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E-Book

Interaktionelle Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

AutorMichael Behr
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl242 Seiten
ISBN9783840922480
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Mit welchem Verhalten und welchen sprachlichen Interventionen reagieren Therapeuten auf ihre jungen Klienten? Wie modifizieren sie kognitiv-sozial-emotionale Schemata durch ihr Verhalten? Wie genau bauen sie neue Interaktionsschemata auf? Die Klient-Therapeut-Beziehung gilt vielen Studien zufolge als bedeutendster Wirkfaktor im therapeutischen Geschehen. Das Buch stellt detailliert Methoden der Interaktionsgestaltung bei der Beratung und Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und Familien dar. Beginnend mit dem telefonischen Erstkontakt, über das Erstgespräch und die Diagnostik wird aufgezeigt, wie therapeutisches Verhalten genau in der therapiebegleitenden Elternberatung, der Familientherapie, der Kinder- und Jugendtherapie umgesetzt werden kann, damit es eine positive Wirkung für den Klienten entfaltet. Einen breiten Raum nimmt insbesondere die Darstellung der Spieltherapie ein. Zahlreiche Beispiele zu den Konzepten der interaktionellen Psychotherapie, zu den theoretischen und historischen Hintergründen, aktuelle Ergebnisse aus der Forschung, kontroverse Debatten sowie Übungen, die zur Selbstreflexion und in der Ausbildung von Psychotherapeuten eingesetzt werden können, ergänzen den Text.

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Kapitelübersicht
  1. Vorwort
  2. Inhalt
  3. 1Kapitelwegweiser und Einleitung: Grundideen und Ziele einer interaktionellen Psychotherapie mit Kindern, Eltern, Jugendlichen und Familien
  4. 2Erstkontakte und Beginn einer Therapie
  5. 3Elternberatung und Familientherapie
  6. 4 Facilitativer und interaktioneller Modus in der Therapie: Erfahrungen organisieren und Beziehungsmuster ändern
  7. 5Kindertherapie
  8. 6Jugendtherapie
  9. Literatur
  10. Sachregister
Leseprobe
Wenn die Therapeutenperson Interaktionsresonanz realisiert, verhält sie sich ähnlich aber nie gleich wie das Kind. Sie gibt mit ihrem eigenen Verhalten Resonanz, d. h. es gibt eine Veränderung der Tönung, aber das Spielthema und die Energie, mit der das Kind sie umsetzt, werden aufgenommen. Die Therapeutenperson gibt nicht etwas anderes hinzu. Sie gerät nicht vor das Kind, aber das Kind erlebt sie als lebendigen Spielpartner.

Das Konzept der Interaktionsresonanz ist ein Kernelement des hier vertretenen interaktionellen Psychotherapiekonzeptes. Es wird in Kapitel 4.2 dargestellt. Die konkrete Umsetzung gestaltet sich in jedem Spielmedium anders. Sie wird in den Kapitel 5.2 bis 5.7 praktisch erläutert.

Aus der Forschung: Die Wirksamkeit von Spieltherapie Hölldampf und Behr (2009) untersuchten sieben große Metaanalysen zur Kinderund Jugendpsychotherapie. Insgesamt zeigten sich mittlere Effektstärken von Cohens d=.54 bis .88. Dies gilt als guter Wert: Anschaulich umgerechnet bedeutet es, dass zwischen 70% und 80% aller Kinderund Jugendlichen von einer Therapie mehr profitieren als wenn sie keine erhielten.

Die große Metaanalyse von Bratton, Ray, Rhine, und Jones (2005) fand bei 73 Primärstudien zur Spieltherapie sogar eine mittlere Effektstärke von d=.92; d.h. 82% der jungen Patienten profitieren von der Spieltherapie. Der Review von Hölldampf, Behr und Crawford (2010) differenzierten 83 Primärstudien je nach Störungsbild; bei 34 dieser Studien handelt es sich um sogenannte RCT-Studien: Die Wirksamkeit wird bei einer Versuchsgruppe gegenüber einer Kontrollgruppe nachgewiesen, wobei die Zuweisung der Patienten durch Zufallsauswahl erfolgte. Weitere 31 Studien wiesen eine Kontrollgruppe auf, jedoch ohne randomisierte Patientenzuweisung.

