Einleitung zu einem Jahrtausendkonflikt:
Feindbilder – Klischees und Wirklichkeit
»Heiliger Krieg« und andere Bedrohungen
Der Videofilm wirkt wie eine Szene aus einer längst vergangenen Epoche. Ein bärtiger Mann, bekleidet mit schwarzem Turban und Kaftan, steht predigend auf der Kanzel einer Moschee. Er blickt in eine weiträumige Säulenhalle, und dort reihen sich dicht gedrängt junge Männer, viele ebenfalls mit Turban. Die schwarze Farbe der Kopfbedeckung sollen den Prediger als einen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed ausweisen. Er verkündet mit drohend erhobenem Zeigefinger den Dschihad, den »heiligen Krieg« gegen die »Ungläubigen« in aller Welt, und bezeichnet sich als »Befehlshaber der Gläubigen«.
Dieser Film ist im Juli 2014 in einer Moschee der nordirakischen Stadt Mossul zu Propagandazwecken gedreht und weltweit verbreitet worden. Die Bilder zeigen Abu Bakr al-Baghdadi, das spirituelle und politische Oberhaupt der Terror-Organisation »Islamischer Staat«. Wochen zuvor hatte sich der auf Fotos düster und fanatisch wirkende Mann von seinen Anhängern zum Kalifen ausrufen lassen.
»Heiliger Krieg«, »Kalif«. Beide Begriffe sind mit vielen Emotionen, mit historischen Erinnerungen aus weit zurückliegender Zeit aufgeladen – für Muslime wie für nichtmuslimische Europäer.
»Heiliger Krieg«. Arabische Muslime eroberten im 7. Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte Nordafrika sowie weite Teile Asiens. Und türkische Muslime drangen seit dem 11. Jahrhundert siegreich in Anatolien vor, eroberten 1453 Konstantinopel, ja, belagerten 1529 und 1683 Wien mit der Absicht, ihre Herrschaft bis weit nach Europa hinein auszudehnen.
»Kalif«. Der Titel ist mit einem hohen Anspruch verbunden. Das arabische Wort bedeutet »Stellvertreter« wie auch »Nachfolger« und bezieht sich auf die Herrscher, die nach dem Tod des Propheten Mohammed die religiöse wie politische Führung als Befehlshaber aller Gläubigen in ihrem Amt vereinigten. Für Muslime verbindet sich mit diesem Titel eine nostalgische Erinnerung an ein goldenes Zeitalter des Islam in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte. Für Europäer dagegen war dieser Titel das ganze Mittelalter hindurch mit einer traumatischen Identitätskrise verknüpft: Unter der Führung von Kalifen waren Kerngebiete des frühen Christentums und spätantiker abendländischer Kultur ein für alle Mal einer islamischen Herrschaft unterworfen worden: »Heiden« hatten über »Christen« gesiegt, und dieser Triumph einer »falschen« Religion ließ sich von den Christen, den Anhängern der »richtigen« Religion, nicht mehr korrigieren. Auch die Kreuzzüge konnten daran nichts ändern. Solche traumatischen Erinnerungen vermochten die »Glaubenskämpfer« der Terror-Organisation »Islamischer Staat« im Bewusstsein der Europäer seit 2014 erneut zu aktivieren. Die Dschihadisten eroberten in diesem Jahr weite Teile des Irak sowie Syriens, und sie stellten demonstrativ Parallelen zu den siegreichen Kalifen von einst her. Sie präsentierten in Videobotschaften und im Internet Landkarten, die die Grenzen ihres für die Zukunft proklamierten Großreichs markierten: Ihr Herrschaftsgebiet sollte im Westen bis Andalusien und im Osten bis Indien, ja, bis in den westlichen Teil Chinas ausgedehnt werden. Die damit verbundene Botschaft an die Muslime und den nichtmuslimischen Westen lautete: Für die »rechtgläubigen Muslime« würde nach vielen Jahrhunderten des kulturellen und politischen Niedergangs die Phase eines neuen, unaufhaltsamen Siegeszugs folgen.
Aber was haben solche Proklamationen mit der Realität zu tun? Der Blick auf die islamische Welt von heute bietet das Gegenteil einer solchen Verheißung: Von Libyen über Syrien, Irak und Jemen bis Afghanistan und Pakistan gibt es etliche politisch, kulturell und sozial zerrissene Staaten. Mehr noch: Die konfessionellen Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten gewinnen an Schärfe, soziale Konflikte entwickeln sich verstärkt entlang der religiösen Grenzlinien, nicht minder die politischen Rivalitäten. Und gerade eine Terror-Organisation wie der »Islamische Staat« ist ein Symptom dieser Krise: Schließlich tragen ihre »Glaubenskämpfer« an vorderster Stelle dazu bei, die islamische Welt in unversöhnliche Fronten von »Gläubigen« und »Ungläubigen« zu spalten. Die Mehrheit der Muslime fürchtet das proklamierte Kalifat des »Islamischen Staates«, lehnt es vehement ab, ja verachtet dessen religiös-politische Anmaßung. Entsprechend instabil ist die Tyrannei derartiger »Glaubenskämpfer«, entsprechend geschwächt ist die islamische Welt insgesamt.
