1.1 Mitgliedschaft und Religionsfreiheit in der islamischen Welt
Als der Prophet Muhammad (571–632) die heutige Weltreligion Islam gründete, verstand sich diese als Wiederherstellung einer ursprünglichen, göttlichen Offenbarung. Während der ersten Entfaltungszeit als diskriminierte und oft verfolgte Minderheit in Mekka lag dabei durchaus die Möglichkeit einer Entscheidungsreligion analog zum Christentum nahe: Muhammad selbst war als freiwilliger Hanif – als nach dem Gott Abrahams Suchender – aufgebrochen und auch seine ersten Mitglaubenden entschieden sich jeweils freiwillig und oft gegen ihre Familien für den islamischen Glauben. Doch in Medina wurde die Gemeinschaft der Muslime, die Umma, auch zur Grundlage eines Staatswesens, in dem jeder nichtmuslimische Schutzbefohlene (dhimmi) mindere Rechte hatte. Nach dem Tod des Propheten wurde die Abkehr vom Islam nicht mehr als religiöse Entscheidung, sondern als politischer Verrat (ridda) bewertet. Entsprechend Abgefallene wurden – und werden! – als Murtad bezeichnet und, sofern man ihrer habhaft wurde, mit dem Tode bestraft. Wirkliche Religionsfreiheit konnte damit nur noch für Nichtmuslime bestehen; wer einmal in den Islam hineingeboren oder eingetreten war, riskierte durch einen Glaubensverlust oder -wechsel sein Leben.
Spätere islamische Theologen ergänzten diese Lehre durch die Annahme, dass eigentlich jedes Kind mit dem Keim des wahren Glaubens (fitra) zur Welt komme. Dem Propheten Muhammad wurde dabei die Aussage zugeschrieben: »Jeder wird im Zustand der Fitra geboren. Alsdann machen seine Eltern aus ihm einen Juden, Christen oder Zoroastrier.«13
Entsprechend gab – und gibt! – es immer wieder Bestrebungen, auch die Kinder von Nichtmuslimen ihren Familien zu entreißen und zu »wahren« Muslimen zu erziehen. Im Osmanischen Reich wurden in der sogenannten »Knabenlese« (devsirme) gezielt Jungen aus nichtmuslimischen, vor allem christlichen Familien zwangsrekrutiert, zum Islam zwangsbekehrt und zu Janitscharen, Elitesoldaten, ausgebildet, auch gegen den verzweifelten Widerstand der Eltern, die manchmal sogar getötet wurden.14 Und im Irak hatte ich nicht nur mit Kindern aus yezidischen Familien zu tun, die vom selbsternannten »Islamischen Staat« zwangsbekehrt und zu Kindersoldaten, sogar zu Selbstmordattentätern ausgebildet worden waren. Darüber hinaus versuchten Politiker und Ulema des kurdischen Regionalstaates – den die Bundesrepublik als Verbündete u. a. mit Waffenlieferungen unterstützte –, yezidische Waisenkinder an muslimische Familien zu vermitteln und sie damit zu »wahren Muslimen« zu machen.
Freilich ist hier vor christlichem Hochmut zu warnen: Lange Zeit war die eingeschränkte Religionsfreiheit in der islamischen Welt jener in Europa weit überlegen. Immer wieder suchten und fanden Juden und Christen unter islamischer Herrschaft den Schutz, den ihnen die europäischen Staaten noch nicht gewähren wollten. So werden auch in den von Martin Luther entworfenen und von führenden evangelischen Gelehrten gezeichneten »Schmalkaldischen Artikeln« von 1536 die »Türken« und »Tataren« bei aller Feindschaft auch gelobt, denn »sie lassen (jeden), der es will, an Christus glauben und verlangen (bloß) leiblichen Zins und Gehorsam von den Christen«. In Europa gewährte zunächst nur Polen auch Juden, Muslimen und christlichen Minderheiten eine dementsprechende Religionsfreiheit, die erstmals in der »Warschauer Konföderation« von 1573 festgeschrieben wurde – und prompt dazu beitrug, dem Land die Verheerungen der europäischen Konfessionskriege zu ersparen.15
Zwar entwickelte sich von der Reformation aus dann zunehmend ein breiteres Verständnis von Religionsfreiheit – vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und den Überseekolonien –, doch gab es immer wieder Rückschritte. So errichteten Kirchen vor allem zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert koloniale Missionsschulen, die in erster Linie Kinder von Sklaven und Ureinwohnern ihren Familien entfremdeten oder sogar gewaltsam entrissen, um auch durch den Einsatz von Gewalt »gute Christen« aus ihnen zu machen. Der Grat zwischen Bildungsförderung einerseits und einer gezielten Zerstörung gewachsener Kulturen und Völker andererseits war manchmal schmal und wurde nicht selten überschritten. So behauptete Papst Benedikt XVI. noch während einer Südamerikareise 2007 ganz im Stil islamischer Fitra-Argumentation, das Christentum sei den dortigen Ureinwohnern »nicht aufgezwungen« worden, diese hätten es vielmehr »still herbeigesehnt«. Damit löste er breite Entrüstung auch unter Christinnen und Christen aus, die diese verharmlosende Umdeutung der Eroberungs- und Kolonialgeschichte nicht akzeptieren wollten.16
