbuchstaben geduldig die Unterschiede zwischen den Buchstaben erarbeiten. Stattdessen heißt es: „Ihr Kind muss mehr...