Weshalb gebe ich dem »Islamischen Staat« in der Einleitung des Buches trotzdem so viel Raum?
Es ist ein Reflex auf eine europäische Befindlichkeit. Eine fremde Kultur und Religion erzwingt vor allem dann unsere Aufmerksamkeit, wenn wir glauben, dass von ihr eine massive Bedrohung ausgeht – im aktuellen Fall von »Glaubenskämpfern« mit einem besonderen Potential an Aggression gegenüber dem »Westen«. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, wie viel sich denn am Beispiel des sogenannten »Islamischen Staates« über den Islam als Kultur und Religion in seiner Vielfalt erfahren lässt. Diese Terror-Organisation beherrscht schließlich nur vordergründig aktuell die Schlagzeilen, und sie könnte in etlichen Jahren schon wieder verschwunden oder zumindest erheblich geschwächt sein, ergaben Analysen bereits im Frühjahr 2016. Aber diese Organisation bildet ein exemplarisches Beispiel einer tiefergehenden Krise der islamischen Welt, und dieser Aspekt macht sie über die momentan auffällige Wirkung hinaus interessant. Es gilt die religiösen, kulturellen und politischen Zustände zu analysieren, die eine solche Radikalisierung erst ermöglichen.
Was sind die Ursachen dafür, dass immer wieder neue derartige radikal-islamische Gruppierungen entstehen? Eine solche Frage ist in westlichen Medien erstmals bereits mehr als ein Jahrzehnt vor dem Auftreten des sogenannten »Islamischen Staates« gestellt worden – und der Anlass war ebenfalls ein zutiefst traumatisches Ereignis.
Dieses Bild ist zu einer Ikone des »Bösen« geworden: die schwarzen, geballten Rauchsäulen über den zusammenstürzenden Zwillingstürmen des World Trade Center in New York. Seit dem schrecklichen Terroranschlag vom 11. September 2001, der nahezu 3000 Menschen das Leben kostete, wies vieles darauf hin, dass wir es mit einer Zäsur zu tun haben, deren Folgen nicht absehbar sind. Seit Osama bin Laden als die charismatische Führerfigur der Terror-Organisation al-Qaida die Schlagzeilen der Weltpresse beherrschte – und dieser schwarzbärtige, meist mit weißem Turban und Kaftan gekleidete Mann ebenfalls eine Ikone des »Bösen« wurde –, zitieren die Medien das Schlagwort Dschihad im Sinn von »heiliger Krieg« in einer ein bisher nicht gekannten Häufigkeit. Damals fand erstmals die These weite Verbreitung, eine neue Art von Krieg habe begonnen, die für das 21. Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen islamischer und abendländischer Welt bestimmen werde. Muslimische Organisationen, von religiösem Fanatismus angetrieben, würden während der kommenden Jahrzehnte vor allem durch gezielte Terrorakte versuchen, unsere westliche Gesellschaft zu destabilisieren. Fernsehbilder, die in der Tat erschreckend sind – aber nur selten kritisch hinterfragt werden –, illustrieren das Szenario dieser Bedrohung: vermummte Männer, die vor der Kamera ihre Bereitschaft ankündigen, Selbstmordattentäter zu werden und als »Märtyrer« im Kampf gegen den »Satan Amerika« und dessen »Lakaien« zu sterben. Dazu in weiteren Bildern Volksmassen auf den Straßen verschiedener islamischer Städte, mit hoch erhobenen Fäusten Parolen gegen den »Westen« skandierend.
Radikalisiert sich der Islam weiterhin in einem bisher nicht gekannten Ausmaß? Ist eine wachsende politische und soziale Krise die Ursache für die Radikalisierung?
Die Frage, so gestellt, weist etliche Unschärfen auf. Den Islam gibt es nicht. Es existieren innerhalb der islamischen Welt vielfältige Ausprägungen von Religion, Kultur, Politik und Gesellschaft – und dies in ständigem Wandel. Insofern handelt es sich bei Gruppierungen, die sich radikalisiert gegen Andersgläubige und gegen den »Westen« wenden, nur um religiös-politische Ideologen neben vielen anderen. Unter dem Einfluss solcher Ideologen bekommen die Begriffe »Dschihad«, »Kalif«, »richtiger Glaube« eine spezifisch neue Bedeutung, wie sie Jahrhunderte zuvor...