Kapitel 4., Die Theorie des systemischen Gleichgewichts in der familien- und umweltbezogenen Pflege nach Marie-Luise Friedemann:
Die Theorie der „familien- und umweltbezogenen Pflege“ hat sich systematisch entwickelt. Friedemann stellt auf der Basis ihrer Erfahrungen in der Gemeindepflege die Idee des systemischen Gleichgewichts vor. Indem sie sich zunächst mit dem Wandel von Familienstrukturen aus soziologischer Sicht auseinandersetzt, schafft sie ein Fundament für die Entwicklung ihrer Theorie. Sie erkennt die Notwendigkeit einer dieser Entwicklung folgenden Veränderung in der Pflege und Betreuung. Hier fließt auch der schrittweise Wechsel von der pathogenetischen zur salutogenetischen Sichtweise ein. Im Bemühen, ihre Theorie in die Praxis umsetzbar zu gestalten, führt sie beispielhaft Pflegesituationen auf, in denen sie Familienmitglieder in den Pflegeprozess integriert. In einem weitern Schritt stellt sie, wiederum anhand von Beispielen, Möglichkeiten für Pflegende heraus, Familien in umweltbedingten oder familiären Krisen zu begleiten.
Nachdem Marie-Luise Friedemann 1989 erste Artikel aus ihrer Theorie publizierte, erschien 1995 die erste Ausgabe des englischsprachigen Buches über die Theorie des systemischen Gleichgewichts. Ein Jahr später brachte sie ein deutschsprachiges Buch, weitgehend auf europäischer Literatur basierend, heraus. Es stellt die Theorie einführend vor und verdeutlicht sie durch Beispiele aus der Krankenpflege.
So führt Friedemann im ersten Teil ihres Buches in die Theorie des systemischen Gleichgewichtes ein und zeigt auf, wie systemische Prozesse in Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege integriert werden. Im zweiten Teil des Buches setzt sie sich aus soziologischer Sicht mit Familienstrukturen und deren Wandel auseinander. Friedemann stellt fest, dass auch andere Formen des Zusammenlebens nicht auszuschließen sind.
Im dritten Teil gestaltet sie beispielhaft Pflegesituationen sowohl aus dem somatischen wie auch dem psychischen Bereich, indem sie Familienmitglieder als Teil des Pflegeprozesses integriert. Der vierte Teil greift Beispiele von Familien auf, die umweltbedingte oder familiäre Krisen erleben. Hier stellt sie die Möglichkeiten für Pflegende heraus, die Familie in solchen Krisen zu begleiten.
Die zweite Auflage des Buches wurde um ein fünftes Kapitel erweitert. Hier beleuchten neben Friedemann und Köhlen weitere Autorinnen den Transfer der Theorie in Praxis, Ausbildung und Forschung unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raums. Christina Köhlen bearbeitet hier didaktische Prinzipien für die Fortbildung, wie die Selbstreflexion auf der Basis der Theorie des systemischen Gleichgewichts, dem Prinzip des theoriegeleiteten Pflegehandelns oder der zukunftsorientierten Umsetzung. Marie-Luise Friedemann und Christina Köhlen betonen noch einmal deutlich, im Rahmen einer „Familienorientierung“ den Patienten und seine Familie als Subjekt in den Mittelpunkt von Betreuung und der Pflege zu stellen. Sie sehen den Patienten und seine Angehörigen als Ausgangspunkt und Initiator der Pflege.
In der Entwicklung der Theorie der „familien- und umweltbezogenen Pflege“ lässt sich ein kontinuierlicher, strukturierter Aufbau unter Berücksichtigung erforderlicher Paradigmen erkennen. Einfluss anderer Theorien und deren Auswirkungen:
Hintergrund der familien- und umweltbezogenen Pflege ist der systemische Ansatz. Dieser beruht laut Friedemann „auf gewissen Grundsätzen der Systemtheorie„. In diesem Zusammenhang erwähnt sie, dass der Ursprung dieser Theorie mit Norbert Weinert (Kybernetiker), Talcot Parson (Soziologe) und Ludwig von Bertalanffy (Biologe) verbunden und in deren Tätigkeitsfeldern maßgeblich verwurzelt ist. Im Vorwort erwähnt die Autorin außerdem, dass die Wurzeln der Theorie des systemischen Gleichgewichts bis in die psychoanalytischen bzw. psychosomatischen Theorien hineinreichen. Insbesondere verweist sie hier auf die Familientherapie und Carl Gustav Jung.
Konzepte der familien- und umweltbezogenen Pflege:
Die familien- und umweltbezogene Pflege orientiert sich wie alle konzeptuellen Modelle an den Metaparadigmen Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege. Friedemann allerdings fügt die Konzepte Familie und Familiengesundheit hinzu, wodurch die Bedeutung der Familie für die Pflege explizit unterstrichen wird.
Propositionen zum Konzept Umwelt:
Die Umwelt umschließt alle Systeme, die den Menschen und seine Familie umgeben. Dazu zählen z. B. politische und soziale Systeme, aber auch Gegenstände, Gebäude, Städte, Biosysteme bis hin zum Universum. Dieses ist allen anderen Systemen übergeordnet. Alles Lebende ist also eine Vernetzung von offenen Systemen, die untereinander durch Anpassung und Wiederanpassung nach Kongruenz bzw. Übereinstimmung streben.
Propositionen zum Konzept Mensch:
Der Mensch definiert seine Identität über seine Beziehungen zu seiner Umwelt (zu Mitmenschen, Gegenständen etc.). Menschliche Realität wird über die Funktionen seines Körpers bestimmt und ist deshalb eingeschränkt. Die Abhängigkeit von den Kräften der Natur macht ihn sensibel für systemische Störungen. Menschen können systemübergreifend handeln, um Kongruenz wiederherzustellen. Die Zivilisation mit ihren Systemen sichert den Menschen ab. Der Mensch ist bestrebt, ein sinnvolles und angstfreies Leben zu führen. Der wichtigste Prozess in der Theorie des systemischen Gleichgewichts ist es, Ängste abzubauen, da ein angstfreier Zustand essentiell für die Gesundheit ist. Der Mensch ist angstfrei, wenn sein System mit den Systemen seiner Umwelt harmonisiert (Kongruenz).
Das Diagramm des individuellen Systems und des Familiensystems:
Die Ziele und Prozessdimensionen des menschlichen Systems zur Erreichung von Kongruenz werden in dem folgenden Diagramm veranschaulicht. Es stellt die Grundlage für die Umsetzung der Theorie in die Praxis dar. Es handelt sich um ein dynamisches Modell, es ist immer in Bewegung bei dem Streben nach Kongruenz.