5. Schreiben in der Sprache des Anderen
Somit stellt der Maghreb „eine kulturell und linguistisch bunte Landschaft“ 37 dar, die durch die „Koexistenz von drei Sprachen (dem Arabischen, dem Berberischen und dem Französischen) charakterisiert ist.“ 38 Der Begriff ‚Hybridisierung‘ ist jedoch noch weiter gefasst und beschreibt nicht nur die „Koexistenz“ verschiedener Kulturen und Sprachen, sondern vor allem auch deren Vermischung. Hybridisierung wird ebenso als positiver Gegenentwurf zu dichotom konstruierten Identitäten verstanden, als ein Gegenentwurf, der personale und kollektive Selbstbilder nicht in Abgrenzung von Anderen bestimmt, sondern der die Grenze zwischen Eigenem und Fremden letztlich auflöst. 39
Diese Koexistenz mehrerer Sprachen eröffnet Autoren wie Ben Jelloun nun die Gelegenheit, zwischen „verschiedenen Sprachen wählen zu können.“ 40 Diese Situation wird jedoch weniger als Chance denn als „Konfliktherd gesehen,“ 41 da durch die Wahl des Französischen als Literatursprache die arabo-berberische Sprachtradition aufgegeben wird. Das Schreiben in der Sprache des Anderen führt zu einer Distanzierung der Autoren zu ihrem Heimatland und ihrer Muttersprache: „Das Schreiben in der Sprache, mit den literarischen Ausdrucksmitteln des anderen und die Distanznahme zur eigenen Kultur entfremden die Autoren dem eigenen Publikum.“ 42
Das Finden der eigenen Identität wird folglich besonders erschwert. Dieses Problem der Identitätssuche und -findung stellt sich besonders prägnant bei maghrebinischen Autoren, die in Französisch schreiben. Autoren maghrebinischer Literatur in französischer Sprache werden auch „Frankomaghrebiner“ oder autochthone Maghrebiner 43 genannt. 44 Viele der maghrebinischen Autoren französischer Literatur haben das Französische jedoch nicht aus freien Stücken als Literatursprache gewählt. Die große Mehrheit der Autoren, wie auch Ben Jelloun, studierten während der Kolonialzeit an französischen Schulen oder gingen in das Exil nach Paris und begannen so mit dem Schreiben der Sprache der Kolonialmacht. Die französische
Sprache war diesen Autoren nicht nur durch die Kolonialgeschichte vorherbestimmt, sondern erbrachte ihnen auch einen großen Vorteil, wie Déjeux (1993) beschreibt: Les auteurs se servent du français en tant que Maghrébins parce que l´histoire de leurs pays l´a voulu ainsi. Ils sont allés á l´école française, au Lycée et même á l´Université de nos jours et depuis les indépendances surtout. Ils se servent donc d´un instrument qui leur rend de grands services (…). 45
Hier muss jedoch die Frage angestellt werden, wer das Publikum der maghrebinischen Autoren darstellt und welche Gründe sie zum Schreiben bewegen.
Zum einen begründet die Thematik der maghrebinischen Literatur die Wahl des Französischen als Literatursprache. Da zentrale Themen dieser Literatur vor allem der Rassismus und das Leiden unter der Kolonialherrschaft sind, ist es vielen maghrebinischen Autoren ein Anliegen, diese Themen dem französischsprachigen Publikum nahe zu bringen. Dies können sie jedoch nur mit Französisch als Literatursprache erreichen. Ben Jelloun (1983) schreibt hierzu in seinem Werk „L’écrivain public“: J’ai essayé de témoigner sur ce que j’avais vu, entendu, senti (…). Peut-être que si je n’avais pas vécu ces journées de terreur et d’angoisse où se révélait à moi le visage banal, ordinaire, brutal de l‘ordre et de l’injustice, peut-être que je n’aurais jamais écrit. (…) Alors me restaient les mots. 46
Aus diesen Worten des Autors wird der Grund seines Schreibens ersichtlich: Schreiben als Zeitzeugnis. Das Schreiben hilft, das Erlebte aufzuarbeiten und zu verarbeiten. Hinzu kommt der Aspekt der Identitätskonstruktion durch das Schreiben, welche Ben Jelloun in dem Gedichtband „Poésie complète“ formuliert: Je suis ce qui me manque. Ce manque c’est tout ce qui constitue ma démarche, mon itinéraire, mon objectif. Ce que je crée c’est tout ce qui me fait défaut. Je dénonce. La parole. J’enlève le voile. 47
Ben Jelloun sieht den Schreibprozess zum einen als Identitätsstiftung, da es ihm hilft, seinen Weg und sein Ziel in der Welt zu finden, zum anderen ist es für ihn ein Weg, die Wahrheit zu schreiben, sowohl über die Geschehnisse unter der Kolonialherrschaft Frankreichs als auch die Zeit im Exil: „Je découvre la honte“ (PC, S. 100).
