Kapitel 2
Kritik der Integration
Eine Kollegin vom Hörfunk steht zusammen mit einer Freundin im Foyer eines Veranstaltungssaales, kurz vor Beginn einer Podiumsdiskussion zum Thema Integration. Es ist das Jahr 2006 – die Diskussionen über Ehrenmorde, Zwangsehen und das Scheitern von »Multikulti« befinden sich auf ihrem Höhepunkt. Meine Kollegin ist türkischer Herkunft und sie unterhält sich mit ihrer Begleiterin ganz selbstverständlich auf Türkisch. Doch plötzlich stürzt eine einheimische Dame mittleren Alters auf die beiden zu und fährt sie im Befehlston an: »Sprechen Sie gefälligst Deutsch – da fängt doch die Integration an.« Die beiden Frauen sind, gelinde gesagt, überrascht.
Im gleichen Jahr steht in meinem Tennisverein in Köln ein Mann in den Fünfzigern vor mir und zeigt sich ebenfalls besorgt über den Stand der Integration. Zur Orientierung: Der Verein liegt im Stadtwald, im Stadtteil Lindenthal. In diesem Viertel ist die Universität angesiedelt, weshalb ich vor über 20 Jahren dort hingezogen bin und dort noch heute eine Wohnung habe. Die Kölner bezeichnen das Viertel gerne als gutbürgerlich – tatsächlich ist das Einkommensniveau relativ hoch. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt (selbstverständlich auch im Tennisclub) weit unter dem Kölner Durchschnitt. Mit dem Netzwerk Kanak Attak, bei dem ich lange aktiv war, haben wir 2002 ein Video über Lindenthal gedreht mit dem Titel Weißes Ghetto. In diesem Kurzfilm ging es darum, die gewöhnliche Wahrnehmung einmal umzudrehen und Lindenthal als »Problemviertel« darzustellen – eben als eine Art Ghetto, als Abweichung vom demographischen Querschnitt der Stadtbevölkerung.1
Zurück zum Tennisclub. Besondere Sorgen bereiteten jenem Mann damals die Geschlechterverhältnisse bei den Muslimen – es könne doch nicht angehen, dass in bestimmten Teilen der Gesellschaft »unsere« Vorstellungen von der Gleichheit zwischen Mann und Frau nicht gelten würden. Ich war erstaunt darüber, wie sehr er sich bei dem Thema echauffierte – schließlich hatte er in Lindenthal so gut wie keinen persönlichen Kontakt zu Muslimen. Darüber hinaus waren die Geschlechterrollen in seinem Umfeld sehr konventionell geprägt, wie in den gutbürgerlichen Kreisen Deutschlands üblich. Ich habe mich gefragt, ob sich der Mann wohl mit der gleichen Anteilnahme für die Emanzipation seiner eigenen Frau engagiert hat. Sicherlich nicht.
Die beiden Episoden zeigen grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem hiesigen Verständnis von Integration. Häufig wird Integration im Alltagsverständnis als etwas betrachtet, wofür es bestimmte Standards gibt, an die sich die anderen anzupassen haben. Außerdem wird angenommen, man müsse diese anderen zur Einhaltung dieser Standards aufrufen oder gar zwingen. Viele Personen machen dabei keinerlei individuelle Unterschiede – so will die erwähnte Dame zwei hochgebildeten, bilingualen Frauen vorschreiben, welche Sprache sie zu sprechen haben. Das Beispiel wirkt extrem. Wenn man sich jedoch an die Mediendebatte über die »Deutschpflicht« auf dem Schulhof erinnert, die im Jahr 2006 losbrach, dann erscheint die Episode in einem anderen Licht.
Die Diskussion entzündete sich am Beispiel der Herbert-Hoover-Realschule im Berliner Stadtteil Wedding, an der die Kinder angehalten sind, sich in den Pausen auf Deutsch zu unterhalten. Dies verführte eine Reihe konservativer Politiker zu der Forderung, ein Zwang zum Deutschsprechen müsse an allen Schulen durchgesetzt werden, notfalls durch die Androhung entsprechender Strafen. Nun bin ich kein Anhänger dieser Maßnahme der Herbert-Hoover-Schule, doch wie auch immer man dazu stehen mag – wichtig für die Durchsetzungskraft des Beschlusses war, dass es sich nicht um einen Befehl von oben handelte, sondern um einen Schritt, der mit Schülern und Eltern diskutiert und dann von der Schulkonferenz beschlossen wurde, also dem basisdemokratischen Gremium in der Schulpolitik.
Die hartnäckige Vorstellung, man müsse die Menschen mit Migrationshintergrund zur Einhaltung von Standards zwingen, geht meist einher mit der Anwendung doppelter Standards. Das illustrieren die Aussagen des Mannes im Tennisclub. Er sorgt sich um die Geschlechtergleichheit bei den Migranten und legt dabei einen Standard an, der in Deutschland gar nicht realisiert ist. Tatsächlich landet die Bundesrepublik, was die Geschlechtergerechtigkeit betrifft, im europäischen Vergleich stets auf einem der hinteren Plätze. Der Einkommensunterschied etwa zwischen Männern und Frauen liegt bei über 20 Prozent. Realistisch betrachtet, sind die hiesigen Verhältnisse erstaunlich konventionell. Nun gibt es keinen Anlass, die Situation bei manchen Familien mit Migrationshintergrund schönzureden. Tatsächlich gibt es viele Ehefrauen, deren Bewegungsspielraum über die eigene Wohnung kaum hinausgeht, und Töchter, die abends nicht mehr allein auf die Straße dürfen – selbst wenn es das berufliche Fortkommen erfordert.