1.7 Wachstum: Das Axiom der Aktualisierungstendenz

Im Prozess der Symbolisierungen ordnet das Kind seine Erfahrungen. Auf der Basis einer sicheren Bindung vermag das Kind so frei, ungestört und unbeeinflusst wie sonst nie zu agieren. Im Prozess des Spiels konstruieren Kräfte in der Person, die nicht direkt beobachtbar sind, diese Symbole. Sie treiben den Spielprozess immer weiter voran. Der Fachbegriff der humanistischen Psychologie für diese Kräfte lautet „Aktualisierungstendenz“. Damit ist die Tendenz von allem Lebendigen in Richtung auf Wachstum und Ausschöpfung von Potenzialen gemeint: Die Person entwickelt sich positiv, allerdings nur sofern die Bedingungen, sprich die Beziehungen in denen die Person lebt, gut sind.

Fachlicher Hintergrund: Konzepte zur Dynamik des Lebensprozesses – Triebkonzept und Aktualisierungstendenz Rogers (1951, 1959) hatte das Axiom der Aktualisierungstendenz dem psychoanalytischen Triebkonzept an die Seite gestellt. Was ist für die Dynamik des Lebens verantwortlich? Hier das Freudsche Konzept des Sexual-, bzw. Lebenstriebes und beim späteren Freud zusätzlich des Aggressionsbzw. Todestriebes; mächtige Kräfte, denen das gleichfalls mächtige Über-Ich (das Gewissen, soziale Normen und Werte) gegenübersteht und zwischen denen das menschliche Ich einen Ausgleich schaffen muss. Mit dem Axiom der Aktualisierungstendenz umschreibt Rogers einen ressourcenorientierten Aspekt der menschlichen Natur, der die Entwicklungspotenziale der Person betont (vgl. auch Finke, 2002; Kriz, 2008).

Eine Hypothese des Axioms der Aktualisierungstendenz lautet, dass die Person sich in der Spieltherapie günstig entwickeln wird, wenn die Therapeutenperson auf dem Boden einer sicheren Bindung den Spielprozess nicht lenkt. Spieltherapiekinder erfuhren in der Regel eine unsichere oder desorganisierte Bindung. Sie wurden vernachlässigt, traumatisiert, unterdrückt, verlassen usw. oder waren, ohne dass man jedes Mal von einem Versagen der Bezugspersonen sprechen müsste, in eine Situation gekommen, die schwere innere Spannungen, Verzweiflung oder Ängste provozierte. In der Therapie erhalten sie ein Beziehungsangebot der Therapeutenperson, das ihnen die Entfaltung ihrer Ressourcen und den Aufbau einer sicheren Bindung ermöglicht. Und davon machen sie auch in aller Regel nachhaltig Gebrauch, eine Erfahrung die das Axiom der Aktualisierungstendenz eindrücklich stützt.

Fachlicher Hintergrund: Das Axiom der Aktualisierungstendenz und die erziehungswissenschaftliche Strömung der Reformpädagogik Das Kind wächst aus sich selbst heraus. Man kann dem Prozess vertrauen. Günstige Bedingungen, wie sie etwa die Petersen-, Freinetoder Montessoripädagogik konzipiert, reichen aus, und mehr als das: Eine nicht manipulierende Förderung des kindlichen Wachstums ermögliche geradezu optimale Prozesse des Lernens und der Entwicklung, so die einhellige Meinung des reformpädagogischen Gedankengebäudes (Key, 1905). Es ist überliefert, dass der junge Student Carl Rogers Vorlesungen von Kilpatrick hörte, dem charismatischen Kommunikator der amerikanischen Reformpädagogik. Auf die Reformpädagogik nahm er gleichwohl später nie explizit Bezug, etwa in seinen Schriften zu Schule, Lernen und Erziehung. Eine Verortung seines Denkens erfolgte klar innerhalb der humanistischen Psychologie, was im Rahmen seines Hauptwerkes mit erwachsenen Psychotherapieklienten nur logisch erscheint. Doch die Parallelen zur Reformpädagogik sind unverkennbar. Rogers gelang es dabei, ein psychologisches Konstrukt zu umschreiben, das auf anthropologischer Ebene eigentlich die Prämisse für das reformpädagogische Menschenbild und seine komplexen Handlungskonzepte darstellt. Darauf wiederum nahmen die Reformpädagogen nie Bezug.