Über die Frage der »richtigen« Missionsform hinaus entwickelte sich auf Basis der Entscheidungs- und Geburtszugehörigkeit schließlich auch das Verständnis von religiöser »Bekehrung« und von »Fortschritt« in den beiden größten Weltreligionen auseinander: Im Christentum galt es als freiwillige Verwandlung, »Konversion«, zu einem neuen und dem Kommenden zugewandten Menschen, der im rituellen Vaterunser-Gebet erhoffte: »Dein Reich komme«. Entsprechend wurde selbst dort, wo sich die Kindertaufe durchsetzte, zunehmend auf einem eigenen Entscheid im Sinne einer Firmung, Konfirmation oder später sogar »geistigen Wiedergeburt« bestanden. Im Islam setzte sich dagegen die Vorstellung einer Rückwendung, »Reversion«, zum in früheren Zeiten verwirklichten, »wahren Glauben« durch.17 Bis heute fragen Christen daher häufiger: »Was würde Jesus heute tun? Wie wird sein Reich aussehen?« Für Muslime dagegen gilt öfter: »Was hat Muhammad früher getan? Wie sah sein Reich aus?« Während sich islamische Salafisten um eine möglichst überlieferungsgetreue Nachahmung des Prophetenlebens bemühen, üben sich selbst traditionell-fundamentalistische Christen wie die Old Order Amish oder die Hutterer zwar in der Erhaltung ihrer ursprünglichen Lebenswelten aus dem 15.–17. Jahrhundert, aber nicht im Sinne einer Kopie des israelitischen Lebens im 1. Jahrhundert.18 Auch christliche Gelehrte und Prediger versuchen im Gegensatz zu vielen ihrer islamischen Ulama-Kollegen nicht, Jesus etwa in Kleidung, Sprache und Auftreten zu imitieren. »Neuerung« (bid’a) gilt in großen Teilen der islamischen Theologie als sündige Übertretung, während Christen »Fortschritt« leichter auf Gottes Reich hin begrüßen konnten.
Wie tief diese religiös-kulturell unterschiedlichen Traditionen auch ins Alltagsverständnis von Religionen und Religionsfreiheit eindrangen, lässt sich gut am Beispiel der Republik Türkei studieren, die sich von ihrem Begründer Kemal Atatürk (1881–1938) her eigentlich als laizistisch verstand. Doch die Existenz religiöser Minderheiten wie der Aleviten und der Yeziden wurde und wird in der Türkei schlicht geleugnet, den Menschen als »angeborene« Religionszugehörigkeit dagegen im Personalausweis der Islam zugewiesen. Während türkisch-staatliche Institutionen wie das Religionsamt Diyanet verbeamtete und aus Steuergeldern bezahlte Prediger in die Moscheen im In- und Ausland entsenden, wurden – und werden – die Aktivitäten anderer Moscheeverbände und nichtislamischer Religionsgemeinschaften behindert oder gleich ganz verboten. Der in den 1980er-Jahren nach einem Militärputsch eingeführte sunnitische Religionsunterricht ist auch für nichtsunnitische Kinder verpflichtend, wogegen andere Religionen keinen schulischen Religionsunterricht durchführen dürfen. Staat und Religion sind auch in der türkischen Republik nicht wirklich getrennt; der Staat hat sich die Religion unterworfen.
Als sich 2014 in der Türkei ein erster atheistischer Verband bildete, wurden die Gründer sofort mit Hunderten Todesdrohungen überzogen und die türkische Republik sperrte ihre Website sowie mehrere Twitter-Accounts mit Berufung auf Antiterrorgesetze.19 Dennoch wagte der Verband noch 2015 die Einreichung einer Petition, damit wenigstens die eigenen Kinder nicht länger von Geburt an als Muslime registriert würden – ohne Möglichkeit, sich davon abzumelden.20
Auch in postsowjetischen Staaten wie Usbekistan hat sich bei Beobachtern eine Unterscheidung zwischen praktizierenden »religiösen Muslimen« einerseits und »kulturellen Muslimen« andererseits etabliert, wobei bei Letzteren nicht weiter gefragt wird, ob und wie sie (noch) an Gott glauben, beten oder fasten. Statistisch gelten sie gleichermaßen als Muslime.
Selbst noch in freiheitlichen Demokratien wie Deutschland haben es Menschen muslimischer Herkunft schwer, eine anerkannte Abkehr von der Religion ihrer Geburt zu vollziehen. Entsprechend gründete sich in der Bundesrepublik zum Beispiel das Kuriosum eines Zentralrates der Ex-Muslime, dessen aus dem Iran geflohene Gründerin Mina Ahadi mit Morddrohungen überzogen wurde und wird.21 Mit einigem Recht kritisierte sie die Übernahme der Muslim-ab-Geburt-Definition nicht nur durch deutsche Rassisten, sondern auch durch Behörden und Statistiker, die selbst Nichtglaubende letztlich dem Einflussbereich islamischer Gruppen zuordnen: »Da viele von uns gezwungen waren, den islamischen Machthabern in unseren Herkunftsländern zu entfliehen, können und wollen wir es nicht hinnehmen, dass nun in Deutschland ausgerechnet muslimische Funktionäre in unserem Namen sprechen sollen.«22
Erschwerend kommt hinzu, dass sich in islamischen...