Allerdings lassen sich solche Beobachtungen keineswegs verallgemeinern. Und man muss die Frage stellen, ob die angriffslustige öffentliche Thematisierung dieses Problems zur Verbesserung der Situation dieser Mädchen und Frauen führt, oder ob durch die Anwendung doppelter Standards der Unterschied zwischen »uns« und »ihnen« zementiert wird. Wie schon erwähnt, erscheint die »weibliche Emanzipation« mittlerweile häufig als Bestandteil der »Leitkultur«. So heißt es etwa in einem Beschluss des Landesverbandes Braunschweig der Jungen Union: »Weil es im Deutschen Volk kein Geschlecht zweiter Klasse gibt. Frauen sind Männern auf allen Ebenen gleichwertig.«2 Das sind große Worte, doch zweifellos war die Emanzipation der Frau in den letzten Jahrzehnten kein vorrangiges Anliegen der Union, im Gegenteil: Wie groß die Vorbehalte noch immer sind, haben die Widerstände gegen die veränderte Familienpolitik von Ursula von der Leyen nach 2005 gezeigt. Schon der Ausbau von Kindertagesstätten ging manchen zu weit – dabei lässt sich das kaum als revolutionäre Idee bezeichnen.
Interessant an dem zitierten Passus ist auch die Erwähnung des »Deutschen Volkes«, die anklingen lässt, die »weibliche Emanzipation« würde von Kräften in Frage gestellt, die nicht zu diesem Volk gehören. Tatsächlich können bei diesem Thema berechtigte Anliegen schnell umschlagen in renovierte Versionen von Ressentiments – insbesondere gegen Personen türkischer Herkunft bzw. gegen »die Muslime«: Musste bei »denen« die arme verschleierte Frau nicht schon immer stumm einen Meter hinter ihrem Mann herlaufen? Das kann für alle Frauen Fatale Effekte haben – so der Titel einer Untersuchung von Margarete Jäger über die »Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs«:3 Einerseits scheint es, als müsse man an den einheimischen Geschlechterverhältnissen überhaupt nicht mehr arbeiten; schließlich wirkt in Sachen Gleichberechtigung bei »uns« im Vergleich zu den zurückgebliebenen »anderen« alles perfekt. Andererseits wird die berechtigte Kritik am Sexismus in den Migranten-Communities plötzlich Teil der Ausgrenzung – denn »deren« Kultur und Religion scheinen dafür verantwortlich zu sein.
Offenbar wird der Begriff Integration von willkürlichen und verallgemeinernden Normvorstellungen bestimmt, die auch die »deutsche« Gesellschaft nicht erfüllt. Insofern stellt sich die Frage, was mit Integration eigentlich gemeint ist. Ein Blick in Langenscheids Fremdwörterbuch zeigt drei Bedeutungen des Begriffs: 1. Herstellen eines Ganzen aus Einzelteilen, 2. Zustand nach der (Wieder)Herstellung einer Einheit, 3. Eingliederung in eine gesellschaftliche oder soziale Ordnung. Wenn man die hier zusammengestellten Bedeutungen liest und sie mit den historischen Assoziationen zusammendenkt, die der Begriff des »deutschen Volkes« weckt, dann wäre das implizite Ziel einer Politik der Integration die Schaffung von Einheit, oder wie es in der Nationalhymne heißt, von Einigkeit. Der Text des Liedes sagt, nach der solle man »brüderlich« streben »für das deutsche Vaterland«, und zumindest in der Aufzählung kommt die Einigkeit noch vor Recht und Freiheit. Geschichtlich ist dieser Vorrang durchaus nachvollziehbar in einem Nationalstaat, der aus einer Vielzahl unabhängiger Fürstentümer entstand.
Nun gibt es außerdem die Bedeutung der »Wiederherstellung« eines Ganzen. Tatsächlich war die Idee der Nation in Deutschland auch stark geprägt von der Vorstellung, es habe schon immer ein deutsches Volk gegeben, das aus seiner Zersplitterung wieder zu sich selbst kommen müsse. Nach dieser Auffassung entsteht im Zuge dieses Prozesses nichts Neues, vielmehr wird nur eine frühere, quasi unvergängliche Einheit wiederhergestellt. Aufgrund dieses Beharrens auf Einheit und Einigkeit kann das Zusammenleben mit jenen, die »hinzugekommen« sind, auch nicht als wesentliche Veränderung begriffen werden. Das prägt auch das Verständnis von Integration. Dieser Begriff, schrieb Alfred Reichwein von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt), dem maßgeblichen deutschen Thinktank in diesem Bereich, noch im Jahr 2007, »bezeichnet die Eingliederung (neuer) Bevölkerungsgruppen in bestehende Sozialstrukturen einer Aufnahmegesellschaft und die Art und Weise, wie diese […] mit dem bestehenden System wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher, kultureller und politischer Beziehungen verknüpft werden.«4
In diesem Konzept von Integration erschienen die Einwanderer als Störung im Normalablauf der Gesellschaft, im Funktionieren der »bestehenden Sozialstrukturen«; eine Störung, die man durch Eingliederung und damit quasi die Wiederherstellung der »Einigkeit«...