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II. | Islam und Demokratie: Ein Gegensatz? |
Bei der Frage, wie demokratiefähig islamisch geprägte Staaten sind, geht es nicht nur um die dortigen politischen Verhältnisse. Es geht auch darum, welche weltanschaulichen Grundlagen für eine Begründung von Demokratie und Freiheitsrechten aus religiösen Quellen herangezogen werden könnten: Welche Herrschaftsform sieht der Islam vor? Welche Art von Regierung betrachtet er als Ideal?
Wie bei vielen anderen Fragen, die die Ordnung des politischen Gemeinwesens zur Zeit Muhammads betreffen, gibt der Korantext selbst so wenig konkrete Auskunft darüber, dass ihm kaum Regieanweisungen für eine als ideal betrachtete Herrschaftsform entnommen werden können. Zwar könnte aus der Rolle Muhammads als Heerführer, Gesetzgeber und Prophet geschlussfolgert werden, dass die ideale islamische Herrschaft geistliche und weltliche Herrschaft zugleich sein soll. Vor allem Führer aus dem islamistischen Spektrum, wie etwa der bis heute wohl einflussreichste pakistanische Theologe, Autor und Politiker Abu l-A’la Maududi (1903–1979) haben dieses Modell als einzig legitime Herrschaftsform propagiert und auf die Umsetzung dieses Ideals mit allen Kräften hingewirkt.
Allerdings handelt es sich bei diesem Gedanken der Einheit von Staat und Religion vor allem um ein in die islamische Geschichte zurückprojiziertes Ideal. In Wirklichkeit musste sich die islamische Gemeinschaft spätestens nach der Regierungszeit der Muhammad nachfolgenden vier Kalifen (sie regierten 632–661 n. Chr.) in ihrer gesamten Geschichte mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es einen einzigen Herrscher über die Gesamtheit der Muslime und eine Einheit von weltlicher und geistlicher Macht niemals mehr gegeben hat. Realität war vielmehr eine Vielzahl miteinander um die Macht ringender rivalisierender Familien, Dynastien und theologischer Gruppierungen, die sich gegenseitig bekämpften und sich den Herrschaftsanspruch beziehungsweise die Deutungshoheit über den Islam erbittert streitig machten. Dabei prägten die Auseinandersetzungen innerhalb der islamischen Gemeinschaft nicht nur die Machtpolitik, sondern auch die Theologie:
Schon unmittelbar nach Muhammads Tod 632 n. Chr. brach unter seinen Anhängern ein grundsätzlicher theologischer (und machtpolitischer) Streit um seine Nachfolge aus und verfestigte sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr: Spätestens mit dem Jahr 680 n. Chr. – der für die muslimische Gemeinschaft so folgenschweren Entscheidungsschlacht von Kerbela im heutigen Irak – gilt die Gruppierung der Schiiten neben der Mehrheit der Sunniten als fest etabliert und die Gemeinschaft der Muslime als in grundsätzlichen Fragen gespalten. Sunniten wie Schiiten spalteten sich über die Jahrhunderte hinweg in weitere zahlreiche Gruppierungen und Untergruppierungen auf. Während das Kalifat unter den vier ersten Nachfolgern Muhammads bis zum Jahr 661 n. Chr. noch eine gewisse Einheit von weltlicher und geistlicher Macht repräsentiert hatte, wurde in späteren Jahrhunderten die immer stärkere konfessionelle und machtpolitische Spaltung Realität: Es regierten Kalifen und Gegenkalifen, regionale Dynastien und politisch zeitweise erfolgreiche Sondergruppierungen (wie die der ismailitischen Fatimiden), bis es durch den Einfall der Mongolen 1258 in Bagdad zum dramatischen Untergang des eigentlichen abbasidischen Kalifats kam. Danach wurden Teile des Vorderen Orients, des Balkans und der Arabischen Halbinsel vom 13. Jahrhundert bis zur Gründung der Türkischen Republik 1923/24 von osmanischen Sultanen regiert. Die Osmanen waren Turkstämmige, die aus Zentralasien in die heutige Türkei eingewandert und erst im Laufe dieses Prozesses zum Islam konvertiert waren. Von vielen arabischen Gelehrten wurden sie nie als legitime islamische Herrscher anerkannt. Von einer Einheit von weltlicher und religiöser Herrschaft oder auch nur von einer einheitlichen Beantwortung der Frage, wer berechtigt ist, die gesamte Gemeinschaft der Muslime zu regieren oder auch nur zu repräsentieren, kann vom ersten islamischen Jahrhundert an nicht mehr die Rede sein.
Zur »Wiederfindung« der Demokratie im Islam weisen muslimische Wortführer heute immer wieder darauf hin, dass schon der Koran eine Beratung des Herrschers befürworte, also die Einbeziehung mehrerer Stimmen in politische Entscheidungsprozesse von der Zeit Muhammads an. Zumeist werden für diese Sichtweise die Suren 3,159 und 42,38 angeführt, die empfehlen, dass sich die gläubigen Muslime untereinander »beraten« sollen. Der Begriff »beraten«, der im Koran im Arabischen in beiden Versen Verwendung findet, besitzt dieselbe Wurzel wie der heute im politisch-islamischen Bereich oft verwendete Terminus der »Schura« (»Beratung«). Aus der Sicht islamischer Apologeten soll die Schura als eine Art »islamische Demokratie« im Laufe der islamischen Geschichte etabliert worden sein.