Somit gilt das Schreiben in der Sprache des Anderen auch als Befreiung, 48 da das Französische den maghrebinischen Autoren neue Möglichkeiten des Ausdrucks eröffnet. In der arabischen Kultur, die von der Lyrik dominiert ist, gibt es die Gattung Roman bisher nicht. Diese „Adaption einer neuen Gattung samt Sprache“ 49 stellt den maghrebinischen Autoren völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Bisher tabuisierte soziale Themen können aufgegriffen werden, selbst „das große Tabu der Selbstenthüllung und der Preisgabe von Persönlichem“ 50 stellen einen großen Fortschritt dar. Hinzu kommt, dass viele der maghrebinischen Romane autobiographische Aspekte enthalten und somit vorrangig in der ersten Person Singular geschrieben werden. Dies stellt allerdings in der arabischen Schriftkultur ein Problem dar, da es „in der islamischen Tradition negativ bewertet“ ist 51 . Gronemann (2002) erläutert diesen Tabubruch folgendermaßen:
Die moderne europäische Praxis der Autobiographie und das in ihr als unverwechselbar gezeigte Ich stellt eine Übertretung des Islam dar und wird teilweise als Verrat an islamischen Traditionen gedeutet. Das Sprechen über sich selbst wie das Heraustreten aus der Anonymität der Gruppe sind bereits ein Tabubruch. Wenn der Gläubige, so die Vorschrift, das Sprechen über sich nicht vermeiden kann, sollte er zumindest anonym und niemals in der 1. Person von sich sprechen. 52
Hieraus geht hervor, dass in der islamischen Kultur „das Kollektiv mehr als das Individuum zählt“ 53 und erst durch die Kolonialherrschaft Frankreichs und dem Eindringen der Französischen Sprache die Autobiographie als Gattung entstehen konnte.
Das Französische hingegen gilt als „langue natale du ‚je’, langue de l’émergence pénible du moi.“ 54 Diese neu verliehene Identität, ausgedrückt durch das französische ‚Je‘, erlaubt maghrebinischen Autoren nun erstmals das Schreiben über sich selbst und ermöglicht ihnen zudem eine völlig neue Gattung, die Autobiographie. Mathieu (1996) erklärt dies folgendermaßen: „Écrire en français,
c’est oublier le regard de Dieu.“ 55 Somit wird deutlich, welche Rolle die Religion bei der Wahl der Literatursprache spielt. In der arabischen Sprache muss jeder ich-Bezug vor Gott entschuldigt werden: Elle [sc. la langue français] m’a permis pour la première fois d’utiliser la première personne du singulier, „Je“, sans la faire suivre de la traditionnelle formule: „Que Dieu me préserve de l’usage d’un pareil pronom, car il est l’attribut du Diable. 56
Ein weiterer Aspekt, der in französischsprachigen Romanen maghrebinischer Autoren zum Tragen kommt, ist die Oralität. Von einem sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus wirken viele der Romane wie übersetzt, das heißt die „mündlich tradierte Berberkultur“ 57 kommt darin zum Vorschein. Die Romane sind stark geprägt von ‚langue parlée‘ und ‚langue familier‘, hinzu kommt der häufige Gebrauch von ‚Maghrebinismen‘. 58 Da die Autoren der französischsprachigen Literatur nicht in ihrer Muttersprache schreiben, fehlt das natürliche Sprachgefühl für das Französische, wodurch die Autoren mit einem ständigen kulturellen und sprachlichen Übersetzungsprozess konfrontiert werden.
Somit kann festgehalten werden, dass die Wahl der Sprache eng verbunden ist mit der Suche nach der eigenen Identität und „oftmals eine kulturelle und zugleich politische Stellungnahme“ 59 impliziert. Mit der Wahl des Französischen als Literatursprache stellt sich der Autor auf die Seite der ehemaligen Kolonialherrscher und...