Der formale und inhaltliche Aufbau des „Berlin Alexanderplatz“ gleicht einem „Roman im Roman“, der über seine eigenen Grenzen hinausweist und als „Teil einer Privatmythologie des Autors“ verstanden werden kann.[46] Die Reichweite des Romans sprengt dabei die eigenen Grenzen, was sich auch im strukturellen Aufbau des Werks andeutet. Bereits die Dauer der erzählten Zeit erstreckt sich über einen Zeitraum von Herbst 1927 bis Frühjahr 1929. Auch die formale Gestaltung des Buches ist sehr komplex. Döblin unterteilt seinen Roman in neun Einzelbücher, die wiederum in drei bis fünfzehn Kapitel eingeteilt sind. Inhaltlich orientiert sich die Einteilung der Bücher an der Personengeschichte um Franz Biberkopf und ihrem wechselseitigen Prinzip von Verstörung bzw. Unglück und den darauffolgenden Versuchen der Neuorientierung und Lebensordnung. Einzelne Kapitel der Bücher dagegen sind den Diskursen der Großstadt Berlin gewidmet und haben auf den ersten Blick nichts mit der narrativen Handlung gemein, wirken sogar störend auf den Erzählfluss ein und bringen die Orientierung des Lesers für den weiteren Verlauf der Geschichte durcheinander. Von dieser scheinbaren Unvereinbarkeit zwischen der fiktiven Personengeschichte und der montierten Stadtwahrnehmung zeugt bereits der Titel des Romans „Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. Die nicht eindeutig zu ermittelnde Thematik des Romans führt dazu, dass er verschiedene literarische Gattungen und Stilrichtungen in sich vereint und je nach Fokus der Untersuchung als Großstadtroman, episches Lehrstück, kriminalistische Geschichte im Milieu der Unterwelt, politisches Zeitdokument der Weimarer Republik, Travestie der griechischen Tragödie, christliche Bekehrungsdichtung etc. gedeutet werden kann.[47]
Auch in Hinblick auf die Bestimmung der Hauptfigur lässt sich „Berlin Alexanderplatz“ nicht ohne weiteres festlegen. Der Held bzw. Antiheld der Personengeschichte ist Franz Biberkopf: ein einfacher, aber „kein gewöhnlicher Mann“[48], der am Beginn der Erzählung nach vier Jahren Haft in Tegel wegen Totschlags an seiner Freundin Ida entlassen wird und sich neu in das Großstadtleben integrieren muss. Die Wiedereingliederung scheint zunächst zu gelingen. Franz lebt vom Zeitungs- und Schnürsenkelverkauf, bis er von seinem Kompagnon Otto Lüders betrogen wird, was ihm den Glauben an ein anständiges Leben nimmt. Als er durch seinen Bekannten Meck Kontakte mit der Verbrecherkolonne um Pums und Reinhold knüpft, wird er in kriminelle Geschäfte hineingezogen, bei denen er einen Arm verliert, als Reinhold ihn aus einem fahrenden Auto stößt. Mit Reinhold verbindet Franz eine selbstzerstörerische Hass-Liebe, die sich in Machtspielen darstellt und letzten Endes mit dem Tod endet: Reinhold nimmt Franz durch den Mord an seiner Freundin Mieze das Einzige, für das es sich zu leben gelohnt hat. So ist nach Miezes Tod auch Franz Biberkopfs Leben, wie er es bisher geführt hat, zu Ende. Franz wird in die Irrenanstalt Buch eingewiesen und lässt in einer Zwiesprache mit dem Tod sein Leben Revue passieren. Er erlebt alle drei Schicksalsschläge noch einmal und stirbt einen (symbolischen) Tod, aus dem er – geläutert und mit der Möglichkeit eines Neuanfangs – als Franz Karl Biberkopf „wiedergeboren“ wird.
Franz Biberkopf ist jedoch nicht die einzige Hauptfigur des Romans. Der eigentliche „Held“ der Erzählung ist die Großstadt, die in zahlreichen Montagefragmenten rekonstruiert und literarisch zum Leben erweckt wird. Daraus ergibt sich eine spannungsreiche Beziehung zwischen dem Helden der Geschichte und dem montierten Stadtgebilde, die es im Weiteren zu entschlüsseln gilt.