1.8 Die Konstruktion der eigenen Realität

Daneben vertritt das personzentrierte und ähnlich das systemische Konzept eine kons­ truktivistische Position in Hinblick auf das Erleben der Wirklichkeit (Rogers & Rosenzweig, 1980). Jede Person konstruiert aus ihren Wahrnehmungen ihre persönliche Realität. Es gibt dabei keine objektive Wahrheit. Die Ereignisse des Alltages werden von verschiedenen Personen zumeist sehr unterschiedlich erlebt; es ist ein jeweils vollständig subjektiver Prozess, es gibt dazwischen nicht das, wie es „wirklich“ ist, es gibt nur die verschiedenen subjektiven Perspektiven, Deutungen, Erlebnisse.

Dies gilt auch für die Begegnung von Therapeut und Klient. Sie begegnen sich insofern auf gleicher Augenhöhe. In einer interaktionellen und personzentrierten Therapie geht es um die Berechtigung, die Anerkennung und die Wertschätzung der jeweils anderen Wirklichkeit. Auch Therapeut und Klient leben in ihrer jeweiligen Realität. Hieraus ergibt sich der tiefere Sinn empathischen Therapeutenverhaltens: Die Therapeutenperson versucht, die Klientenperson in ihrer Erfahrungswelt zu verstehen und damit zur Organisation ihrer Erfahrungen zu verhelfen. Die Therapeutenperson beansprucht dabei nicht, die Klientenperson möge diese andere Perspektive übernehmen. Insofern ist die Realität der Therapeutenperson ist nicht gültiger als die der Klientenperson (vgl. auch Kapitel 6.5).

1.9 Client Agency: Das Kind weist den Weg

Im Axiom der Aktualisierungstendenz und in der konstruktivistischen Position gründet so der tiefere Sinn des Beziehungsprinzips Nicht-Direktivität (Axline, 1947; Bohart 2004, 2007). Die Therapeutenperson hilft der Klientenperson bei der Wahrnehmung, Ordnung und Verarbeitung ihrer Realität. Konkret in der Spieltherapie: das Kind zirkuliert im Spielzimmer und seine Spielhandlungen drücken seine inneren Themen aus. Im Spielprozess werden diese sichtbar, das Kind kann sie entfalten, erprobend variieren, emotional durchleben, Gedanken, Gefühle und Motive ordnen. Die Therapeutenperson ist Spezialistin dafür, diese Prozesse zu facilitieren. Sie ist mithin eine „Erleichterin“, Unterstützerin, eine Begleiterin bei diesem vom Kind selbstgesteuerten Prozess. Der Begriff facilitieren (to facilitate/facilitator) ist eine Lieblingsformulierung von Rogers. Er grenzt die Tätigkeit der Helferperson vom Belehren, Hinführen, Fürsorglichsein ab und betont ein manipulationsfreies Erleichtern, Ermöglichen und Unterstützen.

