Im vorhergehenden theoretischen Teil zeigte sich, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Interaktionstypen und -prozesse gibt. Das Feld der politischen Fernsehtalkshows ist in dieser Hinsicht ein lohnenswertes Beispiel, um die dort auftretenden Interaktionsprozesse unter empirischen Gesichtspunkten näher zu beleuchten. Da man es hier nicht mit einer alltäglichen Konversation, sondern viel mehr mit einer in komplexer Weise arrangierten Interaktionssituation mit verschiedenen Akteuren zu tun hat, folgt zuvor ein Überblick über die Merkmale politischer Talkshows. Anschließend geht es um die dort beteiligten Akteure und visuellen Aspekte, bevor die Interaktionsprozesse in allgemeiner Hinsicht charakterisiert werden. Im weiteren Verlauf wird ein historischer Überblick über die Entwicklung politischer Talkshows in Deutschland gegeben, worauf der Untersuchungsgegenstand vorgestellt wird. Zuletzt folgt die Einführung der in dieser Arbeit zu untersuchenden Teilfragen und Thesen.
Untersucht man die Interaktionsprozesse in politischen Talkshows, ist zunächst eine Begriffsklärung angebracht. Was ist eine politische Talkshow überhaupt? Nach Tenscher (1999: 318) zeichnet sie sich durch folgende Merkmale aus:
Die Vermischung sachlich-rationaler und emotional-unterhaltsamer Auseinandersetzungen über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen
Die heterogene Teilnehmerstruktur (Politiker, Journalisten, Prominente, Experten, Normalbürger …)
Die periodisch wiederkehrende Live-Ausstrahlung
Die Anwesenheit von Studiopublikum
Die Schlüsselposition des Moderators als Anchorman und identitätsstiftendes, publikumsbindendes und letztendlich auch diskussionsleitendes Element
Schicha/Tenscher (2002: 10) nennen zusätzlich eine zentrale Relevanz des Gesprächs, das den inhaltlichen und formalen Ablauf der Sendung bestimmt. Wie der zweite Teil des Wortes nahe legt, geht es neben dem Gespräch auch um Unterhaltung, um Show. Sowohl Gesprächssendung als auch Talkshow werden hier synonym verwendet, da eine Trennung von unterhaltenden und informativen Inhalten nur schwer möglich ist. Von Bedeutung ist auch das Fernsehpublikum, denn das Wissen um dessen Präsenz vor den Fernsehgeräten hat Auswirkungen auf die Kommunikation in der Sendung (vgl. Schicha/Tenscher 2002: 11). Schultz (2006: 91) beschränkt sich auf eine allgemeine Definition: „Polit-Talks sind nicht-fiktionale Fernsehsendungen, in denen im weitesten Sinne politische Fragen in der Form eines Gesprächs thematisiert werden.“
Nach Holly/Kühn/Püschel (1986: 44) geht es aus organisatorischer Sicht in Talkshows um drei Dinge: nämlich die Regelung des Sprecherwechsels, die thematische Abwicklung sowie die Sicherung des Verständnisses. Bei Gesprächen mit mehr als zwei Teilnehmern tritt zudem das Problem auf, dass nicht jeder, der sich äußern möchte, dies auch unmittelbar tun kann – diese Möglichkeit hängt nicht zuletzt von der Gesprächsorganisation ab. Grenzen erfährt die Diskussion zudem durch den Zeitfaktor.
Eine Diskussionsrunde bietet für die Akteure unmittelbare Darstellungsmöglichkeiten, die Sarcinelli/Tenscher (1998: 308-309) wie folgt charakterisieren: „Das bedeutet, daß jede Äußerung zwar vordergründig an den direkt angesprochenen, physisch anwesenden Gesprächspartner gerichtet ist. Der eigentliche Adressat der verschiedensten Kommunikationsinteressen ist aber der Zuschauer am Bildschirm. Allerdings ist sich das Publikum im allgemeinen seiner Quasi-Teilnahme am Bildschirmgeschehen, die es selbst als kontraproduktiv für die Diskussion einschätzt, durchaus bewusst.“[4] Die Konsequenz dieser Darstellungsmöglichkeit für die Beteiligten ist folglich, dass ein symbolischer Binnendialog inszeniert wird, bei dem der eigentliche Adressat – das Fernsehpublikum – nicht direkt angesprochen wird. Warum aber wird dann noch so viel diskutiert, wenn doch alles als bloße Inszenierung erscheint? Neben der über die Jahre erfolgten Institutionalisierung von Talkshows hat dies nach Sarcinelli/Tenscher (1998: 309) folgenden Grund: „Das Festhalten am Konzept der politischen Fernsehdiskussion und deren Erfolg leitet sich nicht zuletzt vom in den Köpfen der Bürger fest verankerten Glauben ab, daß die wesentlichen Entscheidungen in einem demokratischen, freiheitlichen System aus Diskussionen hervorgehen.