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Islam - Zivilisation oder Barbarei?

AutorAlexander Flores
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783518743553
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR


<p>Alexander Flores, geboren 1948. Studium der Soziologie, Germanistik, Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Münster. Forschung und Lehre an den Universitäten Essen, Birzeit (Palästina), Erlangen, Hamburg und Würzburg. Habilitation 1993 an der FU Berlin. Seit 1995 Professor für Wirtschaftsarabistik an der Hochschule Bremen.</p>

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Leseprobe

2
›Corpus delicti‹: Der Koran


Die Anklage gegen den Islam beruft sich gern auf dessen wichtigsten Grundlagentext, den Koran (arab. qur'ān), und auf die Konstellation der islamischen Frühzeit, die mit der Ungeschiedenheit von religiöser und weltlicher Sphäre (»Muḥammad als Prophet und Staatslenker«) ein Modell für alle späteren Zeiten gesetzt habe.

Im Koran sehen die Kritiker prinzipiell anstößige Inhalte; die wichtigsten sind, knapp angedeutet, der absolute Anspruch Gottes auf alleinige Verehrung und Unterwerfung, die plastisch ausgemalten Höllenstrafen bei Widersetzlichkeit oder Übertretungen, die scharfe Abgrenzung gegen »Ungläubige« und das Gebot zum aggressiven Verhalten zwecks Unterwerfung der »Ungläubigen«, weiter die Frauenfeindlichkeit bestimmter Passagen.

Was steht tatsächlich im Koran? Der uns vorliegende Text ist inhaltlich wenig strukturiert. Grob lässt er sich in Texte zu mehreren Komplexen aufteilen: Ein wichtiger Teil des Koran besteht aus dem eindringlichen Aufruf zum Glauben an Gott und zu einer entsprechenden Lebensführung – gerichtet an die »heidnischen« Araber, deren religiöse Vorstellungen bis dahin wenig Konsequenzen für ihren Lebenswandel impliziert hatten. Dieser Aufruf wird beständig wiederholt, mit immer neuen Variationen in der Form und der Argumentation. Beweisgründe werden unter anderem aus der Wunderbarkeit der Natur bezogen, die nur ein allmächtiger Schöpfer so geschaffen haben könne. Gott wird als gerecht, aber im Grundtenor durchaus gnädig dargestellt. Immer wieder wird auf ein nahe bevorstehendes Jüngstes Gericht hingewiesen, bei dem die Menschen nach ihren Verdiensten und Verfehlungen beurteilt werden, und entsprechend Umkehr eingefordert. Die widrigenfalls eintretenden Höllenstrafen werden plastisch ausgemalt. Hier werden Individuen angesprochen und damit auch in individuelle Verantwortung gestellt. Die eindrücklichsten Texte dieser Art gehören wohl in die frühen Phasen von Muḥammads Wirken als Prophet.

Ein weiterer, großer Teil des Koran besteht aus Erzählungen heilsgeschichtlichen Inhalts, die meisten davon biblische Erzählungen, hier natürlich in anderer Textgestalt und mit – meist leichten – inhaltlichen Veränderungen. Muḥammad war offenbar lange davon überzeugt, dass Juden – in der Tora – und Christen – im Neuen Testament – die Offenbarung Gottes zuteilgeworden war und dass es seine eigene Mission war, nun die inhaltlich gleiche Botschaft den heidnischen Arabern der Halbinsel zu bringen, die sie noch nicht erhalten hatten. In der argumentativen Auseinandersetzung mit den »verstockten« Mekkanern werden immer wieder die ahl al-kitāb, also die Besitzer von Offenbarungsschriften, als Zeugen für die Wahrheit der koranischen Botschaft angerufen, so z. ‌B. in Koran 17,101: »Frag doch die Kinder Israels!«1 Wohl im Zuge der realpolitischen und ideologischen Auseinandersetzung mit den Juden Medinas, die sich weigerten, Muḥammad als Propheten anzuerkennen, erfolgte allerdings eine Veränderung der muslimischen Vorstellung von den sukzessiven Offenbarungen. Danach hatten Juden und Christen die Offenbarung Gottes in richtiger Form erhalten, sie aber nicht rein und unverfälscht bewahrt, sondern im eigenen (vermeintlichen) Interesse verändert. Konsequenterweise änderte sich dann auch Muḥammads Bild im muslimischen Selbstverständnis. Von einem Propheten für die Araber wurde er zu einem für die ganze Welt einschließlich von Juden und Christen, deren heilige Schriften ja nach diesem Verständnis auch der Reinigung bzw. Wiederherstellung bedurften. Das implizierte eine Wendung gegen Juden und Christen, soweit sie an ihren Konzeptionen festhielten. Nun ist aber der Text des Koran durchaus nicht im Sinne dieser neuen Vorstellung »durchredigiert« worden, sondern enthält Niederschläge beider Auffassungen. Als Folge davon finden sich dort sowohl positive wie negative Äußerungen über Juden und Christen, ja, es gibt ein ganzes Spektrum von Auffassungen zu diesem Thema.

Die oft gestellte Frage, ob denn nun Christen und Juden in muslimischen Augen als gläubig oder ungläubig gelten, lässt sich aufgrund koranischer Aussagen nicht eindeutig beantworten. Es gibt Stellen, die sie zu den Gläubigen zählen; es gibt welche, die sie zumindest in große Nähe zu den Ungläubigen rücken (eindeutig ungläubig sind im koranischen Sprachgebrauch die arabischen Heiden); und es gibt schließlich Stellen, an denen sich der Koran von solchen ahl al-kitāb abgrenzt, die sich nicht an ihre eigenen religiösen Vorgaben halten, den Muslimen übelwollen usw. Passagen, in denen gegen die Heiden unter positivem Hinweis auf das Zeugnis von Juden argumentiert wird, stehen andere gegenüber, in denen der Koran sich unter Hinweis auf die Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen religiösen Konzepten auch von den ahl al-kitāb abgrenzt. Es gibt also im Text des Koran durchaus Spannungen zwischen verschiedenen Auffassungen zu dieser großen Gruppe, die es im Hinblick auf sie nicht gestatten, von einer scharfen und eindeutigen Abgrenzung gegen »Ungläubige« zu sprechen.

