Reise in ein terrorisiertes Land
Sie stand da wie eingefroren. Schon seit Stunden. Kein Zittern, kein Beben. Als sei sie aus Beton gemeißelt. Stumm und starr und regungslos. Das hatten uns die Leute in Tikrit erzählt und so, genau so, hatten wir sie vorgefunden, nachdem die Menschen von Tikrit uns zu ihr hingeführt hatten. Bewegungslos stand sie am Stadtrand, den rechten Arm nach unten ausgestreckt, dorthin deutend, wo es noch immer lag. Dieses Häuflein, das einmal ihr Kind gewesen war, und Tarik, der treue Freund und kurdische Begleiter in diesen Tagen, Tarik schüttelte langsam und traurig den Kopf, strich sich mit der Linken hilflos und scheinbar sehr bedächtig übers Kinn und hob dann irgendwann nur noch unendlich müde den rechten Arm »Das hier«, sagte er und deutete mit einer langsamen Kopfbewegung auf die Kalaschnikow in seiner Hand, »das hier ist die einzige Antwort, die diesen Leuten zu geben ist. Sie verstehen nur diese eine Sprache. Nur diese! Sie sind keine Menschen. Sie sind schlimmer als die schlimmsten Tiere.« So hatte Tarik das in aller Entschiedenheit gesagt und danach beugte er sich zur Seite, legte die Kalaschnikow zu Boden und hob das Kind mit beiden Händen und mit sehr viel Zärtlichkeit auf.
»Wir müssen es beerdigen«, sagte Tarik. »Ja«, meinte ich, »das müssen wir wohl.« Tarik schaute zur Seite.
Der 25 Jahre alten schiitischen Lehrerin Zaynab al-Husseini1 war es in diesen Sommertagen im Juni 2014 in der sunnitischen Stadt Tikrit widerfahren, dass man ihr die Seele, die Liebe und das Menschsein aus dem Leib getrieben hatte. Zaynab war aus Kerbela, der den Schiiten heiligen Stadt, nach Tikrit gefahren. Ausgerechnet nach Tikrit. Der Geburts- und Heimatstadt des Saddam Hussein, aus der heraus in den letzten vier Dekaden so viel Blutiges über die Menschen des Irak, seine Schiiten, seine Kurden, seine Sunniten und all die anderen hereingebrochen war. Aber Zaynab wollte doch in Tikrit nur eine Freundin besuchen. Nun ja, eine sunnitische zwar, aber so etwas gibt es. Sogar im Irak. Freundschaft. Zwischen Sunniten und Schiiten. Auch heute noch. Allen Kriegen und, viel mehr noch, allem Glauben zum Trotz.
Aber dann ist Zaynab in Tikrit der heilige Furor Gottes widerfahren. Dessen gläubige Jünger beriefen sich auf ihn, bei allem was sie taten.
Sie haben ihr das Kind genommen. Das Zweijährige. Sie haben sich an jenem Tag das Kind an den Beinen gegriffen, ganz so, wie man sich ein totes Huhn greift. Haben das Kind durch die Luft gewirbelt, seinen Kopf an die Wand gedonnert. Der Kopf ist dann aufgeplatzt, so wie eine Melone aufplatzt, donnert man sie gegen eine Wand. So erzählten uns das die Menschen in Tikrit. In scheuer Angst, hilflos und mit blassen, totenbleichen Gesichtern. Sie konnten nichts dagegen tun. Das sagten sie uns an jenem Junitag 2014 immer wieder, und wir glaubten ihnen, Tarik und ich, und sei es auch nur, weil wir es ihnen glauben wollten.
Zwei Tage vor unserer Ankunft waren, wie aus dem Nichts kommend, von Norden, aus dem Westen und von Süden her die Terrorkohorten von ISIS, dem »Islamischen Staat im Irak und in Syrien«, einem alles zerstörendem Heuschreckenschwarm gleich blutig heranschwirrend, über die Stadt hergefallen, hatten große Teile in ihren Würgegriff genommen. Bei unserer Ankunft waren aus der Ferne die Kämpfe, der Gefechtslärm, das Rattern schwerer Maschinengewehre, das ständig auf- und abschwellende Explodieren der Granaten, das schrille Pfeifen der Mörser noch zu hören und all das verschmolz zu einer einzigen Todessymphonie.