Es ist zwar richtig, dass in der Geschichte des Islam die ersten vier Kalifen nach Muhammad aus einer Wahl hervorgingen; aber schon die Dynastie der Umayyaden machte das Kalifat ab dem Jahr 661 n. Chr. erblich. Sicher hat sich, wie die islamische Geschichtsschreibung erläutert, auch Muhammad mit seinen Vertrauten über Kriegszüge und Friedensschlüsse beraten. Realistisch betrachtet sind jedoch weder in der islamischen Geschichte noch in der Gegenwart – zumindest in arabischen Ländern – Elemente einer echten Demokratie nach oben beschriebener Definition nachweisbar. Es finden sich auch heute dort nicht einmal Gremien, die die Macht wirksam kontrollieren und einem westlich-demokratischen Parlament auch nur annähernd vergleichbar wären. Zwar tragen die Konsultativgremien einiger Länder, insbesondere in den Golfstaaten, den Titel »majlis ash-shura« (Konsultativrat; beratendes Gremium); dennoch sind gerade die Golfmonarchien absolute Monarchien, in deren »Beratergremien« die einflussreichen Familien des Landes Vertreter entsenden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gremien die absolute Macht der Herrscherfamilie begrenzen, kontrollieren, den Herrscher bei Rechtsverstößen zur Verantwortung ziehen oder sogar absetzen könnten. Die Herrschaftsform der Frühzeit des Islam ist das Kalifat, später die Autokratie, die absolute Monarchie oder das autokratische Präsidialsystem (ein de facto allmächtiger Präsident herrscht mit einem Scheinparlament) sowie in einigen wenigen Fällen die Theokratie. Echte Demokratien sind im arabischen Raum bisher jedoch nicht entstanden.
Am 17. Dezember 2010 übergoss sich im tunesischen Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Schikanen der örtlichen Polizei mit Benzin und setzte sich auf dem Marktplatz des Ortes selbst in Brand. Wenige Wochen später erlag er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Dieser verzweifelte Protest eines mittellosen Straßenhändlers gegen die Willkür und die fortgesetzten Demütigungen durch eine allmächtig agierende Obrigkeit war der Beginn eines Flächenbrandes an Protesten gegen die autokratischen Regierungen der Region, der rasch große Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens erfasste. Proteste, Ausschreitungen, Streiks, Demonstrationen und zahlreiche Gewaltakte folgten. Die Menschen gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen und öffentlichen Plätze. Auch die eingesetzten regierungstreuen Polizei- und Militärkräfte, die die Demonstranten an verschiedenen Orten mit Wasserwerfern traktierten, bedrohten, niederknüppelten, verhafteten, mit Schüssen verletzten und teilweise gezielt töteten, konnten die Proteste weder zum Schweigen bringen noch die Protestierenden dauerhaft einschüchtern und von weiteren Demonstrationen abhalten. Auch viele Frauen mischten sich mutig unter die Protestbewegung, obwohl sich die Gewalt der Regierungskräfte auch gegen sie richtete und viele von ihnen öffentlich gedemütigt, verhaftet und geschlagen wurden.
Das wichtigste Anliegen der Menschen während der »Arabellion« war der Wunsch nach Befreiung von der allgegenwärtigen Unterdrückung durch die korrupten Regime der arabischen Länder. Diese waren bisher teilweise rechtlich eher säkular geprägt (wie etwa in Tunesien), vom Militär dominiert (wie etwa in Ägypten), von einer einzelnen Herrscherdynastie dominiert (wie etwa in Syrien) oder aber trugen eine vorgeblich vor allem religiös legitimierte Herrschaft zur Schau (wie etwa in Saudi-Arabien). In einigen Ländern forderten die Menschen vor allem Reformen: So ist etwa in Marokko bis heute König Mohammad VI. ein überaus beliebter Monarch, der sich zudem zu seiner Legitimation auf seine Abstammung von Muhammad, dem Gründer des Islam, beruft und in den vergangenen Jahren in Marokko manche Reformen umgesetzt hatte, die einen Hauch von Freiheit durch das Land wehen ließen. In anderen Ländern, wie etwa in Tunesien oder Ägypten, forderten die Protestierenden das sofortige Abtreten der Tyrannen und den Sturz der Regime.
Ursachen der Revolution: Fehlende Freiheitsrechte und Perspektivlosigkeit
Ein überaus wichtiger Faktor zum Verständnis der Arabischen Revolutionen liegt in der demografischen Entwicklung dieser Region: Dort liegt der Anteil der unter 25-Jährigen in vielen Ländern um die 50 Prozent, im Jemen sogar bei 65 Prozent. Diese Jugendlichen lebten bisher größtenteils in Gesellschaften, die sie zwar durch zahlreiche Verbote und Beschränkungen drangsalierten, ihnen aber kaum Zukunftsperspektiven boten. Die Arbeitslosenquote ist überall immens, unter Jugendlichen häufig bei 30 bis 40 Prozent, örtlich sogar bei bis zu 70 Prozent. Attraktive...