Ein weiterer Teil des Korantextes besteht aus Anweisungen und Kommentaren zu laufenden Ereignissen der Offenbarungszeit. Nach dem durch die heidnischen Mekkaner erzwungenen Auszug der Muslime aus Mekka, der Hidschra (arab. hidjra), war ihre wichtigste praktische Stoßrichtung der Kampf gegen die Mekkaner – wohl ganz unerlässlich, wenn man den Islam auf der ganzen Arabischen Halbinsel verbreiten wollte. Nachdem in den koranischen Texten aus mekkanischer Zeit Zurückhaltung und Resignation in der Auseinandersetzung mit den Heiden anempfohlen worden waren, erfolgte nun zunächst die Erlaubnis, dann der dringende Aufruf zum Kampf, manchmal als Defensive oder Vergeltung für erlittenes Unrecht, an vielen Stellen aber auch ohne eine andere Rechtfertigung als die Notwendigkeit, den Feind niederzukämpfen, »damit keine Zwietracht [oder Versuchung, arab. fitna] sei« (Koran 2,193 und viele andere Stellen). In dieser Frage bewegen sich die Aussagen des Koran auf einem Spektrum, das von der Anweisung zur Zurückhaltung über den provozierten Kampf bis hin zum nichtprovozierten Kampf geht – auch hier also keine ausschließliche Bejahung der Aggression, sondern unterschiedliche Optionen je nach den Umständen.

Weitere Passagen des Koran enthalten Anweisungen für die Lebensführung der Muslime, teilweise durchaus detailliert, besonders auf dem Gebiet des religiösen und des Familienlebens, während weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kaum berührt werden. In der Frage der Behandlung der Frauen ist wiederum eine merkwürdige Spannung festzustellen. Während unter religiösem Aspekt die Frauen in dasselbe unmittelbare Verhältnis zu Gott gestellt werden wie die Männer und damit als Religionssubjekte den Männern gleichrangig sind, werden sie im praktischen Leben den Männern untergeordnet. Sie haben bestimmte festgelegte Rechte, aber geringere als die Männer; sie erben weniger als diese, haben geringeren Wert als Zeugen, sollen ihren Ehemännern sexuell zur Verfügung stehen, im Fall ihrer »Widersetzlichkeit« ist ein Züchtigungsrecht der Ehemänner stipuliert. Heirat mit bis zu vier Frauen wurde erlaubt, aber nur, wenn der Mann alle seine Ehefrauen gleich behandelte. Im Verhältnis zur Situation der Frauen im vorislamischen Arabien mag das alles eine Besserstellung oder den Versuch dazu bedeutet haben, war aber immer noch eine eklatante Diskriminierung.

Der Koran ist kein in sich widerspruchsfreies Dokument. Es fällt auf, dass er vielfach zum selben Thema unterschiedliche, manchmal gegensätzliche Aussagen enthält. Oft lässt sich ein ganzes Spektrum von Aussagen unterschiedlichen Tenors feststellen; bei der Behandlung des Themenkomplexes »Dschihad« werde ich das (im Abschnitt »Welteroberung?« des Kapitels 10) beispielhaft zeigen. Dieser Umstand kann keinem Leser des Koran verborgen bleiben. Die muslimischen Kommentatoren haben im Hinblick auf die Gewinnung von Handlungsanweisungen aus dem Koran das Prinzip der Abrogation (arab. naskh) entwickelt: Wenn eine Textpassage, die einer anderen widersprach, zeitlich eindeutig nach dieser offenbart wurde, setzte sie die frühere in ihrer rechtlichen Wirkung außer Kraft. Das änderte nichts an der weiteren Existenz all dieser Stellen im Korantext; ob eine Stelle nun tatsächlich abrogiert war, war eine Frage der Interpretation, also durch den Text selbst nicht eindeutig beantwortet. Die Vielfalt der koranischen Aussagen sowie der Interpretationsmöglichkeiten bei den zahlreichen uneindeutigen Textstellen wurde lange Zeit von den Muslimen nicht als störend empfunden, sondern als Gnade Gottes gesehen, der seinen Dienern auf diese Weise Spielraum und Freiheit gab. Manche sehen das auch heute noch so. Viele nehmen aber auch – neuerdings – an der Vieldeutigkeit Anstoß und wollen sie nach Möglichkeit eingrenzen.

Was ist mit den »Stellen«, d. ‌h. mit den Passagen des Koran, die zur Unterstützung der Anklage gegen den Islam gern zitiert werden? Es gibt diese Stellen, an denen ein unvoreingenommener moderner Leser Anstoß nehmen muss. Sie gehören wohl vor allem in vier Kategorien: 1. Die plastische Ausmalung der Höllenstrafen für die Ungläubigen oder Sünder, z. ‌B. Koran 4,55-56: »Die Hölle wird schlimm genug brennen. Diejenigen, die nicht an unsere Zeichen glauben, werden wir im Feuer schmoren lassen. Sooft ihre Haut gar ist, tauschen wir ihnen eine andere ein, damit sie die Strafe zu spüren bekommen. Gott...

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