Als ISIS in die Geburtsstadt des irakischen Diktators Saddam Hussein einfiel, flohen die Soldaten der Zentralregierung in Bagdad ebenso wie die Polizisten der Stadt und die der Provinzregierung in panischem Schrecken. Sie warfen ihre Waffen weg, zogen eilends die Uniformen aus und Zivilkleidung an. Vom einfachen Polizisten und Soldaten bis zum Drei-Sterne-General waren alle, so scheint es im Nachhinein, nur von einem Gedanken angstbesessen getrieben: Weg! So schnell wie möglich! Die nicht mehr rechtzeitig aus Tikrit fliehen konnten, wurden gefangen genommen. Dann begannen die Selektionen. Wer als sunnitischer Soldat oder Polizist im Dienst der schiitisch dominierten Zentralregierung stand, konnte »bereuen«. Wurde ihm diese Reue geglaubt, dann wurden ihm seine Sünden wider Allah, sein Verbrechen, als Sunnit der ketzerischen schiitischen Regierung gedient zu haben, verziehen – wenn er sich ISIS anschloss und seine Reue dadurch bewies, dass er seine schiitischen Kollegen oder Kameraden als Schiit identifizierte und sie dann eigenhändig tötete. Wer unzweifelhaft als Schiit identifiziert wurde, wurde zur Seite getrieben. Dann begann das große Schlachten an mehr als 2.000 Menschen.2
Denn Da’ish, wie Allahs Glaubensterroristen aus den Reihen des ISIS im Nahen und Mittleren Osten genannt werden, Da’ish tötet seine Gegner nicht nur, Da’ish schlachtet sie, und Allahs Terroristen zelebrieren dieses Schlachten als inbrünstiges religiöses Ritual wider jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, wider jeden, der sich ihrem Glauben nicht bedingungslos unterwirft. Da’ish beruft sich bei seinem Morden auf den heiligen Koran, auf die Sunna und auf die Hadithe, wähnt sich und nur sich im Besitz der allein gültigen Wahrheit, darüber wie Koran, Sunna und Hadithe zu lesen, zu verstehen und zu deuten sind. Die Nachrichten über das Morden von Dai’sh hatten sich wie ein Lauffeuer und in Windeseile im ganzen Land verbreitet, nicht zuletzt auch, weil ISIS selbst Tag für Tag immer neue, aufwendig und höchst professionell produzierte Videoaufnahmen vom heiligen Töten und gottestrunkenen Schlachten an den Feinden Allahs ins Internet gestellt hatte. Das waren Bilder eines nicht aufhörenden, sich ewig fortpflanzenden religiös bedingten Hasses auf alle ketzerischen Schiiten, alle Ungläubigen, alle vom wahren Glauben abgefallenen Sunniten, alle Christen, Jesiden. Bilder eines rituell ausgelebten Blutrausches im Namen Allahs und – wie Da’ish das sieht – im Auftrag Allahs.
Die Bilder erweisen sich bis heute als ein brillantes und perfekt funktionierendes Mittel der psychologischen Kriegsführung des »Islamischen Staates« (IS). So nennt sich ISIS seit dem 29. Juni 2014 selbst. An dem Tag hatte sich Abu Bakr al-Baghdadi in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, zum Kalifen ernannt, seinen Anspruch als Stellvertreter Gottes und Nachfolger des Propheten Mohammed der gesamten Gemeinschaft der Muslime dieser Welt postuliert und an diesem Tag, wie in den folgenden Wochen immer wieder, seine Ziele verkündet: die Wiedererrichtung des Kalifats zunächst nur im Irak und in den historischen Grenzen Großsyriens. Also dem heutigen Libanon, Syrien, Jordanien und natürlich Palästina, womit Israel und die besetzten Gebiete gemeint sind. Die Befreiung Jerusalems. Als nächstes Ziel gibt Abu Bakr al- Baghdadi vor, ausnahmslos jedes Land, in dem jemals Muslime die Herrschaft innehatten, seinem Kalifat zu unterwerfen. Bis hin nach Al Andalus, mitten auf europäischem Boden. Westlichen Beobachtern zeigte sich Abu Bakr al-Baghdadi damit als ein geistig tief im Mittelalter feststeckender Kalif. Ein wahnwitziger Träumer aus 1001 Nacht. Sie belächelten ihn als einen Kalifen, der kläfft, er wolle »Rom erobern«3.
Die Vorstellung eines nur kläffenden Kalifen, der in den Welten des Mittelalters gefangen ist und sich lediglich auf angebliche Vorstellungen aus dem siebten Jahrhundert bezieht, geht an der Realität vollkommen vorbei und unterschätzt die Gefahr, die von Abu Bakr al-Baghdadis Kalifat zunehmend ausgeht. Sein »Islamischer Staat« ist weltweit für Islamisten ein Magnet mit ungeheurer Anziehungskraft, ein mythisches Land, das sich derzeit konkretisiert und auf lange Jahre weiterexistieren wird. Es ist ein Trugschluss westlicher Politik, zu glauben, dass das Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi eine von nur vielen bizarren Merkwürdigkeiten in der Geschichte des Nahen Ostens sei. Ganz ohne jeden Zweifel steckt der selbsternannte Kalif in der Gedanken- und Glaubenswelt des dumpfsten Mittelalters fest – was ihn jedoch nicht daran hindert, alle Mittel der ihm so sehr verhassten Moderne effektiv einzusetzen. Auf Facebook, bei YouTube, via Twitter, in allen sozialen Netzwerken, verbreitet ISIS seine Botschaft, trommelt für seine Ziele und ist dabei mehr als nur erfolgreich. Gerade auch durch den Einsatz der blutigsten Bilder, die eine apokalyptische Endzeitbotschaft verbreiten: Du sollst töten! Im Namen deines Glaubens. Im Namen Allahs! Die Botschaft wirkt und erzeugt einen globalen Staubsaugereffekt. Abertausende pilgern in das verheißene Land des neuen Kalifen. Al-Baghdadi weiß um die schockierende Macht dieser Bilder, die zeigen, wie Männern, Frauen und Kindern die Köpfe abgesäbelt werden, wie sie gekreuzigt und zerstückelt werden. Er weiß um die Macht und die Wirkung der Bilder, die zeigen, wie Menschen gesteinigt oder lebendig begraben werden, wenn sie sich nicht seiner blutigen Glaubensknute beugen, sie sich nicht bedingungslos den Ge- und Verboten Allahs unterwerfen. Al-Baghdadi wird sich angesichts dieser Taten ganz im Einklang mit dem Islam wähnen. Das sollte ich in den kommenden Wochen in unzähligen Gesprächen mit vielen seiner Anhänger, mit einigen seiner Kämpfer, lernen: Heißt Islam in der wörtlichen Übersetzung des arabischen Wortes »Islam« doch nichts anderes als bedingungslose Unterwerfung und nicht Frieden, wie das als immer wiederkehrendes Stereotyp behauptet wird. Der neue Kalif weiß zudem, dass solche Bilder mitunter fehlende...