In „Berlin Alexanderplatz“ greift der Autor durch den Einsatz einer Erzählerstimme in das Geschehen ein, deutet voraus, fasst zusammen, kommentiert und verbindet dadurch die Geschichte des Franz Biberkopf mit dem montierten Stadtgebilde. Harald Jähner wies in seinen Untersuchungen zur Konstruktion des Romans auf etwas widersprüchliche Weise darauf hin, dass sich das Beziehungsgeflecht Stadt-Mensch in der Gegenüberstellung von erzählter Geschichte und montierter Stadt geradezu „feindselig“ negiert, andererseits jedoch auf „symbiotische Weise“ zu ergänzen vermag.[49] Sinnvoller wäre es allerdings zu fragen, ob es sich hierbei nicht eher um ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis handelt. So führt die Stadt in „Berlin Alexanderplatz“ ein Eigenleben, welches sie grundsätzlich nicht ohne Menschen aufrecht erhalten kann, da diese der Stadt erst ihre lebendige mediale und technisierte Gestalt verleihen – auf einen Franz Biberkopf im Speziellen ist die Stadt jedoch nicht angewiesen. Franzens Leben ist jedoch eng mit dieser Stadt verbunden – in privater wie finanzieller Hinsicht. Als er sich schwört, anständig zu bleiben und sich dem Verkauf von Zeitungen verschreibt, macht er seine Existenzgrundlage sogar von diesem Medium der Stadt abhängig. Später dienen ihm die Warenlager der Stadt als Voraussetzung für seine kriminellen Aktivitäten mit der Pumsbande. Selbst am Ende des Romans, als ihm eine Stelle als „Hilfsportier in einer mittleren Fabrik“ (DBA, S. 409) angeboten wird, ermöglicht ihm die Großstadt auch einen wirtschaftlichen Neuanfang. Das urbane Leben mit all seinen Neuerungen stellt damit die Grundlage für Biberkopfs Lebensgeschichte dar. Aus diesem Abhängigkeitsverhältnis heraus konstruiert der Autor den aussichtslosen Kampf des Franz Biberkopf mit der urbanen Lebenswelt, den er durch die Technik der Montage literarisch zum Ausdruck bringt. Döblin montiert Fragmente des modernen Stadtlebens in das fiktive Romangeschehen, rekonstruiert die akustische Kulisse der Stadtwahrnehmung mit onomatopoetischen Mitteln und schafft so ein sehr authentisches Bild der modernen Großstadt, bei dem das „Universum der technischen Bilder“[50] in die Literatur eingeschrieben wird. Dass die Stadt dabei nicht nur Einfluss auf die Handlungen der Romanfiguren, sondern auch auf den Leser ausübt, zeigt sich durch die Kontaktaufnahme der Erzählerfigur mit der Leserschaft: Der Erzähler setzt den Leser von Anfang an in eine persönliche Beziehung mit Franz Biberkopf, spricht von „unser guter Mann“ (DBA, S. 7), tröstet ihn „machen Sie sich keine Sorgen“ (DBA, S. 194), spricht ihn freundschaftlich mit „du“ an (DBA, S. 284) und endet am Schluss in einem vertraulichen „wir sind am Ende dieser Geschichte“ (DBA, S. 409). Der Erzähler weiß dabei immer mehr als der Leser, unterliegt jedoch selbst dem Chaos der Schrift gewordenen Stadt, ist gezwungen seine Erzählperspektive mehrmals zu wechseln und verliert dabei sogar seine Hauptfigur Biberkopf aus den Augen.[51] Die Stadt übernimmt durch die Montagen zunehmend selbst die Rolle des Erzählers – ein literarischer Kunstgriff Döblins, der ihm nicht nur Bewunderung, sondern auch Kritik bescherte. Seiner Kritik am konventionellen Roman hatte er bereits bei der expressionistischen Zeitschrift „Der Sturm“ Ausdruck verliehen, zu deren Hauptautoren er sich bis 1915 zählen konnte. Als er die neue Wortkunst schließlich in seinem Montageroman „Berlin Alexanderplatz“ umsetzte, wurde er von vielen als „Sprachzerstörer“[52] beschimpft:
„Der Transportarbeiter unseres Romans wird ein Klassenmensch [...] sein und nicht ein künstlich gepreßtes Laboratoriumsprodukt wie der Transportarbeiter Döblin, der seinen Existenzbeweis dadurch zu erbringen sucht, daß er einen nachstenographierten Berliner Dialekt quatscht und sich verdächtig genug die Nummer jeder Elektrischen notiert, die über den Alex fährt. Wer sich so hemmungslos atomisieren läßt, sich in Details auflöst und glaubt, daß das Summieren dieser Details ein Ganzes ergibt – der schafft keine neue Kunstform [...], sondern der bestätigt [...], daß die bürgerliche Literatur am Ende ist.“[53]
Dass diese Kritik ausgerechnet von der linken Bewegung kam, die wie Döblin für die Rechte der Arbeiterklasse eintrat, interpretiert Efraim Frisch als „tragische Ironie des Dichters von heute“, der aufgrund der „Kompliziertheit seiner Form“ nicht mehr fähig ist zu einem einfachen „Zwiegespräch mit denen, die er meint“ sondern „Bewunderung und Anerkennung derer einträgt, die er nicht meint“.[54]
Die Montagestruktur von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ wurde bereits erwähnt. Nun gilt es noch festzuhalten, von welcher Art diese Montagen sind, welchen Materialcharakter sie haben und wie sie in ihrem Verhältnis zur Personengeschichte um Franz Biberkopf gesehen werden können. Axel Eggebrecht stellte fest, dass Döblin nicht nur künstlerische Stile wie „Dada, Expressionismus, Reportage und Sachlichkeit“ in das „Simultan-Epos der Weltstadt“ einfügt, sondern auch die Montageformen „wie eine Straßenbahn“ benutzt;...