Dies hört sich leicht an, als wäre eine gleichsam bescheidene Therapeutenrolle skizziert. In Wahrheit gestaltet sich das Verhalten der Therapeutenperson hoch komplex. Es vollzieht sich auf dem Boden differenzierter Wahrnehmungen und genau abgestimmter Interventionen. Insbesondere bedient sich die Therapeutenperson der Realitätswahrnehmung des jungen Klienten als Ausgangspunkt für Veränderungen. Sie ordnet die Problemsicht von Kind und Familie nicht in ihr eigenes System der Realitätsdefinition ein. Ihr Therapieziel ist nicht, Kind und Familie zu einem Verständnis des Problemkomplexes zu bringen, den die Therapeutenperson für sich gefunden hätte. Damit würde sie ihre Wirklichkeit über die der Klienten setzen. Vielmehr versucht sie, die Realitätsdefinition von Kind und Familie anzuerkennen. Sie versucht, diese genauso bedingungsfrei zu wertschätzen wie ihre eigene. Von dieser Haltung aus versucht sie, den Klienten zu helfen, deren Wirklichkeitserleben zu differenzieren, vertiefen und zu entgrenzen.

Die drei großen Pionierinnen der Spieltherapie waren Anna Freud, Melanie Klein und Virginia Axline. Axline erkannte schon damals, wie sehr es darauf ankommt, das Kind ohne Einflussnahme zu lenken, sein eigenes Szenario im Spielzimmer gestalten zu lassen und dies wertschätzend-einfühlsam zu begleiten. Sie verwarf es, dem Kind Deutungen seines Szenarios anzubieten, und hatte auch für sich selbst kaum nach Deutungen gesucht. Ihr Augenmerk galt vielmehr dem Konstruktionsprozess, in dem das Kind seine Erfahrung organisiert und über den es dann zu Symbolisierungen dieser Erfahrungen gelangt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort7
Inhalt9
1Kapitelwegweiser und Einleitung: Grundideen und Ziele einer interaktionellen Psychotherapie mit Kindern, Eltern, Jugendlichen und Familien13
1.1Grundideen und Ziele der Behandlung15
1.2Erstkontakte16
1.3Die Kinder oder die Eltern behandeln?17
1.4 Spiel und Sprache: Die Organisation von Erfahrung in der Klientenperson17
1.5 Warum wirkt das Spiel therapeutisch? Organisation von Erfahrung und Gefühlen im Spiel18
1.6 Warum wirkt die Beziehung therapeutisch? Interaktionsschemata und Interaktionsresonanz aktivieren neue Beziehungserfahrungen19
1.7Wachstum: Das Axiom der Aktualisierungstendenz20
1.8Die Konstruktion der eigenen Realität21
1.9Client Agency: Das Kind weist den Weg22
1.10Psychotherapeutisches und erzieherisches Vorgehen23
1.11Die Therapeutenperson23
2Erstkontakte und Beginn einer Therapie25
2.1Der telefonische Erstkontakt25
2.2Das Erstgespräch27
2.3Diagnostik38
2.4Das Therapie-Vereinbarungsgespräch45
3Elternberatung und Familientherapie50
3.1 Konzepte der Arbeit mit Eltern und Familien im Überblick50
3.2Therapiebegleitende Elternberatung55
3.3Interaktionelle Familientherapie69
4 Facilitativer und interaktioneller Modus in der Therapie: Erfahrungen organisieren und Beziehungsmuster ändern84
4.1Therapiepraxis: Der facilitative Modus84
4.2Therapiepraxis: Der interaktionelle Modus96
5Kindertherapie109
5.1Das Spiel als Medium des Kindes: Spiel und Spielzimmer109
5.2Sprache115
5.3Regelspiele135
5.4Kampfspiele und Grenzen setzen144
5.5Gestalten mit Konstruktionsspielen und kreativen Medien156
5.6Dramatisches Spiel: Puppen- und Rollenspiel165
5.7Sensation-Seeking178
6Jugendtherapie183
6.1Jugendliche und ihre Probleme183
6.2Raum- und Materialangebot186
6.3Beziehungsangebot und Erstgespräch mit Jugendlichen187
6.4Facilitativer und interaktioneller Modus bei den Kern­bedingungen für eine helfende Beziehung193
6.5Facilitativer Modus: Selbstexploration fördern196
6.6 Interaktioneller Modus: Beziehungserfahrungen aktivieren215
Literatur230
Sachregister243

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