“ Sarcinelli/Tenscher (1998: 310) umschreiben diese Entwicklung mit dem Begriff der Talkshowisierung: „Es dürfte unstrittig sein, daß in der deutschen parlamentarischen Demokratie politische Entscheidungen in der Regel eher hinter verschlossenen Türen und nicht in Parlamentsdebatten fallen beziehungsweise ausgehandelt werden. Demzufolge sind politische Fernsehdiskussionen in erster Linie für die öffentliche Beobachtung inszenierte Pseudodiskurse. Ihr Ziel ist die fernsehgerechte Selbst- oder Fremddarstellung. Bei Gesprächsverlauf und -organisation geht es dabei nicht in erster Linie um die rationale Klärung einer Kontroverse, nicht um das Sachargument als solches, sondern auch um den medialen Effekt, nicht allein um die Information, sondern auch um die Unterhaltung, nicht vorwiegend um die Überzeugungskraft von Diskussionsbeteiligten, sondern auch um die Wahrung des Proporzes.“ Auch Thomas (2003: 127) begreift Polittalks als Pseudodiskurse, die vorrangig durch das politische System geprägt sind und in denen dialogisch inszenierte Monologe und Scheinargumentationen die Normalität sind. Insgesamt scheint die Dynamik nicht über einen bloßen Schlagabtausch hinauszugehen, sondern dreht sich um personale Konflikte und deren Darstellung (vgl. Schicha 2002: 225). Dieser Prozess wird durch die Orientierung am Publikum und am zunehmenden Wert der Unterhaltung im Fernsehen beschleunigt. So sind politische Talkshows nicht zuletzt ein Mittel der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, um ihrem Informationsauftrag nachzukommen und ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Das Format der politischen Talkshow hat das Spektrum der politischen Informationsvermittlung und damit die Präsenzmöglichkeiten von entsprechenden Akteuren deutlich erweitert, wie Tenscher (2002: 61) feststellt (s. Kapitel 3.2). Die verhältnismäßig kostengünstige Produktion von Diskussionssendungen mag für die Sender dabei ein angenehmer Nebeneffekt sein. Relativ zuverlässig lassen sich zudem hohe Einschaltquoten erzielen (vgl. Sarcinelli/Tenscher 1998: 310).
Mediendialoge sind keinesfalls so natürlich wie Alltagsgespräche, aber von inszenierten Theaterstücken dennoch abzugrenzen (vgl. Burger 1991: 411-412; Krotz 2002: 45). Viel mehr weisen Mediengespräche eine eigene Wirklichkeit auf (vgl. Burger 1991: 413). Plake (1999: 22) macht den Showcharakter von Diskussionssendungen daran fest, dass diese in der Regel vor und für Publikum stattfinden. Daraus entsteht auch eine mehrfache Adressatenstruktur (s.o.): Die Teilnehmer reden zwar auch miteinander, aber darüber hinaus ist immer auch das Studio- bzw. Fernsehpublikum angesprochen und auch als Adressat gemeint (vgl. Plake 1999: 22 und 51). Als Showsendung ist die Talksendung jedoch vergleichsweise dezent, wenn man sie neben andere Showformate stellt. Gerade diese leichte Künstlichkeit trägt zur Attraktivität dieser Sendegattung wohl entscheidend bei. Die politische Willensbildung wird somit zumindest symbolisch veranschaulicht (vgl. Plake 1999: 86).
Die unterschiedlichen Akteursgruppen, die im Zusammenhang mit politischen Talkshows auftauchen, sollen hier kurz eingeführt werden. Dabei geht es um den Moderator, die Studiogäste, das Studiopublikum sowie die Fernsehzuschauer.
Schicha definiert die Aufgaben des Talkshow-Moderators noch deutlich über die bloße Gesprächsorganisation hinaus (2002: 215): „Er steuert und strukturiert das Gespräch thematisch und kann vor allem den Diskutanten das Wort erteilen und entziehen. Darüber hinaus kommt die Sachkenntnis des Moderators durch die mehr oder weniger gehaltvollen Fragen zum Ausdruck, die das Niveau der Sendung maßgeblich mitbestimmen.“ Die Moderationstechnik sowie eine sorgfältige Vorbereitung seitens des Moderators, zusammen mit seinem Umgang mit den Gesprächsteilnehmern sind dabei wesentlich mitentscheidend für eine gelungene Sendung (vgl. Schicha 2002: 216).
Der Moderator stellt den Identifikations- und Ankerpunkt der Sendung dar und ist erster Ansprechpartner für Lob und Kritik der Sendung (vgl. Steinbrecher/Weiske 1992: 75). Bei der Auswahl seiner Gäste muss der Moderator auf eine ähnlich gelagerte Kompetenz der Teilnehmer achten, da andernfalls die bereits oben eingeführten asymmetrischen Gesprächskonstellationen entstehen können, welche „einen konstruktiven Talk unmöglich machen“ (Steinbrecher/Weiske 1992: 92). Nur so kann dafür gesorgt werden, dass eine geschickte Eigendynamik durch gegenseitiges Ernstnehmen und Anerkennen entsteht. Der Gastgeber der Sendung muss dabei die Zusammenhänge so gut kennen, dass er flexibel auf Änderungen reagieren kann (vgl. Steinbrecher/Weiske...